Flucht der Ukrainer vor der eigenen Armee: Steckt Kiew in einem Abnutzungskrieg?
Der Ukraine gehen die Soldaten aus. Auch an der Front hat sich das Blatt in den vergangenen Monaten immer mehr zugunsten Moskaus gewendet. Deutschland beherbergt derzeit mehr als 220.000 wehrfähige Ukrainer, die vor dem Krieg geflohen sind. Derzeit kursieren Berichte über eine hohe Rate verschwundener US-Waffen in der Ukraine. Der Politikwissenschaftler Seyed Alireza Mousavi analysiert die Situation in der Ukraine.
Nach der gescheiterten und verlustreichen Gegenoffensive im Sommer will das ukrainische Militär wieder Hunderttausende Soldaten auf das Schlachtfeld schicken. Dabei handelt es sich vor allem um wehrfähige ukrainische Männer im Ausland. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) haben knapp 6,3 Millionen Menschen infolge des Krieges die Ukraine verlassen. Der EU-Statistikbehörde Eurostat zufolge sind in den 27 EU-Staaten sowie in Norwegen, der Schweiz und Liechtenstein mehr als 650.000 ukrainische Männer im Alter von 18 bis 64 Jahren als Flüchtlinge registriert. Das ist eine beachtliche Zahl, mit Blick auf die jüngste Aussage des neuen ukrainischen Verteidigungsministers Rustem Umjerow, wonach die reguläre Armee des Landes insgesamt aus 800.000 Soldaten besteht. Angesichts der massiven Verluste an der Front, zu denen die Regierung in Kiew keine Angaben macht, ist die Zahl der ins Ausland geflüchteten Männer sehr hoch.
Der ehemalige Leiter des ukrainischen Innenministeriums, Juri Luzenko, sagte kürzlich in einem Interview auf dem YouTube-Kanal Prjamoi, dass die Offenlegung der tatsächlichen Verluste der ukrainischen Streitkräfte ein Schock für die Bürger sein werde. Laut Luzenko verliere die ukrainische Armee jeden Monat mehrere zehntausend Soldaten, und gerade deshalb habe das ukrainische Militär vorgeschlagen, 500.000 Menschen zu mobilisieren.
Große Verluste an der Front
Kiew appellierte vor diesem Hintergrund an wehrfähige Ukrainer im Ausland und in der Ukraine, sich bei den Militärbehörden zu melden. Wer der Aufforderung nicht nachkommt, muss laut dem Verteidigungsminister in Kiew mit Sanktionen rechnen: Die Lage hat Deutschland betreffend eine weitere dramatische Dimension: In Deutschland leben derzeit abertausende vor dem Krieg geflohene ukrainische Männer, die in der Heimat für den Krieg fehlen. Deutschland steht nach eigenen Angaben auf Platz zwei der Unterstützer der Ukrainer. Dazu gehört auch, dass etwa 1,1 Millionen Geflüchtete aufgenommen wurden und Anspruch auf Bürgergeld haben. Seit Kriegsbeginn hat Deutschland bis September 2023 rund 24 Milliarden Euro an Unterstützung geleistet, den größten Teil für Flüchtlinge, nämlich mehr als 15 Milliarden Euro.
Wie der Aufstellung der Bundesregierung zu entnehmen ist, entfielen auf militärische Unterstützung aus dem Haushalt des Verteidigungsministeriums bis Ende Dezember 2023 5,4 Milliarden Euro. Während die Bundesregierung derzeit mehr als 220.000 Männer mit Bürgergeld unterhält, die sich seit Kriegsbeginn aus der Ukraine in Sicherheit gebracht haben, werden in diesem Jahr nur knapp 10.000 ukrainische Soldaten für den verlustreichen Krieg ausgebildet und ausgestattet. Und während der Anteil erwachsener Männer an der Gesamtzahl der Flüchtlinge unmittelbar nach Beginn des Kriegs bei nur sieben Prozent lag, stieg der Anteil bis September dieses Jahres auf 28 Prozent. Ein großer Teil der geflüchteten Männer im wehrpflichtigen Alter in Deutschland bezieht Bürgergeld.
Deutschland mischt mit
Derzeit häufen sich zudem die Berichte über Männer, die das Land illegal verlassen oder der Mobilmachung durch Schmiergeldzahlungen zu entgehen versuchen. Der Enthusiasmus der ersten Kriegstage ist längst vorüber. Viele Ukrainer haben erlebt, wie Angehörige in einem grausamen Stellungskrieg verletzt oder getötet wurden. Und deswegen greift auch die Ukraine zu rigorosen Zwangsrekrutierungsmaßnahmen: In den lokalen Nachrichten in der Ukraine wird von unrechtmäßigen Einberufungsbescheiden, von Zwangsmobilisierungstaktiken, konfiszierten Pässen und Gewalt berichtet. Ein neuer Gesetzentwurf im Parlament sieht auch vor, das Wehrpflichtalter von 27 auf 25 zu senken. Die ukrainische Armee braucht neue Soldaten, zwischen 450.000 und 500.000 Personen, sagte Präsident Selenskiyj im Dezember in einer Ansprache. Wer bereits als wehruntauglich eingestuft wurde, soll erneut untersucht werden. Selbst Menschen mit Behinderung dritten Grades sollen zukünftig nicht mehr davor geschützt sein, eingezogen zu werden.
In den Sozialen Netzwerken, vor allem in Chatgruppen bei Telegram, informieren die Menschen in der Ukraine einander, wo Mitarbeiter der Wehrbehörde Vorladungen und Einberufungen verteilen. Die Rekrutierer sind in den Städten unterwegs, sie inspizieren Baustellen, durchkämmen U-Bahnen, Bars, Restaurants und Geschäfte. Sie fahnden offenbar nach jungen Männern, die sie zum Dienst in der Armee einziehen können. Das ukrainische Internetportal Strana.ua berichtete, dass im Netz Masken verkauft werden, die das Aussehen eines alten Mannes vortäuschen. Wer sie trägt, soll sich unbehelligt von den Rekrutierungstrupps in der Öffentlichkeit bewegen können.
Ukrainische Armee sucht Soldaten
Der CDU-Abgeordnete im Bundestag Roderich Kiesewetter plauderte kürzlich aus, worum es dem Westen und der NATO im Ukraine-Krieg eigentlich geht und warum Mainstream-Medien auf einmal der unverhältnismäßig großen Zahl ukrainischer Männer in Europa mediale Aufmerksamkeit schenken. Der Hardliner Kiesewetter argumentiert für weitere Waffenlieferungen an Kiew sowie die Rückführung der ukrainischen Männer, da Europa nach seiner Sicht die „Energiewende“ vollziehen wolle, und es dabei Lithiumvorkommen brauche, die im Donezk-Lugansk-Gebiet liegen. Vor diesem Hintergrund handelt es sich beim Ukrainekrieg nicht um die propagierte „Demokratie“-Unterstützung, sondern um den Zugang zu Ressourcen und die Eindämmung Russlands auf Kosten der Ukrainer.
Die russische Armee hält derzeit den Druck auf verschiedenen Frontabschnitten hoch. Zug um Zug wird nun die russische Überlegenheit im Krieg gegen die Ukraine sichtbarer. Die massive Unterstützung des Westens lässt zugleich nach. Der Krieg ist bereits ein artilleriegestützter Abnutzungskrieg. 18 bis 19 Prozent des ukrainischen Territoriums hält Russland derzeit besetzt. Und nichts deutet derzeit darauf hin, dass sich die Lage in diesem Jahr zugunsten Kiews ändern könnte.
Russland hat weiterhin Reserven
Moskau verfügt über ein Vielfaches an Waffen und Munition und kann zugleich deutlich mehr Soldaten mobilisieren. Russland hat einen besseren Zugang zu Artilleriemunition. Während der russische Nachschub rollt, stockt es bei der Versorgung der Ukraine. Derweil brummt der Motor der russischen Kriegswirtschaft. Panzer, Drohnen und Munition kommen vom Fließband. Was nicht selbst produziert werden kann, kommt von Partnern wie Iran und Nordkorea. Moderne Bauteile kommen aus der Hightech-Fertigung des Globalen Südens, und zwar im Gegenzug für den stetigen Fluss preiswerter russischer Rohstoffe in Staaten wie China. Die ukrainischen Soldaten müssen im Gegenteil in einem Abnutzungskrieg Munition sparen. Die westlichen Hilfszusagen für die Ukraine sind laut dem Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel zwischen August und Oktober 2023 um 87 Prozent zurückgegangen. Diese Tendenz könnte sich wegen des Gazakriegs – Israel braucht dringend Munition aus dem Westen – weiter verschärfen.
Derzeit wackelt auch noch die westliche Unterstützung. Der US-Kongress hält bisher dringend benötigte Hilfen zurück. Hinzu kommt, dass ein Bericht aus dem Pentagon derzeit für Unruhe in den USA sorgt. Demnach kann Washington nicht verfolgen, in welche Hände ihre Waffen für die Ukraine gelangen. Der Vorfall sorgte im Kontext der ohnehin schon ins Stocken geratenen Hilfslieferungen für zusätzlichen Unmut in Washington. Ein Beamter des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums sagte gegenüber der Financial Times, dass die hohe Rate fehlender oder vermisster US-Waffen in der Ukraine „das Risiko von Diebstahl erhöht haben“. Italien hält seit kurzem vor diesem Hintergrund die Zeit für Verhandlungen im Krieg gegen die Ukraine gekommen und sieht eine Reihe wichtiger Signale von beiden Seiten. Die Frage lautet am Ende, wann Deutschland die Initiative ergreift, da Deutschland selbst nach den USA der stärkste Unterstützer Kiews im Ukrainekrieg ist.
Zur Person:
Dr. Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler, Carl-Schmitt-Exeget und freier Journalist, spezialisiert auf Geopolitik und lebt in Berlin.