Nahostexperte Ochsenreiter: „Europas Syrienpolitik ist selbstmörderisch“
Afrin, Ost-Ghouta, Türken gegen Syrer, Dschihadisten gegen Assad-Anhänger: Der Krieg in Syrien ist plötzlich auch in den westlichen Medien wieder präsent. Wir sprachen mit dem zuerst!-Chefredakteur und Nahostexperten Manuel Ochsenreiter über die Ereignisse in der Krisenregion.
Tagesstimme: Herr Ochsenreiter, bis vor kurzem hörte man noch vom „Ende des IS“ und einem möglichen Frieden in Syrien. Gerade scheint der Konflikt aber an mehreren Fronten zu eskalieren. Was passiert hier gerade?
Ochsenreiter: Während die syrische Armee derzeit in Ghouta die letzten von Terroristen besetzte Gebiete befreit und säubert, ist der Konflikt im Norden des Landes noch etwas komplizierter – vor allem wegen der destruktiven Rolle der Türkei, der USA und Teilen der kurdischen Kämpfer. Insgesamt kann man aber im Falle Syriens schlecht von einer „Eskalation“ sprechen. Die syrische Regierung hat die Kontrolle über die meisten vormals von terroristischen Banden beherrschten Gebieten wiedererlangt. Viele Binnenflüchtlinge konnten in ihre Städte und Dörfer zurückkehren, man beschäftigt sich bereits mit dem Wiederaufbau des Landes.
Tagesstimme: Die jüngsten Ereignisse drehen sich vor allem um die Städte Afrin und Ost-Ghuta. Wie verlaufen dort die Gräben?
Ochsenreiter: In Ost-Ghouta kämpft die syrische Armee gegen verschiedene radikal-islamistische Milizen. In Afrin findet seit Januar die „Operation Olivenzweig“ statt, eine türkische Militäroffensive auf syrischem Boden gegen die dort dominierenden Kurdenmilizen, die wiederum von den USA zuvor quasi ausgerüstet und finanziert wurden. Auf türkischer Seite kämpfen auch radikal-islamische Terrorgruppen, während die Kurden von Syrien und dem Iran unterstützt werden. Dort sieht man einen klassischen Stellvertreterkonflikt, aber im Prinzip auch einen inneren „NATO-Konflikt“ zwischen Washington und Ankara.
Tagesstimme: Wieso sind die beiden Städte jeweils so wichtig? Was steht für die Fraktionen auf dem Spiel?
Ochsenreiter: In Ost-Ghouta haben sich bereits zu Beginn des Krieges 2011 dschihadistische Banden eingenistet und die Kontrolle übernommen – sozusagen als islamistisches Bollwerk vor den Toren der Hauptstadt Damaskus. Dort haben die Islamisten eine bizarre Schreckensherrschaft errichtet, das Gebiet wurde eine Hochburg des Menschenhandels und Schmuggels. Außerdem diente Ghouta auch als „Brückenkopf“ der Terroristen für Angriffe auf die syrische Hauptstadt. Die Befreiung Ghoutas ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum Ende des Krieges. Afrin wiederum liegt in jenem Gebiet, das separatistische syrische Kurden als „Föderation Nordsyrien – Rojava“ bezeichnen – also eine eigene, kurdische Entität mit dem Endziel der Abspaltung von Syrien. Die Türkei wiederum, die bereits seit Beginn des Krieges islamistische Terrorbanden in Syrien unterstützt, versucht, ihren Machteinfluss nach Nordsyrien auszubreiten. Beispielsweise plünderten Terrormilizen das Industriegebiet von Aleppo und transportierten die gestohlenen Maschinen mit logistischer Unterstützung aus Ankara über die syrisch-türkische Grenze. Auch die aktuelle Militäroperation dient in Wirklichkeit nicht dem eigenen türkischen Sicherheitsinteresse, sondern der Expansionspolitik Ankaras.
Tagesstimme: In der heimischen Presse wird vor allem von Luft- und Raketenangriffen auf Zivilisten durch Assad-Truppen berichtet…
Ochsenreiter: Die westliche Presse übernimmt meist ungeprüft die Propagandamärchen islamistischer Terroristen. Es trifft allerdings zu, dass die Dschihadisten Zivilisten daran hindern, die Kampfzonen zu verlassen oder diese auch als „menschliche Schutzschilde“ benutzen. Leider liest man von solchen Kriegsverbrechen kaum etwas in unseren etablierten Medien.
Tagesstimme: Welche Rolle kommt noch den Großmächten – Russland und den USA – in Syrien zu? Was erhoffen diese sich von den neuerlichen Vorgängen?
Ochsenreiter: Während Russlands Rolle in der Vergangenheit immer wichtiger wurde, scheint der Einfluss Washingtons auf den Kriegsverlauf immer weiter abzunehmen. Grundsätzlich gibt es einen Interessenswiderspruch zwischen Russland und den USA: Moskau braucht Stabilität, Washington wiederum Instabilität. Ein Sieg der Islamisten in Syrien wäre fatal für die Russische Föderation, da der Funken leicht auch beispielsweise auf den Kaukasus überspringen könnte. Viele „Freiwillige“ aus dem Nordkaukasus – zum Beispiel aus Dagestan und Tschetschenien kämpfen als Terroristen in Syrien. Für Moskau ist es wichtig, das Problem bereits auf dem syrischen Kriegsschauplatz zu lösen, bevor es die russische Grenze erreicht. Russland hat also ein legitimes Sicherheitsinteresse und ist zudem mit Damaskus offiziell verbündet. Die USA sind – im Übrigen auch wie in Europa – eine raumfremde Macht. Als solche spielt es für die USA keine Rolle, ob Syrien im Chaos versinkt. Es hat kaum Auswirkungen auf die Sicherheitsinteressen von Washington. Durch die westliche Destabilisierungspolitik in der Region will sich Washington nicht nur den billigen Zugang zu Ressourcen sichern, sondern auch Konkurrenzmächte wie Russland, China oder auch den Iran herausfordern.
Tagesstimme: Aus einer europäischen Perspektive: Was wäre nun das beste für uns in Syrien? Wie wahrscheinlich ist das Eintreten eines solch günstigen Falles?
Ochsenreiter: Sowohl die Politik Washingtons als auch die Moskaus lassen sich logisch erklären. Europas Syrienpolitik wiederum scheint geradezu selbstmörderisch zu sein. Obwohl Europa im Prinzip die gleichen Interessen wie Russland in der Region hat – also Stabilität – unterstützt es die Destabilisierungspolitik der USA. Das ist in etwa so, als helfe man einem zugereisten Brandstifter, in der Nachbarwohnung zu Feuer zu legen. Und später wundert man sich darüber, dass es auch in der eigenen Wohnung brennt. Die Flüchtlingswelle kam nicht überraschend. Im Prinzip hat die europäische Politik selbst die Lunte dafür gelegt, indem sie den Amerikanern folgte. Eine europäische Politik, die den eigenen Sicherheitsinteressen dient, würde sofort jede Unterstützung für die sogenannte „bewaffnete Opposition“ – also die Terroristen in Syrien – einstellen. Sie würde die Wirtschaftssanktionen gegen Damaskus aufheben und sie würde – wie Russland – die syrische Armee in ihrem Kampf gegen den Terror unterstützen. Europäische Sicherheitsbehörden würden eng mit syrischen Stellen zusammenarbeiten, um islamistische Kämpfer, die nach Europa eingesickert sind, ausfindig zu machen. Bislang scheint dies alles leider noch äußerst unwahrscheinlich.