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Alles nach Plan – Eine Erstbewertung des Staatsstreichs in Syrien

Am vergangenen Wochenende hat die syrische Armee plötzlich versagt und Präsident Baschar al-Assad wurde gestürzt. Der AfD-Politiker und Islamwissenschaftler Hans-Thomas Tillschneider analysiert für FREILICH, wie es dazu kommen konnte.

10.12.2024
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8 Minuten Lesezeit
Alles nach Plan – Eine Erstbewertung des Staatsstreichs in Syrien

Am vergangenen Wochenende ging die Ära Assad in Syrien zu Ende.

© IMAGO / Middle East Images

Als der Fall von Aleppo gemeldet wurde, erschien es mir unwirklich. Als Hama in die Hände der Islamisten fiel, erklärte ich es mir damit, dass der Ort schon immer ein Islamistennest war. Als Homs in die Hände der Islamisten fiel, dachte ich mir, dass, solange Damaskus steht, alles in bester Ordnung sei. Die Massenpanik am Flughafen von Damaskus schien nicht mehr als das: eine gemachte Panik, Panikmache eben. Die Spekulationen darüber, ob Baschar al-Assad mit Familie überhaupt noch in Damaskus sei, kamen schon zu den Hochzeiten des Bürgerkriegs immer wieder mal auf. Und immer wieder stellten sie sich als falsch heraus. Baschar al-Assad blieb und hielt sich. Anders als im Fall von Mu‘ammar al-Gaddafi war seine Herrschaft nicht auf Sand gebaut, sondern auf ein traditionsbewusstes Beamtentum und eine in weiten Teilen politisch aufgeklärte Bürgerschaft, die wusste, was sie an ihm hatte. Weshalb sollte ausgerechnet jetzt gelingen, was seit 2011 immer wieder gescheitert ist, nämlich einen bedächtigen Machthaber, der gut regiert und fest im Sattel sitzt, mithilfe von islamistischen Söldnern zu stürzen?

Als ich dann aber am Morgen des zweiten Adventssonntags beim Frühstück sehen musste, wie niemand anderes als der syrische Ministerpräsident in einem Facebook-Video die Flucht des Präsidenten verkündete und erklärte, in Abstimmung mit den Rebellen eine Übergangsregierung führen zu wollen, begriff ich, dass diesmal doch etwas ganz anders war als die Jahre davor. Während ich den ganzen Tag im Hintergrund al-Djazeera laufen ließ, recherchierte ich, was das Netz hergab. Fazit: Das Ganze ist eine vom türkischen Geheimdienst in enger Kooperation mit den USA-Diensten kleinteilig und von langer Hand vorbereitete Aktion, um Syrien dauerhaft aus dem Bündnis mit Russland herauszulösen und dem NATO-Lager einzuverleiben oder – bei Scheitern einer Stabilisierung – durch erneuten Bürgerkrieg und Chaos zumindest die Achse Iran-Syrien-Hizbullah so zu zerbrechen, dass niemand sie wieder aufbaut. Und begonnen hat das Spiel am 7. Oktober 2023.

Menschenleere Militärstützpunkte

Fangen wir mit dem historisch beispiellosen Zusammenbruch jeder Gegenwehr durch die syrische Armee an. Dafür kursieren mehrere Erklärungen. Von der billigen Annahme, die Soldaten hätten dem Präsidenten spontan massenweise ihre Loyalität gekündigt, bis hin zur Begründung, er habe ihren Sold nicht mehr zahlen können, taugen die gängigen Erklärungen wie immer wenig. Einige Male aber berichteten Korrespondenten in den unzähligen und chaotischen Live-Schaltungen, es sei den Rebellen gelungen, die entscheidenden Offiziere der syrischen Armee auszuschalten. Das – und nur das – kann den völlig kampflosen Zerfall dieser Truppe, die keinerlei Gegenwehr versucht hat, erklären.

Menschenleere Militärstützpunkte, kampflos übergebene Kasernen, unbewachte Flugplätze, so gut wie keine Kampfhandlungen, all das zeigt: Hier ist es nicht einmal gelungen, Soldaten zum Kampf zu formieren. Völlig führungslos hat sich die Truppe durch Massendesertation selbst aufgelöst. Angesichts des jahrelangen erfolgreichen Widerstands gegen die Rebellen kann dieser Zusammenbruch der Kampfmoral aber nicht ohne weiteres erfolgt sein. Die Führungsfiguren müssen, wie vereinzelt berichtet wurde, ausgeschaltet worden sein, sei es durch Tötung, sei es durch Korrumpierung. Es war jedenfalls niemand da, der Befehle hätte geben und durchsetzen oder die Truppen in die Gefechtssituation einweisen können oder wollen. Angesichts der völligen Aussichtslosigkeit eines führungslosen Kampfes haben die Soldaten dann das Weite gesucht.

Wie bei einer Gebäudesprengung an den statisch entscheidenden Punkten Präzisionssprengungen angesetzt werden, die alles zum Einsturz bringen, wurde das Führungsgitter der syrischen Armee förmlich gesprengt. Eine solche Ausschaltung dutzender Führungsfiguren über mehrere Hierarchieebenen hinweg aber setzt voraus, dass die Sozialstruktur der syrischen Armee aufgeklärt wurde. Der Feind wusste, welche Offiziere das Rückgrat der Truppe bilden, wo die Schaltstellen liegen, an wem sich die Soldaten orientieren, wer Ansehen und Autorität besitzt. Dergleichen können nur Geheimdienste leisten. Dazu passt dann auch, dass von Schläfer-Zellen im ganzen Land berichtet wurde, die den Rebellen, wo nötig, mit Sabotageakten entgegenarbeiteten.

Der westliche Einfluss auf Syrien

Der türkische Geheimdienst und mit ihm vor allem US-Dienste müssen die syrische Regierung und den gesamten Sicherheitsappart – einschließlich der syrischen Geheimdienste – monatelang, wenn nicht jahrelang mit dem Ziel einer solchen Aktion infiltriert haben. Der Ministerpräsident selbst, der bis gestern noch als Werkzeug des Präsidenten galt, um jetzt verdächtig ungerührt in Damaskus den Fall des Präsidenten verkündete, dürfte in den Plan eingebunden gewesen sein. Anders ist nicht zu erklären, weshalb er nicht schon längst das Weite gesucht hatte, sondern sich von den neuen Machthabern seelenruhig durch Damaskus kutschieren ließ. Interessanterweise ist dieser Mohammad Ghazi al-Djalali, der sich jetzt als Fehlbesetzung herausstellte, erst am 23. September von Baschar al-Assad zum Ministerpräsidenten ernannt worden. Sehr wahrscheinlich ist hier den türkischen und US-amerikanischen Diensten gelungen, jemanden zu platzieren, der im rechten Moment in ihrem Sinne agieren sollte. Das Ganze ist so eher ein Staatsstreich in Kooperation mit fremden Mächten als der Sieg einer Rebellentruppe nach einem militärischen Kräftemessen.

Ebenso halbwahr ist die Erzählung, die USA und ihre Verbündeten hätten die militärischen Kräfte Russlands überdehnt, das sich sodann vor die Entscheidung zwischen Syrien und der Ukraine gestellt sah und sich gegen Syrien entscheiden musste. Zu einer solchen Entscheidung konnte es in der Eile des Gefechts gar nicht kommen. Die Berichte, wonach sowohl der Iran als auch Russland aus Syrien überhaupt keine vernünftigen Anfragen für Militärhilfe erhalten haben, bestätigen, dass der entscheidende Faktor ein Überrumpelungseffekt und eine Lähmung des Apparats von innen war.

Dazu passt dann auch die von BRICS-News auf Telegram verbreite Meldung, Baschar al-Assad habe den USA angeboten, alle Kontakte zur Hizbullah und den iranischen Truppen abzubrechen, wenn die USA im Gegenzug ihren Einfluss geltend machten, um die Islamisten zu stoppen. Ich halte diese Meldung nicht für falsch. Zunächst setzt sie zutreffenderweise voraus, dass die Islamisten maßgeblich von den USA gesteuert werden. Sodann ist sie gut erklärbar als der Impuls eines überrumpelten Machthabers, der merkt, Opfer einer Palastintrige geworden zu sein. Doch noch Anschluss gewinnen! Doch noch dazugehören, um in einem neuen, nicht mehr mit dem Iran verbündeten Syrien eine Rolle spielen zu können! Die USA wiederum hatten keinen Grund, darauf einzugehen. Weshalb sollten sie den schon jahrelang US-loyalen Islamisten Mohammad al-Djulani hintergehen, um Baschar al-Assad an der Macht zu halten?

Die Rolle der Türkei

Al-Djulani mit seiner Hay’at tahrir ash-sham, zu Deutsch etwa: „Organisation für die Befreiung Syriens“, steht schon lange  in den Diensten der USA. Es begann damit, dass er sich gegen den IS einsetzten lies, der, anfänglich von den USA gegen Baschar al-Assad in Stellung gebracht, dann von den USA abgefallen war. Der sunnitische Islamist al-Djulani mit seiner Usama-bin-Laden-Ausstrahlung verkörpert auch habituell geradezu den Idealtyp des sunnitischen Islamisten, mit dem die USA seit dem Zerfall der Sowjetunion auf dem Balkan, in Afghanistan, im Irak und in Syrien Politik zu machen versuchen. Sein neuerdings auffallend moderater Gestus und die Bekenntnisse zu Toleranz, zu Religionsfreiheit und einem Syrien für alle, sind Ausdruck einer von Washington und Istanbul verordneten Agenda, Syrien in ein zweites Jordanien oder eine zweite Türkei zu transformieren: ein stabiler, zwar islamisch geprägter, aber moderater und den politischen Vorstellungen der USA verpflichteter NATO-Partner. Erst Anfang Dezember hat übrigens die NATO ein Verbindungsbüro in Jordanien eröffnet.

Die Hauptrolle bei der Transformation Syriens kommt freilich dem NATO-Land Türkei zu, das umso freudiger mittut, als sich ihm die Perspektive einer Restauration osmanischer Herrschaft über Syrien eröffnet. Sollte der Plan nicht aufgehen, weil die Zähmung der Islamisten missglückt und am Ende deren tiefe Feindschaft gegen die USA überhand nimmt oder weil Netzwerke des alten Herrschaftsapparats sich nach der ersten Überrumpelung formieren und Gegenwehr leisten oder weil ein Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Konfessionen und Völkerschaften ausbricht, so wäre Syrien zumindest auf Jahre neutralisiert und die Achse Hizbullah-Syrien-Iran zerbrochen. Auch eine Teilung Syriens in mehrere Kleinstaaten käme dem Interesse der USA und der Türkei entgegen.

Die internationalen Reaktionen

Die Worte von Donald Trump, sich aus Syrien herauszuhalten, sind jedenfalls so zu verstehen, dass die USA sich nur vordergründig heraushalten, hintergründig aber natürlich im Spiel bleiben. Schon allein der Umstand, dass die Existenz von US-Militärbasen auf syrischem Gebiet und erste Angriffe auf IS-Stützpunkte im Osten offiziell zugegeben wurden, zeigt, was von Donald Trumps Verlautbarungen zu halten ist. Es sind Botschaften für das Internet, billige kacheltaugliche Propaganda, um bei den unbedarften Trump-Freunden unter Europas Rechten den Mythos vom neutralen und friedliebenden Trump aufrecht zu erhalten.

Ebenso sollte man sich nicht von einer lauten Minderheit täuschen lassen, die Anlass zum Jubel zu haben glaubt und sich jetzt auf den Plätzen der syrischen Städte versammelt. Viel mehr Syrer dürften paralysiert zu Hause bleiben. Alle Polizisten, alle Lehrer, alle Mitglieder und Anhänger der Ba‘th-Partei, überhaupt alle politischen Funktionsträger und alle Beamten dort, wo der Staat gut funktioniert hat, alle Christen, alle Alawiten, alle Drusen und alle, die nicht dem sunnitischen Islam der Islamisten anhängen, überhaupt alle – und es sind viele –, die keinen Grund hatten, mit Baschar al-Assad unzufrieden zu sein. Und von den simplen Gemütern, die jetzt, geblendet von törichtem Jubel, oder eher, um sich bei den neuen Herren vorsorglich lieb Kind zu machen, auf die Plätze eilen, werden viele das in nicht allzu ferner Zukunft bitter bereuen und sich die Zeit unter Baschar al-Assad zurückwünschen. Es wird ihnen genauso ergehen wie den Irakern, die erfahren mussten, dass, nachdem sie die letzten Saddam-Hussein-Statuen zertrümmert hatten, ihr Leben unter Saddam Hussein besser war als alles, was danach kam. 

Die Zukunft Syriens

Der Sturz Baschar al-Assads ist nichts anders als ein weiterer Schritt in der großen Neuordnung des Nahen Ostens, die am 7. Oktober 2023 mit dem irrational erscheinenden Selbstmordangriff der Hamas auf Israel begonnen hat. Der Iran und die Hizbullah waren zunächst bemüht, sich nicht in diesen Konflikt hineinziehen zu lassen. Der Angriff der Hamas aber hat ein allgemeines Kriegsklima geschaffen, das es ermöglichte, auch den Konflikt mit der Hizbullah zu eskalieren, obwohl man sich dort der Hamas ausdrücklich nicht angeschlossen hat. Israel hat auf die scheinbar wahnwitzige, selbstdestruktive Aktion der Hamas mit völlig überzogenen Vergeltungsmaßnahmen unter Inkaufnahme so vieler ziviler Opfer reagiert, dass die Hizbullah sich den allgemein palästinensisch-islamischen Solidaritätserwartungen irgendwann nicht mehr entziehen konnte.

Ihre zunächst sparsamen Angriffe auf Nordisrael boten dann den Anlass, auch im Norden zu eskalieren, was schließlich in der Enthauptung der Hizbullah durch die Liquidierung ihres charismatischen Anführers Hasan Nasrallah und der Zerstörung ihrer Infrastruktur gipfelte. Die Hizbullah war danach so sehr zurückgeworfen, dass man sich einen Waffenstillstand mit ihr erlauben konnte. Und als wäre sein Abschluss der Startschuss für den Sturz des syrischen Präsidenten, begann just am 27.11. mit Inkrafttreten des Waffenstillstands zwischen Israel und der Hizbullah die Offensive der Rebellen von Nordsyrien aus mit türkischer Unterstützung. Allein diese Koinzidenz verdeutlicht schon, dass es sich um ineinandergreifende Schritte eines großen Plans handelt, die Achse Iran-Syrien-Libanon zu zerschlagen. Seiner Verbündeten und Pufferstaaten beraubt, wäre der nächste Schritt in dieser Logik ein Schlag direkt gegen den Iran. Wir dürfen gespannt sein, ob es ein militärischer Angriff oder die Inszenierung einer Farbenrevolution wird oder ob man sich etwas anderes einfallen lässt. Sicher ist nur, dass der Nahe Osten nicht zur Ruhe kommt und die Bevölkerungen leiden werden, während die USA und ihre Verbündeten glauben, so ihren universalen Herrschaftsanspruch zu stärken.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor

Hans-Thomas Tillschneider

Dr. Hans-Thomas Tillschneider ist Islamwissenschaftler und sitzt seit 2016 für die AfD im Landtag Sachsen-Anhalt. Dort ist er der kulturpolitische Sprecher der AfD-Fraktion. Seit 2020 ist er außerdem stellvertretender Landesvorsitzender.

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