Sex-Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Lindemann: Was steckt dahinter?

Hat Rammstein-Frontmann Till Lindemann wirklich sexuelle Grenzen überschritten oder wird hier nur die nächste Sau durchs Dorf getrieben? Diese Frage spaltet derzeit die Gesellschaft im deutschsprachigen Raum.

Julian Schernthaner
Kommentar von
10.6.2023
/
3 Minuten Lesezeit
Sex-Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Lindemann: Was steckt dahinter?

Julian Schernthaner

Die Berliner Band gilt als DAS Aushängeschild der „Neuen Deutschen Härte“ und ist der erfolgreichste deutsche Musikexport der letzten Jahre. Immer für eine Provokation gut, pfeifen „Rammstein“ auf politische Korrektheit und stehen oft im Mittelpunkt aufgeheizter Kontroversen im Feuilleton. Mal wird ihnen böser „Nationalismus“ vorgeworfen, mal sind die Texte zu sexistisch, zu gewaltverherrlichend. Jetzt soll Lindemann Frauen mit K.O.-Tropfen betäubt haben, um sie sexuell gefügig zu machen.

Sittenstrolch oder geschmähter Rockstar?

Die Band profitiert seit Jahren von der Polarisierungs- und Empörungsmaschinerie – und findet auch im patriotischen und systemkritischen Lager Fans und Fürsprecher. Die Dynamik wiederholt sich: Das Feuilleton schreit „Sexualstraftäter“, liberal-konservative Blogs rufen „Cancel Culture“. Das erinnert an die MeToo-Debatte, in der sich ebenfalls reale Schweinereien und Übergriffe mit falschen Anschuldigungen von Trittbrettfahrerinnen vermischten. Das Muster des Ausreitens für und gegen Lindemann ist ident.

Auch in den sozialen Medien bildeten sich zwei Lager. Da sich die Übergriffe angeblich hinter der Bühne abspielten, ist der Fall für Außenstehende schwer einzuordnen. Denn die „Rockstar-Dynamik“, dass junge Frauen als „Groupies“ versuchen, dem Idol auf der Aftershow-Party nicht unbedingt nur philosophisch näher zu kommen oder sogar vom Management dafür „gescoutet“ werden, ist seit Jahrzehnten bekannt. Die „Sex, Drugs, Rock & Roll“-Mentalität wurde auch im Kulturbereich lange Zeit geradezu verklärt.

Gretchenfrage der Glaubwürdigkeit von „Kronzeuginnen“

Was aber, wenn jemand zu weit geht? Die Geschichte geht so: Bei Konzerten soll die „Casting-Direktorin“ Alena Makeeva Frauen vorausgewählt haben, die ein sexuelles Interesse an Lindemann haben könnten. Diese seien zunächst vor der Absperrung in der „Row Zero“ platziert und dann zum Sänger geführt worden. Dieser habe dann quasi die Grenzen zwischen seinem lyrischen Ich und der Realität vergessen, den Frauen etwas ins Getränk gemischt und sich an den arglosen und willenlosen Frauen sexuell vergangen.

Zuerst kam der Vorwurf von einer Frau aus Irland (24), diese sei hinter der Bühne zu sexuellen Handlungen gedrängt worden. Es folgte die deutsche Influencerin Kayla Shyx, die zur Kronzeugin hochstilisiert wurde: „Auf einmal checke ich: Ich bin hier als Sexobjekt“, so die Frau, die sich in sozialen Medien teils freizügig und anzüglich gibt. Beide hätten deshalb gezögert, mit der Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Viel hängt in der öffentlichen Debatte an der Frage nach der Glaubwürdigkeit der beiden Damen.

Dementi der Band fällt betont vorsichtig aus

Interessanter ist die Reaktion der Band selbst: In einem Statement hieß es am Sonntag: „Wir verurteilen jede Art von Übergriffigkeit und bitten euch – beteiligt euch nicht an öffentlichen Vorverurteilungen jeglicher Art denen gegenüber, die Anschuldigungen erhoben haben“. Ein umfassendes Dementi der Menschen, die die meiste Zeit mit Lindemann verbringen, sieht anders aus. Es deutet an, dass sie es ihrem langjährigen Bandkollegen zumindest zutrauen könnten.

Stirnrunzeln mag auch die Tatsache hervorrufen, dass Makeeva inzwischen von der Band gefeuert wurde. Ist sie ein Bauernopfer oder ist an den Vorwürfen etwas dran? Das zusätzliche Problem: Lindemann spielt in den Texten und Elementen der Bühnenshow mit sexualisierter Gewalt. Kunst überschreitet Grenzen, um aufzufallen, durch Überspitzung sogar wachzurütteln. Aber verarbeitet hier ein Sänger vielleicht doch seine geheimsten Fantasien, die er, sobald er die Macht dazu hat, ruchlos umsetzt?

Plötzlich verlagerter „Kulturkampf“

Je weiter sich die Zeitspirale von den Vorwürfen entfernt, desto weiter entfernt sich die Debatte von der Wahrheitsfindung. Der österreichische Standard schreibt über ein „perfides System, mit dem dem Sänger der Band Rammstein weibliche Fans im großen Stil zu sexuellen Diensten zugeführt worden sein sollen. Bei der ARD wird das Problem bereits auf „toxische Männlichkeit“ reduziert. Man versucht, das Problem nach „Believe all women“-Muster gesamtgesellschaftlich aufzuzäumen

In München wird derweil mit einer Petition versucht, die Absage von Rammstein-Konzerten zu erreichen. Ein gemeinsamer Antrag von Grünen, Linken und ÖDP will das Aufreihen von Fans vor der Absperrung bei Konzerten verbieten, eigene Sozialarbeiter über sogenannte „Awareness Teams“ zu Konzerten schicken und eine Hilferuf-App für Konzertbesucher verpflichtend machen. Man entfernt sich vom konkreten Fall, stellt Rockmusiker und Backstage-Bereiche wieder ebenso pauschal unter Generalverdacht.

Lindemann droht Medien mit Strafanzeige

All das zeigt: Es ist längst ein ausgelagerter „Kulturkampf“, der weit über die Frage hinausgeht, ob ein mit seinem Skandal-Image kokettierender Sänger Macht und Ruhm missbraucht und das Vertrauen weiblicher Fans ausgenutzt hat, um sich an ihnen in einer Weise zu vergehen, die selbst „paarungswilligen“ Groupies zu weit geht. Die nüchterne, aber schwierige Abwägung zwischen Kunstfreiheit, Unschuldsvermutung und dem Schutz der Konzertbesucher gerät dabei in den Hintergrund.

Lindemann selbst lässt über seinen Anwalt die Vorwürfe als „ausnahmslos unwahr“ bezeichnen und kündigt rechtliche Schritte gegen alle an, die ihm unterstellen, sich die sexuelle Gefügigkeit seiner weiblichen Fans mit Alkohol, KO-Tropfen und Co. zu erschleichen. Doch auch das wird die Debatte nicht beruhigen: Für die einen wird es der Versuch eines Geschmähten bleiben, sich gegen die Verdachtsberichterstattung zu wehren. Und für die anderen gilt: Getroffene Hunde bellen immer am lautesten.


Zur Person:

Julian Schernthaner, geboren 1988 in Innsbruck, ist studierter Sprachwissenschafter und lebte sieben Jahre in Großbritannien. Vor kurzem verlegte er seinen Lebensmittelpunkt ins malerische Innviertel, dessen Hügel, Wiesen und Wälder er gerne bewandert.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
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