Pawel Durow und das Rätsel von zwei Stühlen

Inmitten massiver Vorwürfe steht Telegram-Gründer Pawel Durow vor einer düsteren Wahl: Entweder er veröffentlicht die Verschlüsselungscodes seines Messengers oder er riskiert eine jahrzehntelange Haftstrafe. Ilia Ryvkin ist sich sicher, dass Durow weiß, was zu tun ist, wie er in seinem Kommentar für FREILICH erklärt.

Kommentar von
27.8.2024
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5 Minuten Lesezeit
Pawel Durow und das Rätsel von zwei Stühlen

Der Gründer des populären Messenger-Dienstes, Pawel Durow, wurde am vergangenen Wochenende in Frankreich verhaftet.

© IMAGO / Russian Look

Der Gefangene wird in die Zelle geführt, die Tür schließt sich hinter ihm mit einem unheilvollen Knarren. Vor ihm reihen sich die Etagenbetten auf, und die Blicke der anderen Insassen bohren sich in ihn. Einer von ihnen tritt vor, grinst gehässig und stellt die grausame Frage: „Stell dir vor, es gibt zwei Stühle: Auf einem sind spitze Messer, auf dem anderen gewichste Schwänze. Welchen wählst du für dich, und welchen für deine Mutter?“ Diese Frage entscheidet über das Schicksal des Neuen: Seine Antwort kann entweder zu seiner Misshandlung, Erniedrigung oder gar Akzeptanz in der Gefängnishierarchie führen.

Eine finstere Wahl für Durow

Ich entschuldige mich bei den zarten Seelen, deren empfindliche Ohren sich wohl bei diesen rohen Details aus der finsteren Welt Mordors zusammenziehen. Doch ich bezweifle, dass ihre feinen Augen das verstörende Detail im Hintergrund des Interviews von Tucker Carlson mit Pawel Durow am 16. April dieses Jahres bemerkt haben: Zwei Stühle, bestückt mit hölzernen Modellen, einer von scharfen Spaten, der andere von erigierten Phalli. War es reiner Zufall, dass Durow eine solche Kulisse gewählt hat? Ich glaube nicht.

Hier geht es um mehr als nur eine bizarre Dekoration. Durow steht vor einer ebenso düsteren Wahl: Entweder er gibt die Verschlüsselungscodes seines Messengers an die westlichen Geheimdienste heraus, oder er muss wegen absurder Anschuldigungen für zwanzig Jahre hinter Gitter. Eine moralische und faktische Katastrophe – ganz so, wie sie ihm in diesem verstörenden Bild vor Augen geführt wird.

Die Vorwürfe gegen Durow

Die Anklage gegen Durow, die ihm „Terrorismus, Drogenhandel, Straftaten gegen Kinder und Betrug“ zur Last legt, ist ein Hohn auf die Prinzipien der kontinentalen Rechtstradition. Selbst die schärfsten EU-Gesetze erlauben es nicht, den Besitzer eines Sozialen Netzwerks persönlich für die dort verbreiteten Inhalte zur Verantwortung zu ziehen. Das wäre so absurd, als würde man Macron für sämtliche Verbrechen in Frankreich während seiner Amtszeit ins Gefängnis stecken, nur weil er „versäumt hat, alles zu überwachen und zu verhindern“. „Mittäterschaft“ und „Beihilfe“ wurden schon immer nur dann angewendet, wenn Vorsatz vorlag – also wenn jemand bewusst eine Straftat unterstützt hat. Nach dieser Logik könnte man genauso gut den Hersteller eines Regenschirms der Mittäterschaft an einem Mord bezichtigen, wenn jemand diesen Schirm als Waffe benutzt. Oder besser gesagt, man könnte verlangen, dass in jeden Regenschirm präventiv eine Abhörwanze eingebaut wird, um solche Verbrechen zu verhindern.

Abgesehen von den genauen Einzelheiten ist dieser Präzedenzfall hochgefährlich. Sollte sich das durchsetzen, könnten Dienstleister aller Art gezwungen werden, auf Vorrat mit den Behörden zu kooperieren. Das ist, als würde man Pizzalieferanten dazu verdonnern, für die Geheimdienste zu arbeiten – nur weil die Kunden potenziell Pädophile sein könnten!

Es ist schlichtweg falsch zu behaupten, dass Telegram sich generell weigert, mit Staaten und deren Behörden zusammenzuarbeiten. Diese Zusammenarbeit lief bereits über die lokalen App-Stores von Google und Apple. Wenn eine Behörde in einem Land einen bestimmten Kanal oder Bot schließen wollte, wandte sie sich an den App-Store, der diese Forderung dann an die Telegram-Administration weiterleitete – unter der Drohung, die App aus dem Store zu entfernen. So wurde der „Smart Voting“-Bot von Nawalnys Team in Russland eliminiert und RT-nahe Kanäle für europäische Nutzer gesperrt. Dieser Mechanismus hätte auch der französischen Justiz völlig ausgereicht, um Kanäle zu blockieren, die angeblich gegen französisches Recht verstoßen.

Anzeichen für gezielte Geheimoperation

All dies, einschließlich der dramatischen Umstände der Verhaftung – der Haftbefehl wurde genau dann ausgestellt, als das Flugzeug zur Landung ansetzte – deutet klar auf eine gezielte Geheimoperation hin. Es geht hier nicht um irgendein Bagatelldelikt, sondern um den großen Wurf: Die westlichen Geheimdienste wollen die Verschlüsselungscodes in die Finger bekommen, um Zugang zur privaten Kommunikation von Millionen Nutzern zu erhalten. Der Druck auf Durow, die Schlüssel herauszugeben, ist enorm. Telegram ist schließlich das Herzstück der Kommunikation im heutigen Russland, und selbst offizielle russische Behörden nutzen dieses Netzwerk. Hier geht es um weit mehr als nur um vermeintliche Koks-Taxis.

Durow kennt derart Konflikte bereits: 2016 forderten die russischen Sicherheitsbehörden von ihm, Telegrams Verschlüsselungscodes herauszugeben, um Terrorkommunikation zu überwachen. Durow weigerte sich strikt, um die Privatsphäre seiner Nutzer zu schützen. Im April 2018 reagierte die russische Regierung mit einer Blockade von Telegram, die durch ein Gerichtsurteil erzwungen wurde, welches Telegram die Nutzung bestimmter IP-Adressen und Server untersagte. Doch Telegram fand Wege, die Blockade zu umgehen, indem es neue Technologien einsetzte, und blieb so für viele Nutzer weiterhin zugänglich. Erst im Juni 2020 wurde die Blockade im Rahmen einer Amnestie für Internetplattformen aufgehoben, als Teil eines Versöhnungsversuchs der Behörden.

Der digitale Rebell

Viele junge Menschen, darunter auch russische Nationalisten, sehen den damaligen Sieg eines jungen und äußerst erfolgreichen Geschäftsmannes als ein bedeutendes Vorbild.

Die führende Webseite der jungen russischen Rechten, Sputnik-Pogrom, feierte die Geschehnisse damals: „Die Wahrheit ist nicht zu leugnen. Die Titanen leben weiter. Alle Texte von Sputnik-Pogrom über die großen Russen entsprechen der Realität. Russland wird durch die Hände derer wiederauferstehen, die erschaffen, wagen und aufbauen, und nicht durch jene, die Korruption und Repression betreiben. Ein unbesiegtes Genie ist Millionen von resignierten Leuten aus Putins Volk‘ wert. Die Zukunft gehört uns, und heute hat die Zukunft den sowjetischen Überresten einen harten Schlag ins Gesicht versetzt. Genauer gesagt, sie schlagen sich selbst ins Gesicht – sie brauchen keine Hilfe dafür.“

Es bleibt abzuwarten, wie erfolgreich der Kampf des russischen Libertären, des digitalen Rebellen unserer Zeit, gegen die brutalen Methoden des Westens sein wird – eines Westens, der sich wie ein Schachspieler verhält, der mitten in der Partie das Brett packt und auf seinen Gegner einschlägt. Hat Durow die Möglichkeit einer solchen Entwicklung vorhergesehen, ähnlich wie Chodorkowski, als dieser die Position des „Protektors“ im Vorstand von Yukos schuf, um in kritischen Momenten das Ruder zu übernehmen, wenn der Druck auf die Unternehmensführung zu groß wurde? Interessant ist dabei, dass diese Schlüsselrolle bei Yukos von niemand Geringerem als dem kürzlich verstorbenen Lord Jacob Rothschild ausgefüllt wurde.

Durow kennt die richtige Antwort

„Was wir jetzt tun, hallt in der Ewigkeit wider“ – mit diesem Zitat von Marcus Aurelius postete Pawel Durow einst ein Bild von sich auf Instagram, das seinen nackten, durchtrainierten Oberkörper zeigt. Solche Gesten lassen erkennen, dass Durow die Philosophie des gängigen Pop-Stoizismus durchaus verinnerlicht hat. Doch was bedeutet das in der aktuellen Lage? Die richtige Antwort auf das Rätsel der beiden Stühle – eine grausame Allegorie, die seine derzeitige Situation perfekt beschreibt – hängt letztlich von der Lebensphilosophie desjenigen ab, der die Wahl trifft. Für Durow, der sich offenbar an den Prinzipien der stoischen Gelassenheit und Entschlossenheit orientiert, wird diese Entscheidung zum Prüfstein seines Charakters und seiner Widerstandsfähigkeit sein.

Vielleicht fragt sich der eine oder andere Leser, wie man das Rätsel mit den zwei Stühlen richtig lösen kann, ohne die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, eines Tages im Gulag zu landen. Aber was ist heute noch unmöglich? Vielleicht hilft dieses Gleichnis, auch in anderen heiklen Situationen das einzig Richtige zu tun. Die Antwort lautet: „Ich nehme den Spieß und schneide die Schwänze ab. Ich setze mich auf einen Stuhl und setze mir die Mutter auf den Schoß“. Pawel Durow kennt die richtige Antwort. Möge er weiterhin erfolgreich sein!

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor

Ilia Ryvkin

Ilia Ryvkin Jahrgang 1974, wurde im russischen Petrosawodsk geboren und lebt derzeit in Berlin. Als Journalist und Dramaturg erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien. Ryvkin ist als Korrespondent für Osteuropa und Zentralasien tätig.

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