Geopolitische Zeitenwende: Von der Taurus-Lieferung ins Kriegsgebiet zur nationalen Atombombe
Macron und Scholz tragen ihre Differenzen angesichts der Ukrainekrise offen aus. Der deutsche Kanzler ließ durchsickern, dass die Briten aktiv an Kriegshandlungen in der Ukraine beteiligt seien. Der Kanzler will Moskau nicht weiter provozieren, aber in der Russlandstrategie der US-Linie folgen. Der Politikwissenschaftler Seyed Alireza Mousavi analysiert die Lage in Europa.
Die Ukraine musste nach der gescheiterten Gegenoffensive im Sommer nun einen neuen strategischen Geländeverlust erleiden. Kiew zog kürzlich seine Truppen aus dem lang umkämpften Ort Awdijiwka zurück. Zugleich bröckelt die Unterstützung des Westens für die Ukraine: Die USA blockieren weiterhin die Hilfe für die Ukraine, während der gesamte Westen der Ukraine derzeit weniger Artilleriemunition liefert, als Moskau allein aus Nordkorea bezieht. Die missliche Lage auf dem Schlachtfeld in der Ukraine hat die Akteure in Europa jetzt veranlasst, die Sicherheitsarchitektur in Europa neu zu überdenken. Vor allem ist von einer empfindlichen Schwächung der russischen Armee nicht mehr die Rede. Das Land hat auf Kriegswirtschaft umgestellt und beweist seit zwei Jahren seine Kriegstüchtigkeit. Vor diesem Hintergrund spekulierte der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf der jüngsten Sicherheitskonferenz in München, dass in vier oder fünf Jahren Russlands Militär in der Lage sein werde, die NATO-Staaten anzugreifen. Europa will deswegen inzwischen massiv aufrüsten.
Neue Sicherheitsarchitektur für Europa
Die neue Debatte über die Sicherheitsarchitektur in Europa ist vor allem von den anstehenden Wahlen in den USA und einer möglichen Rückkehr Trumps in das Weiße Haus überschattet. Trump konnte sogar vor seiner Bestätigung als Kandidat die Republikaner im US-Kongress dazu bewegen, die Hilfe für die Ukraine zu blockieren. Der ehemalige US-Präsident erklärte kürzlich im US-Wahlkampf, er werde säumige NATO-Mitglieder nicht vor Russland schützen, sondern Putin „sogar ermutigen“.
Trump ist ein Symptom für eine allmähliche Abwendung der USA von Europa, die auch ein Präsident Biden in seiner zweiten Amtszeit nicht aufhalten könnte. Die westlichen Meinungsmacher verdrehen aber diese Tatsache und argumentieren, dass die Europäer massiv aufrüsten müssten, um damit das Gleichgewicht des Schreckens in Europa wiederherstellen zu können, das von Trump so gestört werde, wie es der Kreml nie zu hoffen gewagt hätte. Anders formuliert: Den Transatlantikern geht es tatsächlich nicht um die europäische Souveränität, sondern um das Feindbild Russland.
Die Ukraine-Strategie und der Streit zwischen Scholz und Macron
Mittlerweile wurden in Europa schon erste Risse über die Ukraine-Strategie offengelegt. Der deutsche Bundeskanzler Scholz und Frankreichs Präsident Macron haben kürzlich ihre Differenzen bei Sicherheitsfragen offen ausgetragen. Die Bundesregierung hat sich bisher gerweigert, den Taurus-Marschflugkörper mit der Fähigkeit, die Krim-Brücke und logistische Zentren auf der Krim zu treffen, an Kiew zu liefern. Letzte Woche legte Kanzler Scholz in Berlin erstmals öffentlich dar, warum er Kiew die erbetenen weitreichenden Taurus-Marschflugkörper vorenthält. Wenige Stunden später ließ der Franzose Macron in Paris mit einer provokanten Bemerkung zum Abschluss einer Ukrainekonferenz aufhorchen, er schließe die Entsendung westlicher Bodentruppen in die Ukraine nicht aus.
Macron hat auf dieser Konferenz Deutschland wegen des Zögerns bei der Taurus-Lieferung kritisiert. Der französische Präsident will Russland auf andere Weise entgegentreten, und zwar mit der Androhung einer Eskalation. Dass Putin sich von Macrons Säbelrasseln beeindrucken lässt, ist kaum zu erwarten. Scholz will seinerseits zurecht den Eindruck vermeiden, Deutschland wäre Kriegspartei. Die jüngsten Aussagen von Bundeskanzler Scholz zur Zielsteuerung von Marschflugkörpern in der Ukraine durch Großbritannien und Frankreich stießen auch bereits bei den Briten auf scharfe Kritik.
Atomare Aufrüstung in Europa
Obwohl es ohne den Rückhalt der USA weder Frankreich noch Deutschland wagen könnte, gegen das militärisch vielfach überlegene Russland einen Krieg zu führen, wurde über Nacht eine weitere Debatte entfacht, die viele Jahrzehnte lang weitgehend tabu gewesen ist – nämlich die über einen europäischen nuklearen Schutzschirm. Diese Frage wird lauter, weil eine zweite Amtszeit Donald Trumps möglich erscheint. Sollte vom kommenden Januar an Trump im Weißen Haus regieren, erwarten manche in Europa, dass er nicht nur die Beistandsverpflichtung der NATO aushöhlt, sondern Nuklearwaffen aus Europa abzieht.
Inzwischen wird in deutschen Sicherheitskreisen damit gerechnet, dass der Kreml im Falle eines Sieges in der Ukraine sofort zum nächsten Schlag ausholen könnte, womöglich aufs Baltikum, um den Moment westlicher „Unentschlossenheit“ zu nutzen. Die Lösung liegt für das Establishment auf der Hand: eine nationale Atombombe oder ein EU-Atom-Schutzschirm. Es wird über einen europäischen atomaren Schutzschirm diskutiert, indem Frankreich an die Stelle der USA treten könnte. Einige deutsche Kommentatoren schlagen in den Medien auch vor, Deutschland sollte gar eine eigene Bombe bauen. Um rasch handlungsfähig zu werden, schlagen auch Sicherheitsexperten den Erwerb von etwa 1.000 zurzeit eingemotteten strategischen Nuklearwaffen aus den USA vor. Im Kanzleramt wird die nukleare Eigenständigkeit zwar nicht mehr als absurd betrachtet, aber öffentlich spricht der Bundeskanzler von einer „fahrlässigen“ Diskussion.
Das öffentliche Reden über eine eigene Nuklearoption offenbart an sich die Schwachstelle im NATO-Bündnis. Denn über eine verstärkte nukleare Zusammenarbeit zu beraten, um die „Zuverlässigkeit“ der USA anzuzweifeln, würde in Washington ausgerechnet jenen Argumente an die Hand geben, die die NATO überdenken wollten. Auf der jüngsten Münchner Sicherheitskonferenz soll auch diese Idee auf Irritationen vonseiten der USA gestoßen sein.
Eine Atombombe für Europa?
Der Aufschrei wegen einer atomaren Aufrüstung in Deutschland als ein Land, das schon mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie fremdelt, macht deutlich, dass Berlin derzeit von geopolitischen Entwicklungen überrumpelt worden ist. Die Debatte in den Medien zeugt auch davon, dass die politische Klasse in Deutschland sich des Vasallenstatus der BRD auf der geopolitischen Ebene noch nicht bewusst ist. Dabei ist anzumerken, dass die völkerrechtlichen Verpflichtungen, die Deutschland zum Beispiel mit dem nuklearen Nichtverbreitungsvertrag im Jahr 1975 eingegangen ist, ohnehin als Hürde für den Erwerb einer Atombombe gelten. Und dazu kommt, weder unter Biden noch unter Trump ist es realistisch, dass die USA einem Verkauf von strategischen Nuklearwaffen an Deutschland zustimmen.
Was die EU-Bombe betrifft, so ist zu fragen, wer den Einsatz einer Atombombe befehlen soll? In Berlin ist das Misstrauen zu Recht groß. Sowohl im Kanzleramt als auch auf den Oppositionsbänken wird ein „gaullistischer“ Versuch der Franzosen gewittert, sich auf Kosten Deutschlands zur Führungsmacht Europas aufzuschwingen. Mit der Vergrößerung des Atomarsenals in Europa wird zudem das Problem der Größenordnung nicht aufgelöst. Ein ausgeweitetes Atomarsenal in Europa wäre nämlich nicht in der Lage, ein strategisches Gegengewicht zu Russland zu bilden. Selbst wenn die britischen Atomsprengköpfe dazugerechnet werden, verfügt Moskau über etwa die zehnfache Menge. Zudem fehlt in Europa im Gegensatz zu den USA und Russland die „strategische Tiefe“ für eine angriffssichere Stationierung der Atombombe, da der Kontinent klein und dicht besiedelt ist.
Abschreckungsfähigkeiten und neues Konzept in der Außenpolitik
Dabei ist allerdings nicht zu unterschlagen, dass die europäischen Kontinentalmächte Deutschland und Frankreich in der Außen- und Europapolitik stärker an einem Strang ziehen und ihre strategischen Ziele angesichts der geopolitischen Zeitenwende angleichen und vor allem deren Beziehungen zwischen Osten und Westen neu justieren sollten. Denn Europa läuft derzeit Gefahr, zu einem neuen Krisenherd zu werden. Mittlerweile entsteht schon seit dem Ukrainekrieg ein neues Afghanistan an der Grenze zu Mitteleuropa, wo Waffenschmuggel und Kriegszustand herrscht. Während die USA Europa als ihre Trumpfkarte gegen Russland beim Ukrainekrieg genutzt hat, sieht Russland sich derzeit genug motiviert, seine Offensive in der Ukraine weiter fortzusetzen – und davon zeugt das neue Interview von Russlands Ex-Präsidenten mit russischen Journalisten, in dem er Odessa und Kiew als eindeutig russische Städte bezeichnete.
Europas strategischer Stellenwert hat für die USA abgenommen, weil nicht Russland, sondern China der weltpolitische Rivale der US-Amerikaner ist. Washington hat es bereits geschafft, durch den Ukrainekrieg die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau dauerhaft schwer zu belasten und Europa mehr als vorher von den USA abhängig zu machen. Deutschland und Frankreich sollten an einem Balanceakt bei ihren Beziehungen zwischen den USA und Russland/China arbeiten. Massive Aufrüstung, flankiert mit der blinden Unterstützung der US-Ambitionen, bringt Europa in eine größere existenzielle Gefahr. In Deutschland hat Scholz ausgerechnet von der AfD bei seiner Linie zur Ablehnung der Taurus-Lieferung an die Ukraine Unterstützung bekommen, während die Kriegstreiber in CDU, FDP und bei den Grünen seit Wochen Druck auf den Kanzler ausüben. Ein von Russen abgehörtes und mittlerweile an die Öffentlichkeit durchgesickertes internes Gespräch von Bundeswehroffizieren über mögliche Angriffspläne auf die Krim-Brücke durch Taurus zeigt, wie ernst die Gefahr einer neuen Eskalationsstufe zwischen Berlin und Moskau ist. Vor diesem Hintergrund ist es nötig, dass Kontinentaleuropa genau so sehr seine Abschreckungsfähigkeiten im Militärbereich erhöht, wie es ein neues Konzept zur Ausbalancierung seiner Beziehungen zwischen dem Atlantik und dem Osten entwickelt. Davon ist Scholz aber weit entfernt; er will Moskau nicht mehr provozieren, aber weiterhin an der US-Linie bei der Russland-Strategie festhalten.
Zur Person:
Dr. Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler, Carl-Schmitt-Exeget und freier Journalist, spezialisiert auf Geopolitik und lebt in Berlin.