Neuer Krisenherd: Warum der Gaza-Krieg eine globale Dimension hat
Das Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive geht einher mit dem Wiederaufflammen des Gaza-Krieges im Nahen Osten, denn Washington will die Hamas zerschlagen, um in der nächsten Phase die Hisbollah im Norden einzukreisen. Der Sieg der Hamas liegt im nationalen Interesse Irans, während China und Russland eine Niederlage der Hamas nicht tolerieren würden, meint der Politologe Seyed Alireza Mousavi.
Der 7. Oktober lässt weltweit weiterhin die Wellen hochschlagen. Israel droht derzeit ein Mehrfrontenkrieg, falls eine Invasion in großem Umfang in Gaza startet. Gaza-Stadt ist nach israelischen Angaben schon umzingelt. Im Mittelpunkt standen seit Wochen Spekulationen über die Reaktion der Hisbollah im Norden auf den brutalen israelischen Angriff auf Gaza. Zum ersten Mal seit Ausbruch des Gaza-Kriegs wandte sich Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah am Freitag an die Öffentlichkeit. Nasrallah hält seit Jahrzehnten fast wöchentlich Fernsehansprachen zur politischen Lage im Libanon und in der Region. Seit dem Überfall der Hamas auf Israel schwieg er aber. Nasrallahs Schweigen hat bisher der psychologischen Kriegsführung gedient. Er wollte bewusst offenlassen, ob seine geschätzten 50.000 Kämpfer mit ihren bis zu 150.000 Raketen in den Gaza-Krieg eingreifen werden.
Nasrallah vermied es, einen großen Krieg mit Israel anzukündigen – selbstverständlich ohne im Entferntesten Entwarnung zu geben. Die Hisbollah verschaffte sich damit Handlungsspielraum, indem die libanesische Bewegung öffentlich keine roten Linien gezogen hat. Eine Entscheidung der Hisbollah zur Erklärung eines totalen Krieges mit Israel hängt von zwei Faktoren ab: Zum einen will der Westen die Hamas zerschlagen, um in der nächsten Phase die Hisbollah im Norden zur Bekämpfung einzukesseln. Insofern hat die Hisbollah direktes Interesse daran, im Konflikt in großem Umfang zu intervenieren, um die Vernichtung der Hamas im Süden abzuwenden. Zum anderen arbeiten die USA daran, Iran genauso wie Russland in einen ewigen Krieg hineinzuziehen, um die Ressourcen der schiitischen Regionalmacht an die Gaza-Schlacht zu binden. Aber Strategen und Entscheidungsträger in Teheran haben kein Interesse an einem Ukraine-Szenario im Nahen Osten und sehen einen totalen Krieg als eine Falle der CIA, in die schon Russland in Osteuropa gelockt worden ist.
Verschiedene Interessen in Nahost
Dabei ist anzumerken, dass das totale Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive mit dem Aufflammen des Gaza-Kriegs in Nahost einhergeht. Der ukrainische Armeechef Waleryj Saluschnyi gestand kürzlich im Economist das Scheitern der Gegenoffensive ein. Die Ukraine hat nicht nur die Ziele ihrer Offensive seit dem Sommer weit verfehlt, sondern die Kampfmoral der ukrainischen Soldaten hat nach deren massiven Verlusten einen Tiefstand (Moskau schätzt die Verluste Kiews auf mehr als 90.000 Soldaten) erreicht.
Dass der französische Präsident Macron vor dem Hintergrund des Gaza-Krieges zu einer Anti-Hamas-Koalition nach dem Vorbild der Anti-IS-Koalition aufruft und US-Präsident Biden die Hamas mit Russland unter Putin gleichsetzt, deutet darauf hin, dass der Westen eine neue Front gegen seine Hauptrivalen neben dem Ukraine-Schlachtfeld eröffnen will. Der Westen unter Führung der USA ist schon dabei, in eine Offensive in der Region zu gehen. Die USA haben mittlerweile ihre Truppen in der Region um 1 200 Soldaten aufgestockt, während sie den größten Flugzeugträger der Welt ins östliche Mittelmeer verlegten. Das US-Militär ist zudem inzwischen mit einem atomwaffenfähigen U-Boot im Nahen Osten präsent. Mit diesem Schritt drohen die USA Teheran mit einem Atomschlag, sollten Iran und dessen Stellvertreter zuschlagen.
Eine Eskalation ist zu erwarten
Dabei ist auch anzumerken, dass Moskau und Peking sich dessen bewusst sind, dass die USA an dem laufenden Krieg gegen Gaza direkt beteiligt sind. Es handelt sich insofern nicht nur um einen israelisch-palästinischen Konflikt, sondern vielmehr um einen gezielten Versuch, die Region wieder in Brand zu setzen, und regionale Akteure vor weiteren Annäherungen an China und Russland zu warnen. Die USA sind im Grunde für den Krieg gegen Gaza mitverantwortlich. Denn es sind ausgerechnet die USA, die eine Waffenruhe in Gaza verhindern wollen: Die Regierung Biden hat vor kurzem einen Drei-Sterne-General der Marine und mehrere andere US-Militäroffiziere nach Israel entsandt, um die israelische Militärführung bei ihrer Operation im Gazastreifen zu beraten. Das enthüllte das US-Nachrichtenportal Axios.
Kürzlich hat auch Iran die mutmaßliche direkte Beteiligung der US-Armee an der Bodenoperation in Gaza bekannt gegeben. Wie die der iranischen Revolutionsgarde nahestehende Agentur Tasnim berichtete, hätten etwa 5 000 US-Soldaten, und zwar der Delta-Force-Einheit, an den israelischen Bodeneinsätzen im Gazastreifen teilgenommen. Die Bundeswehr hat zudem infolge des Krieges in Israel unter dem Vorwand der möglichen Evakuierung deutscher Staatsbürger bereits mehr als 1 000 Soldaten in die Region verlegt. Ohne direkte Beteiligung der USA und deren Verbündeten wird Israel die Hamas nicht besiegen und auch nicht Irans Stellvertreter abschrecken können.
Wie die Regeln der Konfrontation mit Israel in der Zeit nach einer möglichen Intensivierung der Bodenoperation in Gaza aussehen, ist eine entscheidende Frage. Die Sorge vor einer weiteren Eskalation und einem regionalen Flächenbrand bleibt bestehen. Einen möglichen Sieg verlegt Iran und deren Stellvertreter schon in die Zukunft, und zwar an das Ende eines langen Abnutzungskampfes. Die Entwicklungen im Gazastreifen werden nach Nasrallahs Rede eine Reaktion an den Fronten mit der Hisbollah im Norden und der Huthi-Bewegung am Roten Meer sowie schiitischen Milizen aus Irak und Syrien hervorrufen – allerdings erstmals ohne direkte Beteiligung Irans. Auf jede Eskalation in Gaza wird eine Eskalation an Israels Nord- und Südgrenze folgen, wo das israelische Militär bereits in höchste Alarmbereitschaft versetzt wurde.
Wie erfolgreich ist die Bodenoffensive?
Der libanesischen Front ist es bisher gelungen, ein Drittel der israelischen Armee im Norden zu binden. Zugleich trägt die Evakuierung von Siedlungen im Norden Israels und in der Negev-Wüste im Süden derzeit zur Verunsicherung innerhalb Israels bei, wobei die massive Evakuierung an der Grenze zum Libanon im Zuge des Raketenbeschusses vonseiten der Hisbollah faktisch eine Pufferzone zwischen dem Herzland Israels und dem Libanon entstehen ließ. Damit hat die sogenannte „Achse des Widerstandes“ einen strategischen Erfolg verbucht. Hinzu kommen schwere israelische Verluste bei der Bodenoperation in Gaza, die im Westen gezielt zensiert werden, damit das Ansehen der israelischen Streitkräfte als unbesiegbare Armee nicht in den Köpfen der Menschen beschädigt wird.
Der erste Versuch einer Bodenoffensive im Gazastreifen soll kläglich und mit erheblichen israelischen Verlusten gescheitert sein. Medien in der Region berichten von einem mehrfachen Rückzug der IDF-Bodentruppen aus Gaza. Schon Ende Oktober dauerte ein Bodeneinsatz nur eine halbe Stunde. Fünfzehn Minuten nach Beginn geriet die IDF-Truppe in einen Hinterhalt, woraufhin sie mit der Unterstützung von Hubschraubern die Flucht antrat. Hamas-Kommandotrupps kommen nachts aus den Tunneln, um gezielte Angriffe auf die in Grenznähe von der IDF abgestellten israelischen Panzer und gepanzerte Fahrzeuge auszuführen.
Die Hamas hat inzwischen begonnen, Videos zu veröffentlichen, in denen sie israelische Truppen erfolgreich mit Drohnen bekämpft. In einem Video ist zu sehen, wie die Hamas eine israelische Infanterietruppe östlich von Beit Hanoun angreift – mit Munition, die von einer Hamas-Drohne abgefeuert wird. Seit Beginn der Bodenoperation wurden mehrere israelische Soldaten getötet, deren Namen bei den israelischen Zeitungen wie Haaretz aufgelistet wurden. Bis Dienstag meldete die Armee 31 im Gazastreifen getötete Soldaten. Die Videos der Hamas zeigen auch, wie verwundbar die israelische Panzerwaffe gegen Angriffe von oben ist. Der Merkava-Panzer wird – genau wie der Leopard in der Ukraine – zur leichten Beute von bewaffneten Drohnen der Hamas, die meist senkrecht aus der Luft angreifen.
Eine politische Niederlage Israels droht
Ein israelischer Minister plauderte kürzlich aus, dass Atombombenabwürfe auf Gaza als eine Option in Regierungskreisen betrachtet werden. Diese Äußerung zeugt von einer nicht gut gelaufenen Bodenoffensive. Die Führung Israels scheint fest entschlossen, Gaza auszulöschen und eine Zwangsumsiedlung umzusetzen – unter anderem mithilfe medialer Rückendeckung im Westen. Ein solcher Sieg käme einem Genozid an der Bevölkerung gleich. Deshalb könnte der militärische Sieg zu Israels größter politischer Niederlage werden. Israels Militäroperation genießt keine Unterstützung im Globalen Süden sowie in den internationalen Institutionen wie der UNO. Zahlreiche Länder haben bisher ihre Botschafter aus Israel zurückgezogen und sind dabei, ihre Handelsbeziehungen zu Tel Aviv vollständig einzustellen. In den USA und der EU sind auch mittlerweile Spaltungen bei der Gaza-Frage sichtbar geworden.
Die Zwangsumsiedlung der Palästinenser in den Süden des Gazastreifens dient dazu, die Hamas im Norden zu umzingeln. Es bleibt unklar, wie viele Monate die palästinensischen Milizen durchhalten können. Um die Vernichtung der Hamas abzuwenden, würden Irans Stellvertreter in der Region Israel durch ihre begrenzten Operationen Nadelstiche versetzen, bevor sie sich zu einem Krieg entschließen. Der Sieg von Hamas ist im nationalen Interesse Irans, wobei China und Russland keine Niederlage der Hamas tolerieren würden. Der jüngste Besuch der Hamas-Delegation in Moskau zeugt von der Sorge der Kremlführung über den Ausgang des Gaza-Krieges. Eine Niederlage der Hamas bedeutet, dass der Westen die Hisbollah als Nächstes ins Visier nehmen würde. Wenn die Strukturen der Hisbollah in der Region zusammenbrechen, würden Russlands Militär in Syrien und Chinas Plan eines mittleren Korridors der Neuen Seidenstraße über die Levante einen schweren Schlag erleiden.
Zur Person:
Dr. Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler, Carl-Schmitt-Exeget und freier Journalist, spezialisiert auf Geopolitik und lebt in Berlin.