Meisterstück: Stolperte SPD-Schwergewicht über patriotischen YouTuber?

Gestern nahm mit Johannes Kahrs (SPD) einer der schärfsten Kritiker des patriotischen Lagers den parlamentarischen Hut. Offiziell wegen der Enttäuschung über die Nichtberücksichtigung für das Amt des Wehrbeauftragten.
Julian Schernthaner
Kommentar von
6.5.2020
/
3 Minuten Lesezeit
Meisterstück: Stolperte SPD-Schwergewicht über patriotischen YouTuber?

Screenshot Video: Klemens Kilic via Telegram.

Gestern nahm mit Johannes Kahrs (SPD) einer der schärfsten Kritiker des patriotischen Lagers den parlamentarischen Hut. Offiziell wegen der Enttäuschung über die Nichtberücksichtigung für das Amt des Wehrbeauftragten.

Kommentar von Julian Schernthaner.

Etwas später mussten dann auch etablierte Medien eingestehen, dass es erst kürzlich einige Aufregung um das juristische Staatsexamen des mächtigen Ex-SPD-Abgeordneten gab. Der YouTuber Klemens Kilic – längst für seine Telefonstreichen bei namhaften Politikern bekannt – ging dem Tipp eines Insiders nach angeblichen Ungereimtheiten nach. Dass Kahrs‘ Politkarriere nur zwei Wochen später tatsächlich vorüber sein würde, dürfte er sich aber auch nur in den kühnsten Träumen ausgemalt haben.

Zahlreiche Skandälchen und Affären überstanden

Denn eigentlich ist Kahrs so etwas wie der unmögliche Rücktritt bei den Roten. Die Affäre um die Beschimpfung einer Genossin in den frühen 90ern hinderte seinen Aufstieg ebenso wenig, wie ihn kleine Skandälchen um seine Laufbahn brachten. Er überlebte Vorwürfe bezüglich ominöser Spenden durch eine Bank ebenso wie eine weitere Spendenaffäre in Verbindung mit der Rüstungsindustrie. Auch Schmuddelgeschichten über seine fragwürdigen Social-Media-Aktivitäten ließen ihn kalt.

Nicht einmal sein zwiespältiger Auftritt in der Aufklärung des Kinderporno-Skandals um seinen Parteikollegen Edathy konnte dem Ex-Sprecher des vergleichsweise konservativen „Seeheimer Kreises“ etwas anhaben. Damals hatte er in seiner Vernehmung beachtliche Erinnerungslücken und nannte den in Verruf gefallenen Kollegen einen „feinen Kerl“. Und jetzt ist nach einem kurzen Anruf, einer kleinen Anfrage der winzigen AfD-Fraktion in Hamburg und einem verfehlten Posten alles vorbei.

Dickhäutiger SPD-Mann zieht hastig Reißleine

Gerade vor diesem hartnäckigen Naturell ist es sehr unwahrscheinlich, dass die schmerzliche Niederlage bei der Postenvergabe den alleinigen Ausschlag für seinen Rücktritt gab. Ebenso kurios mutet an, dass der hartgesottene Kahrs einfach einmal über Nacht seinen Twitter-Account mit über 100.000 Einträgen löschen würde, der Politiker lebte quasi dort. Es sieht vielmehr wie das lupenreine Ziehen der Reißleine aus, wie ein letzter aufrechter Ausweg, bevor man als Prügelknabe vor den Scherben seiner Existenz stünde.

Was war es also, das ihm letztendlich den Rückhalt in seiner eigenen Partei kostete? Denn auch der Einwand, dass er für die Union als Koalitionspartner nicht konsensfähig genug für die Position sei, mutet wie eine billige Ausrede an. Mag es auch ein Richtungsstreit sein, der in der SPD schon seit längerem köchelt – die Annahme, dass die Vorwürfe um seine akademische Integrität der letzte Nagel im Sarg waren, ist zumindest nicht weltfremd.

Kilic landet größten Polit-Coup in jüngeren Jahren

Ist dies der Fall, dann wäre das wahrlich großes, geschichtsträchtiges. Es wäre einem jungen Mann aus dem patriotisch-konservativen Lager mit dem richtigen Riecher in einem einzigen Anruf der größte politische Coup der jüngeren deutschen Vergangenheit gelungen. Denn selbst bei ähnlichen Vorwürfen wie seinerzeit bei Guttenberg war ein großer medialer Druck vonnöten, ehe ein Rücktritt erzwungen wurde. Diesmal ist alles anders – und muss für die etablierte Öffentlichkeit wirklich wie ein Schock vorkommen.

Im Gegensatz zu seinen harmloseren Streichen bei Susanne Hennig-Wellsow oder Ralf Stegner fand der Anruf bei Kahrs im Mainstream zunächst kaum Widerhall. Ob es daran liegt, dass ein Gutteil desselben aus SPD-nahen Blättern besteht, die der vagen Anschuldigung vielleicht keine Sprengkraft geben wollten – das ist eine Mutmaßung, die ich mir nicht erlaube. Fakt ist aber: Fast ausschließlich Medien der patriotischen Gegenöffentlichkeit wie die Tagesstimme berichteten zunächst über Kilic‘ jüngste Aktion.

Vom Gegner vorgeführt – doch was bleibt unentdeckt?

Vielleicht ist dies die größte Ironie der ganzen Geschichte. Denn publik wurden die Vorwürfe erstmals im Kanal des Deutschland-Kuriers, der als betont AfD-nah gilt. Ausgerechnet diese Partei war besonders oft das Ziel von Kahrs‘ „scharfer Zunge“ (O-Ton Hamburger Morgenpost). Am Höhe seiner Ausritte gegen die patriotische Partei sah er ein Verbot der größten – und nach Ansicht mancher einzigen – Oppositionskraft als „zwingend geboten“ – Die Tagesstimme berichtete.

Aber: Dass gerade einer der besten Netzwerker der deutschen Politik, der seine Günstlinge stets um sich zu scharen wusste, über die Findigkeit eines einzigen, eigentlich betriebsfremden Mannes stolpert, ist ebenso sonderbar. Es stellt sich die Frage: Welche weiteren, möglicherweise unrühmlichen Geschichten über das Kahrs-Umfeld bleiben nun für immer ungelüftet? Oder taucht er unter, weil mit dem fallenden Rückhalt weitere ‚Kronzeugen‘ auspacken konnten? Es wird sich weisen.


Weiterlesen: 

Knalleffekt: SPD-Politiker Kahrs legt Bundestagsmandat zurück (5.5.2020)

Kilic’ neuer Streich: Staatsexamen-Täuschungsvorwurf gegen SPD-Kahrs (21.04.2020)

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor
Julian Schernthaner

Julian Schernthaner

Der studierte Sprachwissenschafter wurde 1988 in Innsbruck geboren und lebte sieben Jahre in Großbritannien. Vor kurzem verlegte er seinen Lebensmittelpunkt ins malerische Innviertel, dessen Hügel, Wiesen und Wälder er gerne bewandert.

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