Europäische Souveränität: Macrons Traum und die harte Wirklichkeit
Emmanuel Macrons Politik schwankt zwischen Wirtschaftsliberalismus und sozialistischen Interventionen. Trotz seiner Vision eines souveränen Europas bleibt die militärische Realität hinter den hochgesteckten Zielen zurück.
Emmanuel Macron, ehemaliger Bankier bei Rothschild und Wirtschaftsminister unter dem früheren sozialistischen Präsidenten François Hollande, ist es gelungen, seine Erfahrungen in der Hochfinanz in ein Symbol für Modernität und Kompetenz zu verwandeln. Im Jahr 2016 gründete er „En Marche“, eine Bewegung, die seinen Ehrgeiz verkörpert, traditionelle politische Trennlinien zu überwinden und einen innovativen Zentrismus zu fördern. Als er 2017 zum Präsidenten gewählt wurde, präsentierte er sich als eine Figur des Wandels – ein „Progressiver“, der die überholten Schemata von Links und Rechts hinter sich lassen will.
Die ambivalente Bilanz von Macron
Zu Beginn seiner Amtszeit pflegte Macron ein schwer einzuordnendes Image und erklärte, er sei „weder links noch rechts“, obwohl er zuvor als Minister in einer sozialistischen Regierung gedient hatte. Acht Jahre später spiegelt seine Bilanz diese Ambivalenz wider: Ein klarer Wirtschaftsliberalismus mischt sich mit sozialistischen Anklängen aus seiner Vergangenheit. Seine ersten Reformen – Verordnungen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Senkung der Unternehmenssteuern, teilweise Abschaffung der Vermögenssteuer (ISF) – begeisterten die Liberalen, die den Bruch mit einem als verstaubt empfundenen Interventionismus feierten.
Die Revolte der Gelbwesten 2018–2019 hat dieses Bild jedoch getrübt und einen Präsidenten zum Vorschein gebracht, der als distanziert und sogar arrogant wahrgenommen wurde – sein berühmter Ausspruch „Sollen sie mich doch holen“ ist in Erinnerung geblieben – angesichts eines ländlichen und peripheren Frankreichs, das sich im Stich gelassen fühlte.
Interventionismus und wirtschaftliche Bilanz
Dennoch hat Macron seine sozialistischen Wurzeln nie ganz abgelegt. Geprägt durch seine Zeit in der „Parti socialiste“ und seine Rolle unter Hollande, hat er sich interventionistische Impulse bewahrt. Im Jahr 2020 setzte er angesichts der Covid-19-Krise eine Politik des „koste es, was es wolle“ um, pumpte 100 Milliarden Euro in die Wirtschaft und legte 2021 ein Konjunkturprogramm auf. Diese Maßnahmen, die Umverteilung und Universalismus miteinander verbinden, erinnern an linke Prinzipien, auch wenn sie mit hohen Kosten verbunden sind.
Tatsächlich wird Macrons wirtschaftliche Bilanz heftig kritisiert. Frankreich zeichnet sich durch die höchsten Staatsausgaben in der EU aus, vor allem durch besonders großzügige Sozialleistungen. Finanziert werden diese durch die höchste Steuerbelastung innerhalb der OECD, begleitet von einer stetig wachsenden Staatsverschuldung.
Symbolische Geste ohne Wirkung
Die öffentlichen Finanzen verschlechterten sich während der Covid-Krise, von der sich Frankreich im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern nur langsam erholte. Die Verschuldung ist in die Höhe geschnellt und die Frage nach der Tragfähigkeit der Staatsverschuldung wird immer drängender. Trotz steigender Defizite und einer Verschuldung, die die der Nachbarländer übertrifft, ist es nicht gelungen, eine starke wirtschaftliche Dynamik zu entfachen. Tatsächlich ist das Wachstum des BIP pro Kopf in Frankreich seit 2017 eines der niedrigsten in Europa.
Macron vertritt seit 2017 die Idee einer „europäischen Souveränität“ und „strategischen Autonomie“ und betont, dass Europa unabhängig vom schwindenden Einfluss der USA eigene Handlungsfähigkeit entwickeln müsse. Diese Vision, die er bereits in seiner ersten Amtszeit formulierte, gewann mit dem Einmarsch in die Ukraine 2022 an Bedeutung. Nachdem Macron 2019 die NATO als „hirntot“ bezeichnet und die Untätigkeit der USA unter Donald Trump kritisiert hatte, betonte er die Notwendigkeit, die Abhängigkeit Europas von Washington zu verringern.
Angesichts der strategischen Neuausrichtung der USA auf Asien forderte er eine „Europäisierung der NATO“ und eine militärische Stärkung in Osteuropa. Sein Plan, die französische Präsenz in Rumänien von 1.600 auf 5.000 Soldaten aufzustocken, sollte die osteuropäischen Länder, die sich von Russland bedroht fühlen, beruhigen und die Glaubwürdigkeit der EU stärken. Doch diese symbolische Geste hatte nicht die erhoffte Wirkung.
Europäische Souveränität und strategische Vision
Die europäische Frage ist untrennbar mit der Identitätsfrage verbunden, bei der Macron mit seinem berühmten „zugleich“ hin und her schwankt. Dieser Widerspruch, der ihm seinen Spitznamen eingebracht hat, spiegelt eine oft schwer fassbare Ideologie wider. Einerseits preist er die „Größe“ Frankreichs, wie in seiner Rede auf dem Mont-Saint-Michel, in der er ein „Volk der Baumeister“ feiert. Auf der anderen Seite verteidigt er eine pluralistische, multikulturelle Identität, wie in seiner Rede in Marokko über die „Jahre von Al-Andalus“.
Dort beschrieb er diese Zeit (711–1492) als „Nährboden des Austauschs“ zwischen islamischer, jüdischer und christlicher Kultur und griff damit den romantischen Mythos einer harmonischen Koexistenz unter muslimischer Herrschaft in Spanien auf. Diese Sichtweise, die im 19. Jahrhundert als Kritik am katholischen Spanien populär wurde, wird von Historikern relativiert: Al-Andalus war eine hierarchische Gesellschaft, in der Nicht-Muslime, die „Dhimmis“, Diskriminierung, Gewalt und hohen Steuern ausgesetzt waren.
Die drei Säulen von Macrons Europa-Ideologie
Macrons Europa-Ideologie basiert auf drei zentralen Prinzipien: Souveränität, Einheit und Demokratie. In Bezug auf die Souveränität schlägt er eine gemeinsame Verteidigungsstreitmacht sowie eine verstärkte Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung und beim Katastrophenschutz vor. Er plädiert für einen einheitlichen Grenz-, Asyl- und Migrationsraum sowie für eine engere Partnerschaft mit Afrika und dem Mittelmeerraum mit den Schwerpunkten Bildung, Gesundheit und Energiewende.
Europa, so Macron, müsse die Führung bei der ökologischen Wende und der digitalen Regulierung übernehmen, Innovation fördern und gleichzeitig Gerechtigkeit garantieren. Wirtschaftlich will er die Eurozone stärken, um Stabilität und Wachstum zu sichern. Er tritt für eine europäische Einheit ein, die auf sozialer und fiskalischer Solidarität beruht, mit harmonisierten Systemen und einheitlichen Kriterien für den Zugang zu EU-Fonds. Außerdem schlägt er vor, die kulturellen und bildungspolitischen Verbindungen durch mehr Austausch und die Gründung europäischer Universitäten zu vertiefen.
Europa auf dem Prüfstand
Die Vision eines starken, geeinten Europas findet zunehmend Anklang in der Bevölkerung. Doch während die Idee positiv aufgenommen wird, schürt das Verhalten der politischen Eliten Zweifel. Besonders die plötzliche martialische Rhetorik einiger Führungsfiguren stößt auf Skepsis. Kritiker sehen darin weniger einen echten Wandel als vielmehr die Folgen einer verfehlten Politik, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 auf Globalismus setzte und nationale Machtansprüche sowie strategische Unabhängigkeit systematisch untergrub.
Macron hat wiederholt die NATO infrage gestellt und die Schaffung einer eigenständigen europäischen Streitmacht gefordert. Doch nach acht Jahren im Amt bleibt die Bilanz ernüchternd: Konkrete Fortschritte, selbst in der militärischen Stärke Frankreichs, sind kaum erkennbar. Die europäischen Partner misstrauen seinen sprunghaften Positionen, und die französische Armee selbst gibt wenig Anlass zu großem Selbstbewusstsein.
Schwaches Herr, dünne Reserven
Mit gerade einmal 200.000 Soldaten, dünnen Reserven und Munitionsvorräten, die bei intensiven Gefechten binnen Tagen aufgebraucht wären, steht Frankreich vor Herausforderungen. Die Ausrüstung – darunter Leclerc-Panzer und Caesar-Haubitzen – ist begrenzt und teilweise veraltet. Experten warnen, dass die Armee in einem längeren Konflikt gegen moderne Gegner kaum bestehen könnte. Hinzu kommt eine geschwächte industrielle Basis: Jahrelange Budgetkürzungen und Abhängigkeit von ausländischen Lieferanten erschweren eine rasche Aufrüstung. Frankreichs angebliche Führungsrolle in Europa wirkt so wie eine Fassade, die allein durch das nukleare Arsenal nicht gestützt werden kann.
Ein Lichtblick ist das Militärplanungsgesetz 2024–2030, das mit einem Volumen von 413 Milliarden Euro auf die neue geopolitische Lage reagiert. Ziel ist es, Frankreich in einer unsicheren Welt gegen hochintensive Konflikte zu wappnen. Zwar bleibt die französische Armee innerhalb Europas einflussreich, doch ihre Kapazitäten überragen die anderer Partner nicht so deutlich, dass sie eine unangefochtene Führung übernehmen könnte. Bis 2030 sollen die Investitionen Schwächen beheben – im März 2025 jedoch sind die Effekte noch nicht spürbar.
Frankreich mag strategisch eine Vorreiterrolle einnehmen, doch der Weg zu einer autonomen Supermacht ist weit. Die Diskrepanz zwischen Macrons ambitionierter Rhetorik und der militärischen Realität bleibt ein zentraler Kritikpunkt. Europa steht vor der Frage: Wie viel Macht kann und soll es in einer instabilen Welt tatsächlich beanspruchen? Die Antwort liegt noch in der Zukunft.