Unliebsame Jubiläen – Die Proklamation des Deutschen Kaiserreichs 1871

Nicht alle Jahrestage sind Grund zum Feiern, besonders wenn man sich ihrer eigentlich lieber entledigen würde. So scheint auch der 18. Januar, Tag der Ausrufung Wilhelms I. zum deutschen Kaiser im Spiegelsaal von Versailles, für heutige Politiker eher Ballast denn Gedenktag. FREILICH-Redakteur Mike Gutsing blickt anlässlich des Jubiläums auf die Geschichtspolitik der Bundesrepublik Deutschlands und ihre Vergangenheit.

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Unliebsame Jubiläen – Die Proklamation des Deutschen Kaiserreichs 1871

Statue Wilhelms I. am Deutschen Eck in Koblenz.

© IMAGO / imagebroker

„Eine Nation ohne Leidenschaften ist wie ein Mensch ohne Leidenschaften, ein sich bewegender Leichnam.“ So schätzte der Unternehmer und Nationalökonom Friedrich List in seinen letzten Jahren den Weg zur deutschen Einigung ein, die er durch seinen Tod 1846 nicht mehr erleben durfte. Keine dreißig Jahre später sollte an der Stelle des locker organisierten Deutschen Bundes mit seinem Präsidenten ein Kaiserreich stehen und mit Wilhelm I. ein Monarch, der schnell mit dem Beinamen „Barbablanca“ in die Thronfolge des Alten Reiches gestellt wurde.

Keine Feierstimmung im Schloss Bellevue

Über das Deutsche Kaiserreich, seine Anfänge und seinen Untergang wurden zahllose Bücher geschrieben, besonders das 150. Jubiläumsjahr 2021 brachte einen großen Schwung Literatur auf den Weg, dessen Quelle jedoch nicht das Land der Jubilare, sondern zumeist der englischsprachige Raum war. In ihnen überwiegt auch über hundert Jahre nach Ende des Ersten und knapp achtzig Jahre des Zweiten Weltkrieges das Misstrauen gegen den Staat, der sich 1871 emporschwang, zukünftig eigene Interessen in Zentraleuropa verwirklichen zu wollen. Eine für die Seefahrernation England völlig legitime Perspektive, mit der sich politische Denker wie Carl Schmitt oder auch der Geopolitiker Karl Haushofer intensiv beschäftigten.


Buchempfehlungen der Redaktion:

➡️ Bruno Preisendörfer – Als Deutschland erstmals einig wurde: Reise in die Bismarckzeit*

➡️ Oliver Haardt – Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs*

➡️ Christopher Clark – Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600 - 1947*

➡️ Christoph Nonn – 12 Tage und ein halbes Jahrhundert: Eine Geschichte des deutschen Kaiserreichs 1871-1918*

➡️ Michael Epkenhans und Andreas von Seggern – Leben im Kaiserreich: Deutschland um 1900*


Wer das große 150-jährige Jubiläum im Jahr 2021 verpasst hat, der sei beruhigt, dass er im Trubel der Pandemiejahre die großen Festakte, Reden und Zeremonien anlässlich der Gründung des ersten modernen deutschen Nationalstaates nicht verpasst hat – es gab nämlich keine. Eine kleine Diskussionsrunde mit den Historikern Christina Morina, Hélène Miard-Delacroix, Eckart Conze und Christopher Clark war alles, was mit dem sicherlich äußerst begrenzten Budget für diesen Tag organisiert werden konnte. Mit Clark hatte die Runde immerhin einen Gast, wenn auch nur per Fernschalte, in ihrer Mitte, der nicht innerhalb der englischsprachigen Geschichtsschreibung hervorstach. Clark wie auch dessen Schüler Oliver Haardt haben durch ihre jahre- und teilweise jahrzehntelange Arbeit umfassend den schlechten Ruf „Großpreußens“ in einen europäischen Kontext gesetzt. Ihnen ist zu verdanken, dass der quasi-diktatorische „Hunnenstaat“ heute als das verstanden wird, was er tatsächlich war: Ein junges Staatswesen einer Nation, die aus den Behauptungskämpfen gegen ihre Nachbarn zueinander gefunden hatte.

Staatsoberhaupt mit Selbsthass?

Die Dekonstruktion der eigenen Geschichte durch deutsche Politiker, die im Falle Steinmeiers bis hin zur umfänglichen Verachtung dergleichen ausartet, ist keine neue Erscheinung. Bereits sein Amtsvorgänger Gustav Heinemann (SPD) brachte dem 100-jährigen Jubiläum keinerlei Wertschätzung entgegen. Mehr als Heinemann schwang sich Steinmeier jedoch hinauf in die Position, nicht nur der eigenen Geringschätzung Platz zu machen, sondern auch im Namen der Deutschen den 18. Januar 1871 zu verunglimpfen:

„Nach einer nationalen Feier der Reichsgründung verlangt, so mein Eindruck, heute niemand. Der 18. Januar ist kein Datum, das im kollektiven Gedächtnis der Deutschen wirklich präsent ist. Und wer mit dem Tag […] noch etwas verbindet, der hegt wohl bestenfalls zwiespältige Gefühle für ein Ereignis, dessen triumphale Geste nicht nur den unterlegenen Kriegsgegner Frankreich demütigen sollte, sondern auch ein Reich begründete, an dessen Ende erneut ein Krieg mit Frankreich stand.

Wir Deutsche stehen dem Kaiserreich heute so beziehungslos gegenüber wie den Denkmalen und Statuen von Königen, Kaisern und Feldherren aus dieser Epoche. […] Unsere Perspektive auf diese Epoche deutscher Geschichte ist gebrochen […]. Einen ungetrübten Blick zurück auf das Kaiserreich, vorbei an Völkermord, an zwei Weltkriegen und einer von ihren Feinden zerstörten Republik, gibt es nicht und kann es nicht geben.“

Die „Nation ohne Leidenschaften“

Die Gleichgültigkeit der eigenen Geschichte, die Wurzellosigkeit im Gestern, Heute und Morgen stehen linken Agitatoren wie Steinmeier gut zu Gesicht, sind aber völlig unangemessen und würdelos für das höchste, wenn auch repräsentative Amt eines deutschen Staates. Dass ihm die mutmaßlich linksextremen Musiker von „Feine Sahne Fischfilet“ näher sind als die eigenen Vorfahren, passt da natürlich in das Gesamtbild. Auch ohne reaktionäres Liebäugeln mit dem Monarchismus der Kaiserzeit muss eine deutsche Regierung ihre Aufgabe darin sehen, die Bevölkerung mit dieser Epoche in Verbindung zu bringen. Eine stabile Identität verlangt eine positive Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit – egal wie „dunkel“ manche Kapitel sein mögen.

Man könnte die Bundesrepublik als „Nation ohne Leidenschaften“ bezeichnen und hätte damit Recht und Unrecht zugleich. Leidenschaftslos, sogar gefühllos ist gegenüber ihren kulturellen und historischen Wurzeln und voller Leidenschaft ist gegen alles, was keine Wurzel sein darf. Ein Staat ohne Leidenschaft erschafft ein Volk, das sich als Gemeinschaft nie lieben gelernt hat. Man muss die toten Monarchen und Feldherren nicht lieben und verehren, so wie niemand das Deutsche Kaiserreich von 1871 als ernsthaftes Vorbild für das heutige Deutschland misst. Wer der eigenen Vergangenheit, ihren Mythen, Personen, Gebäuden und Daten keinen Respekt entgegenbringt, sie nicht als Teil seines Selbst begreift, wird niemals wirklich Liebe für mehr als sich selbst entwickeln können. Er bleibt dem sich bewegenden Leichnam gleich, ein Mensch ohne Leidenschaften.


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Mike Gutsing

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