„AIR“ von Christian Kracht – Wiederverzauberung durch die Kunst
Christian Krachts „AIR“ fordert den Leser heraus, zwischen Entfremdung und Sehnsucht nach einer alternativen Realität zu navigieren. Der Roman über die Suche nach einer tieferen Wahrheit entfaltet sich als surreales Puzzle aus Traum und Wirklichkeit.
Unser Leben verläuft in Bahnen. Einzig der Traum lässt seine Grenzen aufheben. Eine Dissonanz des Durchgeplanten prägt unsere Epoche, im Inneren alter krummer Völker herrscht das Rationale. Nicht wenige fühlen den Zwiespalt, der aus der reinen Vernunft wächst, das bleiern Heimatlose der Zeit und sie wollen entschwinden, aus den leergesaugten in bedeutungsvollere Welten, zu Orten und Figuren, bei denen alles auf den Kopf gewendet und doch eine frühe, noch gänzlich unzivile Ordnung der Dinge zu erkunden ist.
Christian Kracht taucht alle paar Jahre auf mit einem neuen Buch, wird breit besprochen und verschwindet dann wieder. In den Sozialen Medien zeigte sich der Globetrotter in einigen Anspielungen auf sein neuestes Werk, ehe das Cover als Bild auftauchte.
„AIR“ als literarisches Rätsel
Tatsächlich fordert „AIR“ den Leser heraus: Es ist kein linearer Plot, sondern ein Rätsel, der Themen wie Entfremdung, Sehnsucht und Eskapismus als – Kracht ist Romantiker – Flucht vor der Moderne aufgreift. Es beginnt bei Inspirationen wie Astrid Lindgrens „Die Brüder Löwenherz“, die die Hauptfigur des Romans, Paul, eines Tages aus einer mit Büchern gefüllten umfunktionierten Telefonzelle greift oder der dem surreal-dystopischen Gemälde von Odd Nerdrum, das den Umschlag des Buches ziert und einen visuellen Schlüssel zur Interpretation des Romans darstellen kann.
Der norwegische Maler Odd Nerdrum ist bekannt für seine Werke im Stil der alten Meister, die oft mythische, melancholische und zeitlose Szenen zeigen, inspiriert von der Renaissance und dem Barock, aber mit einer modernen, oft düsteren Wendung. Das Coverbild – „The Black Cloud“ – spiegelt Themen wider, die mit Krachts Erzählung resonieren, wie die Verschmelzung von Realität und Traum. Es zeigt zwei Menschen in einer kahlen, öden Ebene ab, die an eine Wüste oder eine postapokalyptische Welt erinnert. Eine Gestalt, die ihre Hand in Richtung des schwarzen Himmelsobjektes regt und daneben eine zweite, in ein Tuch oder Leichentuch gewickelt, reglos und scheinbar tot oder schlafend.
Der Horizont ist flach, die Farben erdig (Braun, Ocker) mit einem sanften Übergang zu einem blassblauen Himmel. Am Himmel befindet sich eine schwarze Wolke, die wirkt, als stürze sie herab – steht sie symbolisch für das Unerreichbare und Unabwendbare? Nerdrums „Black Cloud“ spiegelt die Atmosphäre der Erzählung wider – eine surreale, schwebende Welt, die weder fest noch greifbar ist. „Befinden wir uns auf einem Stern?“ fragt das Mädchen Ildr spät im Roman.
Ein Leben im Rückzug und in der Einsamkeit
Protagonist Paul ist Schweizer, Dekorateur und Inneneinrichter (wie in Krachts „1979“), und lebt auf der schottischen Insel Orkney an den Ufern des Pazifik. Er hält sich selbst für einen Hochstapler, der das Leben eines Einzelgängers führt. Fast schon eremitisch geht er seinem Tagwerk nach. Routiniert zwischen Mails checken und Brot kaufen nimmt er neue Arbeitsaufträge in ganz Europa an, erinnert vergangene Erfolge, blättert in einer nischigen Zeitschrift Kūki und träumt von dem Haus Barnhill, das sich auf der Insel Jura befindet und das nur über Umwege und letztlich zu Fuß erreichen lässt. Er träumt von Abgeschiedenheit zwischen verwilderten Pferden und rosa und lila blühenden Heiden. Kein Strom, kein Empfang – Faszination und Furcht zugleich.
Wie nachvollziehbar ist dieser Wunsch und auch: wie männlich. Ein Leben am Arsch der Welt zu führen, wo einem niemand auf den Sack geht, wo man sich in ursprünglicher Umgebung ein Stück Eigenes schafft – ein Traum, so postmodern und fast logisch in einer Welt, in der man gleichzeitig permanent online und anwesend zu sein hat, in einer Zeit, die durch und durch zivilisiert und entmystifiziert, von vorne bis hinten oberflächlich glatt ist, in der sich nichts und niemand noch zu prüfen hat, weil die Läufe klar sind, eine Zeit des langsamen, aber sicheren Wärmetods.
Die Begegnung mit Cohen und die große Leere
Eben von dieser Zeitschrift Kūki (der asiatische Name weist sowohl auf ein altes südasiatisches Volk als auch auf die Bezeichnung einer Familie japanischen Schwertadels hin) mit Sitz in Norwegen erhält er den Auftrag, eine riesige Halle in einem „perfekten“ Weiß zu streichen. Dort angekommen, lernt er Cohen kennen, von dem sich herausstellt, dass er die Zeitschrift nur als Zeitvertreib betreibt und der sich eigentlich mit dem Rodismus, einer Art slawischen Neuheidentums beschäftigt.
Cohen, auch Suchender und Träumer, wie Paul, mit Kenntnissen zur Artussage und längst verschwundener Königreiche. Letztlich verliert sich ihr Weg, als Paul die riesige Serverhalle (die er weißen soll) mit ihren unzähligen Computereinheiten durchschreitet, in der die globalen Datenkraken ihre Informationen speichern. Eine plötzliche Sonneneruption trifft die Erde und die Hauptfigur ist wie vom Erdboden verschluckt.
Der Traum von einer anderen Welt
Auf einem anderen Stern: Pfeil und Bogen, selbstgebaute Tierfallen, Holzhütte und Bach. Ein Mädchen, neunjährig, lauert, stundenlang, sie muss jagen, keine Supermärkte in dieser Welt, nur die eigene kleine und zarte Existenz. Und sie trifft, aber kein Reh, sondern einen Mann, Paul. Sie lebt allein (Mutter gestorben, Vater fort), wie Paul, der als magischer Fremder in ihr Leben tritt und mit dem sie sich verbünden muss, um den herannahenden Soldaten des Herzogs und einer todbringenden Krankheit zu entkommen, die den Fremden suchen. Sie müssen töten, um zu überleben.
In der Entscheidungsschlacht zwischen zwei Systemen und Völkern zeigt sich der unbewusste Wunsch nach Prüfung und Opfer, nach Krieg und Tugend, alles Dinge, die in der Spätmoderne Pauls verschwunden scheinen und nur noch im Traum pazifizierter Individuen kollektiv erfahrbar werden. Der Dichter leidet hier mit seiner Figur. Er trifft mit Cohen zusammen, der sich träumend ins nördliche Eis aufmachte und schließlich an der in Stein gebauten Stadt mit ihrem urwüchsigen „Steinvolk“ anlegt, dort, wo sich auch Paul und das Mädchen aufhalten. Ein Wiedersehen im Traum, im Kampf gegen den herannahenden Feind.
Verborgene Verbindungen
Die Handlungsstränge verlaufen zunächst nebeneinander und beginnen später in der Story zu verschmelzen. Christian Kracht schafft es, Unklarheiten, Figuren und Interpretationsspielräume zu einem allmählich immer heißerlaufenden Höhepunkt zu entwickeln. Er erzählt episch und alltäglich zugleich, die Bilder, die sich dem Leser dabei aufspannen, sind gewaltige Panoramen schroffer Gipfel bis surreal-karger Steinwüsten, portraithafte glühende Halbtotalen und actionreich rasende Szenen.
Und dann ist dort noch dieses Gemälde, das Paul von einem Herzog erhält, nachdem er für ihn gearbeitet hatte. Ein zentrales Element im Buch. Das Werk des britischen Malers James Archer zeigt einen Merlin in weißer Kutte, der vor einem Artus läuft, der auf einem Pferd sitzt und den Kopf gesenkt hält.
Der Stoff der Artussage zielte laut Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Frenzel auf Erziehung und Vorbildwirkung ab (Zauberer Merlin nimmt Artus unter seine Fittiche, bis dieser sich als würdiger König erweist), ehe dieser später vor allem als reiner Abenteuerstoff weiterverarbeitet wurde. Und nimmt die Hauptfigur nicht ein Kind in Obhut? Die Vaterfigur, die er ersehnt zu sein und die sie ersehnt, an ihrer Seite zu haben? Und sieht Ildr Paul nicht als Magier mit seiner Pistole und seinem naturwissenschaftlichen Wissen sowie mysteriösen Erscheinen?
Zwischen Kunst und Wirklichkeit
Für Paul ist die Ebene der Kunst vielleichte die einzige Möglichkeit zur Grenzüberschreitung, das Kunstwerk, konkret das Gemälde, wird zu einem Portal, welches die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Imagination auflöst. Man denkt vielleicht an den „Artushof“ E. T. A. Hoffmanns, als die Figur Traugott in der Betrachtung des Lancelot im Artushof in Danzig eine von ihm ersehnte frühere Welt traumwärts betritt.
Hoffmann und Kracht lassen die Suche ihrer Protagonisten nach einem idealisierten Vergangenen, dem fernen Blau gegen die Zeit der Rationalität, jeweils über die Ebene der Kunst metaphysisch die physischen Grenzen überschreiten. In Air verschwimmen die Ebenen ganz und gar, Cohen gelangt im Traum in den Traum Pauls. Oder ist Pauls Reise doch rational erklärbar, sein Verschwinden eine mathematische Fügung im kosmischen Spiel der Dimensionen? Der Leser hat sich der Lösung selbst zu nähern. Schwer fällt es dem rationalen Betrachter heute, zu akzeptieren, dass er womöglich nicht alles verstehen kann und auch nicht muss.
„AIR“ ist ein Tor, das den Leser einlädt, die Geschichte als visuelle und narrative Erfahrung zu betreten – ein Echo der romantischen Idee, durch Kracht in dürftiger und flacher Zeit neu interpretiert, eine Chance, wenigstens imaginär an Orte zu gelangen, die existenzielle Fragen stellen. „AIR“ ist unfassbar und gewaltig. Ein Beitrag zur Wiederverzauberung unserer in geregelten Bahnen verlaufenden Welt.
„AIR“ (2025), Christian Kracht, 224 Seiten, Kiepenheuer & Witsch. Hier bestellen: https://www.jungeuropa.de/andere-verlage/schoene-literatur/492/air