Kritik der Doppelmoral
In seinem Kommentar erklärt Dimitrios Kisoudis, warum der Vorwurf der Doppelmoral das billigste Mittel politischer Argumentation ist und warum derjenige, der ihn erhebt, vermutlich selbst keine Moral hat.
Der Doppelmoral-Vorwurf ist beliebt. Er hat einen Vorteil: die Massenwirksamkeit. Jeder versteht auf Anhieb, dass Politiker doppelmoralisch handeln, wenn sie aus Klimagründen Kurzstreckenflüge einschränken wollen, aber selbst auf kurzer Strecke mit dem Jet nach Davos zum Weltwirtschaftsforum fliegen. Wasser predigen und Wein trinken – dieser Widerspruch kitzelt das Gerechtigkeitsempfinden bei jedermann wach.
Der Vorwurf der Doppelmoral hat aber einen Nachteil. Und dieser Nachteil ist so schwerwiegend, dass er jeden Vorteil aufwiegt. Er leuchtet aber nicht unmittelbar ein. Deshalb muss man etwas ausholen, um ihn zu Bewusstsein zu bringen. Kurz gefasst lautet jener Nachteil: Wer den Vorwurf der Doppelmoral erhebt, stärkt damit die Moral, deren Verletzung er anprangert. Und das ist die gegnerische Moral.
Der Vorwurf der Doppelmoral stärkt die Moral des Gegners
Nehmen wir das Beispiel der Klimaflieger: Politiker fliegen mit dem Jet nach Davos. Oder Klimakleber der „Letzten Generation“ fliegen nach Thailand in Urlaub. Damit verstoßen sie gegen ihre eigene Moral, denn diese Moral lautet im Kern: Wir müssen das Klima retten, um nachfolgenden Generationen das Leben auf der Erde zu ermöglichen. CO2-Ausstoß zerstört das Klima. Flüge stoßen viel CO2 aus und müssen daher verboten werden.
Ganz anders die Moral desjenigen, der die Klimaflieger kritisiert. Er sagt nämlich anfangs: Die Welt wird nicht durch menschengemachten Klimawandel bedroht, sondern durch Massenmigration, mutwillige Transformation globalistischer Eliten usw. Flugreisen sollen in Wahrheit nur verboten werden, damit die Freiheit und die Mobilität des Normalbürgers eingeschränkt wird. Um die Freiheit zu verteidigen, greift der Kritiker die Klimaflieger an.
Für diesen Angriff ist der Vorwurf der Doppelmoral aber denkbar ungeeignet. Was denkt der Normalbürger, wenn er diesem Vorwurf zustimmt? Er denkt: Die Grünen halten sich gar nicht an ihre eigenen Regeln. Sie unternehmen klimaschädigende Flüge, die sie uns verbieten wollen. Die Annahme, dass Flüge das Klima schädigen, wird so bestärkt. Die Gegenannahme, dass Flüge das Klima nicht schädigen, wird überhaupt nicht mit vermittelt.
Der Vorwurf der Doppelmoral stärkt die Moral des Gegners. Wenn die Grünen aufhören, zu fliegen oder den Dienstdiesel zu benutzen, sei die Welt wieder in Ordnung – so die unterschwellige Botschaft. Nicht die Grundannahme vom menschengemachten Klimawandel wird in Frage gestellt, sondern nur das Verhalten des Gegners. So argumentiert der Kritiker der Grünen vom grünen Standpunkt aus, ohne seinen eigenen Standpunkt zu vermitteln.
Dieses Problem wäre zu verschmerzen, wenn vom Doppelmoral-Vorwurf ein schneller Weg zur eigenen Moral führen würde: „Dass sich die Klimaflieger nicht an ihre eigenen Regeln halten, das zeigt doch, dass sie ihre eigenen Annahmen selbst nicht glauben. Und diese Annahmen sind auch falsch, weil …“ Leider ist diese argumentative Figur schwer zu handhaben und kaum vorzufinden. Im Ergebnis ist der Nutznießer die grüne Moral.
Der Heuchelei-Vorwurf ist immer heuchlerisch
Der Vorwurf der Doppelmoral ist das billigste Mittel politischer Argumentation. Wer ihn erhebt, hat vermutlich selbst keine Moral. Er wirft dem Gegner nicht die falsche Moral vor, sondern nur den Verstoß dagegen. Ähnlich der verwandte Vorwurf der Heuchelei. Wer seinem Gegner Heuchelei vorwirft, der tut so, als nähme er den Standpunkt des Gegners ein, um von dort die Abweichung festzustellen. So heuchelt er eine Haltung, die er gar nicht hat.
Der Heuchelei-Vorwurf ist immer heuchlerisch. Als politisches Mittel lässt er sich höchstens vorsichtig, schnell und mit argumentativer Exit-Strategie erheben. Tatsächlich geschieht fast immer das Gegenteil. Der Erheber des Vorwurfs freut sich über die Reichweite seiner Facebook-Kachel, über den Applaus für seine Rede. Deshalb wiederholt er den Vorwurf immer wieder. Das Publikum bestaunt das einfache Erfolgsrezept und greift den Vorwurf auf.
Auf tausend Kacheln prangen klimafeindliche Heuchelflieger und werden zehntausendfach geliked. Je öfter das Argument durchgespielt wird, desto manifester wird die grüne Moral. Jedes Mal vergessen Vorwurf-Erheber und Publikum ein Stück mehr ihre anfängliche Kritik am Narrativ vom menschengemachten Klimawandel. Bis man sich einig wird: Wir dürfen die Klimaagenda nicht in Frage stellen, weil zu viele Wähler daran glauben. Game over.
Heuchelei ist eine Falle. Wer sie anprangert, steckt schon drin. Man muss die gegnerische Moral angreifen, sie als falsche Moral, als Unmoral darstellen. Man muss die eigene Moral anpreisen, sie als richtige Moral darstellen. Auf die geltende Moral kommt es an, nicht auf das Verhalten. Dass von dieser Moral abgewichen wird, dass Menschen doppelmoralisch handeln, kommt überall vor und ist kein Merkmal der Grünen oder Linken.
Moral und Strategie
Der Vorwurf der Heuchelei und Doppelmoral ist ein Hirnfresser. Wenn er sich erst einmal eingenistet hat, frisst er sich durch alle Windungen. Er hat den „Populismus“ gedanklich ausgehöhlt. Gegen den politischen Gegner sollte der Vorwurf deshalb grundsätzlich nicht erhoben werden. Weil er die Ausgangsmoral des Kritisierten stärkt und die Zielmoral schwächt, sollte er überhaupt nur innerhalb des eigenen Lagers erhoben werden. Sonst nicht.
Macht ein Konservativer Katar zum Vorwurf, dass es die Regenbogenbinde verbannt? Dann darf man ihm Doppelmoral oder Heuchelei vorwerfen, um die Moral im eigenen Lager zu stärken: „Wie, du kritisierst Katar für eine einwandfreie Handlung? In Deutschland bist du gegen die Regenbogenagenda, aber jetzt streitest du für ihre Durchsetzung im Ausland? Das ist heuchlerisch. Lass es sein und bekenne dich zu unserer Moral!“
Applaus und Reichweite sind nicht alles. Es kommt darauf an, von der Dynamik der Argumente zum Ziel getragen zu werden. Dazu braucht es Moral und Strategie. Wasser zu predigen und Wein zu saufen ist zwar schlimm. Aber Wein zu predigen und Wasser zu saufen, ist noch viel schlimmer. Und dumm obendrein.
Zur Person:
Dimitrios Kisoudis, geboren 1981, ist Publizist und parlamentarischer Berater. Neben seiner beruflichen Tätigkeit erforscht er den deutschen Sonderweg.