Was ist Streumunition und warum ist sie geächtet?
Schon vor einigen Monaten hat die Ukraine von ihren westlichen Unterstützern die Lieferung umstrittener Streumunition gefordert. Nun haben die Vereinigten Staaten dem Drängen der ukrainischen Regierung nachgegeben. In vielen Ländern der Welt ist die Munition aber geächtet.
Vor zwei Tagen teilten die USA mit, dass sie der Ukraine Streumunition zur Verfügung stellen werden. Es sei eine schwierige Entscheidung gewesen, erklärte das Weiße Haus, aber US-Präsident Joe Biden habe sich entschieden, diesen Schritt zu gehen, so der nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan. „Wir sind uns bewusst, dass Streumunition das Risiko birgt, dass Zivilisten durch nicht explodierte Munition zu Schaden kommen“, betonte Sullivan. „Deshalb haben wir die Entscheidung so lange aufgeschoben, wie wir konnten.“
Was ist Streumunition?
In Europa stößt das Vorhaben auf Kritik. Doch wieso ist Streumunition so geächtet? Streumunition wird durch Artillerie, Raketen, Flugkörper oder Flugzeuge verschossen. Durch die Drehung in der Luft zerbricht die große Bombe, Trägerbombe genannt, in viele kleine Einheiten. Diese fallen auf ein größeres Gebiet. Dieser Effekt ist in etwa so, wie wenn man eine offene Wasserflasche dreht. Dadurch wird eine große Streuweite erreicht. Die Submunition landet auf einem möglichst großen Gebiet. Bei dem Modell der USA soll es sich laut Washington Post um eine Fläche von der Größe von etwa 22.500 Quadratmetern handeln, also etwa dreieinhalb Fußballfelder.
Dazu, wie hoch diese Blindgängerquote ist, gibt es unterschiedliche Angaben. Handicap International beispielsweise gibt eine Blindgängerquote bei älteren Waffen von 40 Prozent an. Vor 20 Jahren hat das Pentagon die eigenen Streubomben, die M864-Artilleriegranate, untersucht – und festgestellt, dass etwa sechs Prozent der Munition in einer Trägerbombe nicht explodieren. Das wären mindestens vier Einheiten der Submunition. Heutzutage sagt das Pentagon, dass neuere Tests – zuletzt 2020 – eine Abgängerquote von 2,35 Prozent hätten. Das würde bedeuten, dass ein bis zwei Einheiten der Submunition auf einer Fläche von dreieinhalb Fußballfeldern nicht explodieren würden. Wenn starker Wind weht oder die Trägerbombe nicht richtig abgeworfen wird, könnte die Submunition auch außerhalb der anvisierten Fläche landen.
Kinder besonders häufig Opfer von Streumunitionunfällen
Der Militärexperte Marc Garlasco, der zeitweise als Ermittler für Kriegsverbrechen bei der UN gearbeitet hat, kritisiert, dass diese Tests in „perfekten“ und unrealistischen Umständen stattfinden würden. Er komme bei seinen Untersuchungen auf zuvor umkämpften Gebieten auf eine Quote von etwa 20 Prozent. Die USA haben sich eigentlich selbst verboten, Streubomben zu produzieren oder einzusetzen, die eine Blindgängerquote von mehr als einem Prozent haben. Wie viele Trägerbomben die USA an die Ukraine liefert, ist bisher noch nicht bekannt. Handicap International schreibt in seinem letzten Report, dass 2021 etwa 60 Prozent der Opfer von Streumunitionunfällen Kinder waren. Demnach sei die Ukraine das einzige Land, in dem Streumunition derzeit eingesetzt werde.
Eigentlich gibt es seit 2010 ein Abkommen, das den Einsatz solcher Waffen in Konflikten verbietet. Doch nur etwa 120 Länder gehören zu den Unterzeichnern des sogenannten Abkommens. Die USA, Russland und die Ukraine gehören nicht dazu.
Die USA verteidigen ihre jüngste Entscheidung damit, dass für Zivilisten auch dann ein großes Risiko bestehe, „wenn russische Truppen und Panzer über ukrainische Positionen rollen und mehr ukrainisches Territorium einnehmen und mehr ukrainische Zivilisten unterwerfen“. Die Munition ist Teil eines 800-Millionen-Pakets zur Unterstützung der Ukraine, die bereits in der Vergangenheit immer wieder Streumunition gefordert hatte, um effektivere Angriffe starten zu können. Weil beim Einsatz viele kleinere Sprengkörper weiträumig verteilt werden, eignet sie sich gut, um Gegner zu bekämpfen, die sich in Schützengräben verbarrikadiert haben. Die Streumunition sei eine Art Übergangslösung, während die USA ihre Produktion von neuer Artilleriemunition für die Ukraine hochfahren, erklärte Sullivan.
Grünen-Politiker gegen Streumunition, aber für Waffenlieferungen
International wird der Einsatz von Streumunition von mehr als 100 Ländern geächtet – auch von Deutschland. UN-Generalsekretär António Guterres sagte, er wolle nicht, „dass weiterhin Streumunition auf dem Schlachtfeld eingesetzt wird“. Das UN-Menschenrechtsbüro in Genf forderte, den Einsatz umgehend zu stoppen. Es rief Russland und die Ukraine auf, dem Übereinkommen zum Verbot dieser Waffen beizutreten. In dem Vertrag verpflichten sich Staaten, „unter keinen Umständen jemals Streumunition einzusetzen, zu entwickeln, herzustellen, auf andere Weise zu erwerben, zu lagern, zurückzubehalten oder an irgendjemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben“. Es heißt unter anderem, dass man entschlossen sei, „das Leiden und Sterben zu beenden“, das durch Streumunition verursacht werde. Man sei besorgt, dass „Streumunitionsrückstände Zivilpersonen, einschließlich Frauen und Kinder, töten oder verstümmeln“ könnten.
In Deutschland lehnte der Grünen-Politiker Anton Hofreiter die Lieferung von Streumunition ab. Sie sei zu Recht geächtet, betonte Hofreiter. Der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag forderte stattdessen die Lieferung deutscher Marschflugkörper. Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) betonte, es sei zwar richtig, der Ukraine Waffen zu liefern. Es gebe aber auch im Krieg Grenzen, die nicht überschritten werden dürften, schreibt Bovenschulte auf Twitter. Dazu gehöre die völkerrechtlich geächtete Streumunition.
Die Bundesregierung wies darauf hin, dass auch Deutschland Unterzeichner des Übereinkommens zur Ächtung von Streumunition ist. Zugleich signalisierte ein Regierungssprecher aber Verständnis für eine Lieferung durch die USA: Die Ukraine setze Munition nur zur Befreiung des eigenen Territoriums und „zum Schutz der eigenen Zivilbevölkerung“ ein. Die AfD ist anderer Meinung: „Deutschland wird von Washington mal wieder am Nasenring durch die Manege geführt: Wir haben uns verpflichtet, auf den Einsatz, die Herstellung und die Weitergabe von Streumunition zu verzichten“, erklärte Tomasz Froelich, politischer Berater der ID-Fraktion im EU-Parlament, gegenüber FREILICH. Dies nun zugunsten fremder und auf Kosten eigener Interessen zu revidieren, sei „ein Beleg für unsere außenpolitische Impotenz“. Anstatt sich an kriegsverlängernden Maßnahmen zu beteiligen, sollte eine diplomatische Lösung angestrebt werden, so Froelich. Auch in Spanien äußerte man sich deutlich. So erklärte die spanische Verteidigungsministerin Margarita Robles, dass ihr Land zwar auf der Seite Kiews stehe, aber keine Streubomben an die Ukraine geliefert werden sollten. Großbritannien hat sich generell gegen den Einsatz von Streubomben ausgesprochen.