Die multipolare Wirklichkeit
Zbigniew Brzeziński war einer der prominentesten Theoretiker der Geopolitik. Sein 1997 erschienenes Buch ,,The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives’’ gilt als eines der wichtigsten seiner Disziplin. In dem Buch analysierte er die geopolitischen Zusammenhänge seiner Zeit und leitete daraus ab, was die USA tun müssten, um ,,einzige Weltmacht’’ zu bleiben. Seine Analysen von damals besitzen bis heute Relevanz. Und auch wenn sie einem nicht gefallen mögen, so lässt sich die Scharfsinnigkeit der ihnen zugrunde liegenden Gedanken kaum leugnen.
In Bezug auf China hat sich Brzeziński aber geirrt. So schrieb er, dass die chinesische Politik langsam damit beginnen müsse, sich ,,an die sozialen Erfordernisse der chinesischen Volkswirtschaft anzupassen’’, andernfalls ,,werden diese beiden Seiten der Wirklichkeit irgendwann frontal aufeinanderprallen’’. Eine Demokratisierung Chinas sei auf Dauer unumgänglich, es sei denn, Peking wolle den Weg der Abschottung nach nordkoreanischem Vorbild gehen.
Interessen gegen Werte
Für viele westliche Werteuniversalisten ist es bis heute unvorstellbar, dass hohes Wirtschaftswachstum und ein politisches System, das auf Autorität aufbaut und das nicht der Vorstellung einer liberalen Demokratie nach westlichem Vorbild entspricht, auch auf lange Sicht kein Widerspruch sein müssen. Die nach dem Zusammenbruch der UdSSR von Francis Fukuyama vertretene und später revidierte These, dass sich bald liberale Prinzipien wie Demokratie und Individualismus endgültig und universal durchsetzen würden, trat so nicht ein. Erst recht nicht in China.
Das liegt daran, dass die Chinesen die Gesellschaft völlig anders sehen als der Westen, wie der britische Außenpolitikexperte Tim Marshall zutreffend beschreibt: ,,Die westliche Denkweise kreist um die Rechte des Einzelnen, die chinesische stellt die Gemeinschaft über das Individuum. Was der Westen als Menschenrechte betrachtet, ist für die chinesische Führung eine gefährliche Theorie, die die Mehrheit bedroht, und die Bevölkerung akzeptiert, dass – mindestens die erweiterte Familie vor dem Individuum kommt.’’ Womöglich erklärt sich daraus auch die Faszination der Chinesen für Carl „Wer Menschheit sagt, will betrügen“ Schmitt.
Wohlstand für Gehorsam
Der Deal zwischen der Führung der Kommunistischen Partei Chinas und dem chinesischen Volk lautet: Wohlstand gegen Gehorsam! Dass in westlichen Gesellschaften ein solcher Deal kaum zustande kommen könnte, heißt nicht, dass es anderswo auch so sein muss. Um ihrem Wohlstandsversprechen nachzukommen, richtet die Führung der Kommunistischen Partei Chinas ihre Außen- und Handelspolitik nicht wertebasiert, sondern interessengeleitet aus: Es wird getan, was dem nationalen Interesse und dem Wohlstand der Bürger dient, wobei auf einen Gesinnungs-Check ausländischer Handelspartner verzichtet wird.
Die USA hingegen agieren anders. Ihr werteimperialistischer Ansatz und ihre Ambition, die ,,einzige Weltmacht’’ zu bleiben, verleiten sie dazu, auf dem alles entscheidenden eurasischen Schachbrett der Geopolitik diejenigen Kräfte zu unterstützen, die ihre Werte adaptiert haben und im Verbund mit ihnen dafür zu sorgen, dass keine anderen Großmächte entstehen, die Zweifel an der unipolaren Weltordnung anmelden könnten. Eine dieser Kräfte ist Taiwan. Song Yimin, ehemaliger Analytiker im chinesischen Außenministerium, hat das so zusammengefasst: ,,Das strategische Ziel der USA besteht darin, ihre Hegemonie auf die ganze Welt auszudehnen, und sie können nicht hinnehmen, dass in Europa oder Asien eine Großmacht entsteht, die einmal ihre Führungsposition bedroht.’’
Eine weitere Weltmacht verhindern
China schickt sich an, genau das zu tun. Das ist den USA nicht geheuer. Taiwan, mit dem sich die USA solidarisieren, das China aber früher oder später gerne annektieren würde, ist hierbei ein Streitpunkt und bietet zudem für beide Seiten die Möglichkeit zur Eskalation. Wer hat ein Interesse an einer solchen? Eher die USA, denn langfristig ist China in der Region überlegen, steht aber unter Erfolgsdruck.
In einem Waffengang sehen die USA ihre Chancen aktuell noch im Vorteil, langfristig aber schwinden, da China von Tag zu Tag immer weiter aufholt. Es geht in diesem Spiel auch um Zeit, die nicht zugunsten der USA tickt.
Also setzt Washington nun mit dem provokativen Besuch von der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi in Taiwans Hauptstadt Taipeh, also quasi dem Vorhof Chinas, Peking unter Druck, um es entweder zum Rückzug zu bewegen – was einer Schwächung im Inneren und Äußeren gleichkäme -, oder zur offenen Schlacht zu zwingen. Begründet wird dieses Vorgehen von amerikanischer Seite wie üblich: „Wir machen diese Reise in einer Zeit, in der die Welt vor der Wahl zwischen Autokratie und Demokratie steht“, so Pelosi. In einer unipolaren Weltordnung sollen also Regionalmächte nirgendwo vor ihrer Haustür intervenieren dürfen, raumfremde Amerikaner aber überall, wegen Demokratie, Menschenrechten und so. Dass das einigen Regionalmächten, allen voran China, nicht gefällt, dürfte klar sein. Selbst Brzeziński hat bereits in den 1990er Jahren das aus amerikanischer Sicht „gefährlichste Szenario“ eines antihegemonialen Blocks unter chinesischer Führung kommen sehen. Um es abzuwenden, müsse man „geostrategisches Geschick beweisen“. Das misslingt offenkundig.
Eine andere Weltordnung
Und Deutschland? Anstatt zu deeskalieren, gießt Außenministerin Annalena Baerbock durch einseitige Stellungnahmen und Unterstützungsbekundungen zugunsten Taiwans unnötig Öl ins Feuer, ohne dabei die legitimen Sicherheitsinteressen Pekings zu respektieren, wie AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla richtig angemerkt hat: Das sei „brandgefährlich“.
Und nein, man muss eben kein Bewunderer des chinesischen Gesellschaftsmodells sein, um ein einseitig protaiwanesisches Engagement Deutschlands in einem Konflikt, der nicht unserer ist, zu kritisieren. Es ist ein im Westen häufig begangener Fehler, die Platzierungen geopolitischer Akteure in Menschenrechtsrankings oder Demokratie-Indizes zur Grundlage der eigenen Positionierung ihnen gegenüber zu machen, anstatt die eigenen Interessen. Die innerchinesischen Zustände können einem missfallen. Und sie sind in vielerlei Hinsicht für uns nicht nachahmenswert. Man sollte sie nicht im positiven Sinne verklären oder bagatellisieren. Aber solange Peking uns seine Werte nicht aufzwingt, sind diese bei einer Bewertung geopolitischer Sachverhalte, die unsere eigenen Interessen in den Vordergrund rückt, nachrangig.
China ist nun mal eine Regionalmacht, die in einer Welt, die langsam aber sicher Abschied von der Unipolarität nimmt, immer stärker wird. Wir sollten es uns mit ihr nicht verscherzen. Und die USA sollten akzeptieren, dass die multipolare Weltordnung Wirklichkeit wird – „einzige Weltmacht“, das war einmal.
Zur Person:
Tomasz M. Froelich, Jahrgang 1988, ist gebürtiger Hamburger und arbeitet bei der ID-Fraktion im EU-Parlament. Der studierte Ökonom und Politologe ist zudem seit 2019 stellvertretender JA-Bundesvorsitzender.
Twitter: https://twitter.com/TomaszFroelich
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