Nachruf auf Henry Kissinger: Ein geschickter Geostratege der amerikanisch-chinesischen Beziehungen
Kissingers Geheimreise nach China im Jahr 1971 hatte zum Ziel, die Beziehungen zwischen China und den USA zu normalisieren und einen Keil zwischen Peking und die Sowjetunion zu treiben. Im Juli dieses Jahres reiste der am Mittwoch verstorbene Kissinger erneut nach China – diesmal jedoch aus einer Fehleinschätzung der geopolitischen Lage heraus. Ein Nachruf von Dr. Seyed Alireza Mousavi.
Die Welt war in den 70er Jahren in feindliche Machtblöcke aufgeteilt. Der Kalte Krieg zwischen dem kapitalistischen und dem kommunistischen Lager prägte die internationale Politik. Antikommunistische Hardliner, zu denen früher auch US-Präsident Richard Nixon gezählt hatte, hielten „Rotchina“ sogar noch für schlimmer als die Sowjetunion, die immerhin als berechenbar galt. In Washington konnte Henry Kissinger das große Machtspiel, über das er in Harvard geforscht hatte, selbst betreiben. Und das tat er nach dem Wahlsieg Nixons als nationaler Sicherheitsberater. Die USA und die meisten westlichen Länder erkannten damals die Führung in Peking nicht als rechtmäßige Vertreterin des chinesischen Volkes an. Diplomatische Beziehungen unterhielten sie nur mit der nationalchinesischen Regierung auf der Insel Taiwan.
Kissingers Geheimreise nach China im Juli 1971 hatte zum einen den Zweck, die Beziehungen zwischen China und den USA wieder zu normalisieren und zum anderen einen Keil zwischen Peking und die Sowjetunion zu treiben. Seine Mission machte ihn in den USA zum Star. Noch stärker war das Echo, als Nixon im Februar 1972 in Peking eintraf und die Bilder des Präsidenten auf der Chinesischen Mauer um die Welt gingen. Die Öffnung nach China war ein herber Rückschlag für die Sowjetunion. Die überrumpelte Sowjetunion gab nach der Annäherung zwischen China und den USA auch bald ihren Widerstand gegen ein Abrüstungsabkommen mit den USA auf. Zu den Verlierern zählte auch Taiwan, das seinen Platz in der UNO und sein privilegiertes Verhältnis zu den USA verlor. Es dauerte allerdings noch bis 1979, bis die USA volle diplomatische Beziehungen mit China aufnahmen und zugleich ihr Militärbündnis mit Taiwan aufkündigten.
Ein Star auf der diplomatischen Bühne
Die Reise vor 52 Jahren nach China zeugte von einer ausgeklügelten US-Diplomatie unter Führung Kissingers, was im Grunde die dominierende Rolle der USA in der Weltpolitik in den nächsten Jahrzehnten zementierte.
Im Juli dieses Jahres reiste der ehemalige Außenminister Kissinger nach China, um sich mit Chinas Präsidenten Xi Jinping zu treffen. Dabei spielte auch bei seinen chinesischen Gastgebern etwas Nostalgie mit. Denn untergebracht war Kissinger im Staatsgästehaus Diaoyutai in Peking, am selben Ort, an dem Kissinger vor über 52 Jahren den damaligen Premierminister der Volksrepublik China Zhou Enlai getroffen hatte. Was also hatte den hundertjährigen Kissinger nochmals zu einem privaten Besuch in Peking getrieben? Um sich dieser Frage anzunähern, soll man sich zuerst daran erinnern, dass Kissinger nie ein idealistischer Tagträumer war, sondern ein knallharter Realist, der stets den strategischen Vorteil der USA zum Erhalt ihres hegemonialen Status als unersetzliche Supermacht verfolgt hat. Zugleich versuchte Kissinger in Anlehnung an Gleichgewichtsstrategen vergangener Jahrhunderte stets die Kräfte auszubalancieren, wie er es im Dreieck Sowjetunion, China, USA zugunsten Washingtons getan hatte.
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Wenn früher aus US-Sicht die Sowjetunion der Hauptgegner der USA war, so ist das inzwischen China. Die Handels- und Technologiekonflikte zwischen den USA und China eskalieren zunehmend, wobei die USA über den Staatenbund AUKUS regionale Verbündete gegen China zusammentrommeln. Im Rahmen des 2021 geschlossenen AUKUS-Sicherheitspakts mit den USA und Großbritannien sicherte sich Australien Zugang zu nukleargetriebenen Unterseebooten. Großbritannien und die USA haben aber längst zunehmendes Interesse daran gezeigt, die nordostasiatischen Mächte Japan und Südkorea in AUKUS aufzunehmen. China hat sich in letzter Zeit in einer bedrohlichen Lage gesehen. Abgesehen davon, haben antichinesische Hardliner in der politischen Bürokratie der USA immer befürchtet, dass Peking die Fokussierung Washingtons auf den Stellvertreterkrieg der NATO in der Ukraine ausnutzen könnte, um gegen Taiwan vorzugehen.
Ein neuer Feind im Pazifik
Vor diesem Hintergrund wollte vermutlich Kissinger im Sommer nach Absprache mit der US-Regierung privat eingreifen, um Spannungen zwischen den USA und China zu entschärfen. Er genoss in China hohes Ansehen, da auf ihn eine der wichtigsten geopolitischen Wenden in der US-Geschichte, nämlich die Annäherung zwischen China und USA zurückging. Der Besuch in China bewies aber, inwieweit die USA die geopolitische Lage falsch einschätzen. Kissinger hätte zu jenem Zeitpunkt eher Moskau besuchen sollen, weil China und nicht mehr Russland im Gegensatz zu den 70er Jahren in der gegenwärtigen Lage der Hauptherausforderer der US-Machtbasis in der Welt ist. Washington hat noch nicht erkannt, dass es nur dann eine Chance hat, Chinas Machtausbau einzudämmen, wenn das Weiße Haus seine Beziehungen zu der Kremlführung wieder normalisiert. Beim „Ukraine-Projekt“ geht es eigentlich nur darum, Russland an die Leine zu legen, damit die USA sich auf China fokussieren können. Es geschieht derzeit aber das Gegenteil dessen, was die USA erreichen wollten. Denn China und Russland sind seit dem Ukraine-Krieg näher zusammengerückt und haben eine starke Front gegen Washington geschmiedet.
Es bleibt weiterhin unklar, was Kissinger genau in Peking in diesem Sommer erreichen wollte. Vielleicht war es nur Nostalgie, vermischt mit der Sorge um seine wichtigste politische Leistung, nämlich die gute sino-amerikanische Zusammenarbeit. Diese könnte nun endgültig Geschichte werden, wenn China seine strategische Partnerschaft mit Russland vor allem im Militärbereich weiter vertiefen würde. Damit es erst gar nicht so weit kommt, müssten alsbald ernsthafte Verhandlungen über die Ukraine zwischen den USA und Russland stattfinden.
Henry Kissinger, einflussreicher und umstrittener US-Diplomat, ist am Mittwoch im Alter von 100 Jahren gestorben, während China und die USA weiterhin auf einen zunehmenden Konfrontationskurs zusteuern. Die Machtverhältnisse auf der Welt haben sich völlig verschoben. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts 1990 war die US-Wirtschaft für ein Fünftel der Weltproduktion verantwortlich, Chinas gerade einmal für vier Prozent. Im Jahr 2022 hatten sich die Machtverhältnisse radikal verändert. Chinas Wirtschaft steuert jetzt rund 18 Prozent der weltweiten Produktion bei, die US-amerikanische etwa 15 Prozent. Kissinger war der mächtigste US-amerikanische Außenminister der Nachkriegszeit und nahm noch danach gut vier Jahrzehnte lang Einfluss. Der Ikone der US-Diplomatie ist nun Tod, während die Vormachtstellung der USA auf der Welt wackelt.
Zur Person:
Dr. Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler, Carl-Schmitt-Exeget und freier Journalist, spezialisiert auf Geopolitik und lebt in Berlin.
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