Proteste in Serbien: Vučević als durchsichtiges Bauernopfer des Präsidenten

In Serbien gehen die Menschen seit der Bahnhofstragödie in Novi Sad, bei der 15 Menschen ums Leben kamen, auf die Straße, um gegen die Regierung zu protestieren. Anfang der Woche trat Regierungschef Vučević zurück. Der Politikwissenschaftler Dušan Dostanić analysiert für FREILICH die Lage.

Analyse von
30.1.2025
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4 Minuten Lesezeit
Proteste in Serbien: Vučević als durchsichtiges Bauernopfer des Präsidenten

Demonstranten in Novi Sad mit einem Plakat mit roten Händen und der Zahl 15 in Erinnerung an die 15 Opfer der Bahnhofstragödie im November 2024.

© IMAGO / Aleksandar Djorovic

Am Dienstag, 28. Januar, kam aus Serbien die überraschende Nachricht, dass Regierungschef Miloš Vučević zurückgetreten ist. Nach ihm trat auch der Bürgermeister von Novi Sad, Milan Đurić, zurück. Beide sind Funktionäre der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) von Präsident Aleksandar Vučić.

Erstaunlicherweise haben der Rücktritt und die offensichtliche Regierungskrise in Serbien keine große Aufregung ausgelöst. Obwohl der Premierminister verfassungsmäßig das wichtigste Amt im politischen System Serbiens ist und Vučević das Amt des Parteivorsitzenden innehat, und obwohl die SNS die größte politische Organisation in Serbien ist, ist er ein Politiker mit geringer persönlicher Autorität. Mit anderen Worten: Vučević ist leicht zu verwechseln. Dasselbe gilt für Đurić. Auch die Abdankungserklärung war schwer zu glauben. Man kann daher sagen, dass dieser Rücktritt nur als durchsichtiges „Bauernopfer“ von Präsident Vučić gesehen werden kann, der sich aufgrund der Studentenproteste in einer schwierigen Lage befindet.

Auslöser der Proteste

Seit November kommt es in Belgrad und anderen Städten Serbiens zu Demonstrationen gegen die Regierung. Auslöser war der Einsturz des Daches eines gerade renovierten Bahnhofs in der zweitgrößten serbischen Stadt Novi Sad, bei dem 15 Menschen ums Leben kamen. Zweifellos handelte es sich um Korruption, und die Regierung tat alles, um dies zu vertuschen.

Aber jeder Kenner der politischen Situation in Serbien weiß, dass Proteste und Demonstrationen gegen die SNS, Vučić und seine Regierung nichts Neues sind. Im Sommer gab es die großen Proteste gegen den Lithiumabbau oder davor die Demonstrationen „Serbien gegen Gewalt“. Nationale, konservative, aber auch linke und liberale Kräfte sind unzufrieden mit einer offensichtlich inkompetenten und korrupten Regierung. Die Demonstranten fordern die juristische und politische Verantwortung und Verurteilung der Verantwortlichen für die Tragödie von Novi Sad.

Querfront gegen die Regierung

Am Anfang waren es Studenten, die demonstriert haben, aber jetzt kommt der Widerstand aus allen sozialen Schichten: Schüler, Lehrer, Arbeiter, Bauern. Die Gewalt, die Drohungen und die massiven Manipulationen, mit denen die Regierung versucht hat, die Proteste zu unterdrücken, sind gescheitert, und die Arroganz der Macht, die Vučić und seine Partei an den Tag gelegt haben, hat nur das Gegenteil bewirkt. Wenn die Gesellschaft gespalten ist, tragen die Regierung und ihre Medien die Hauptverantwortung.

Die ideologische Ausrichtung ist nach wie vor unklar. Man kann von einer Querfront sprechen, wie bei den Lithium-Protesten. Bei den Demonstrationen sind sowohl rechtsnationale als auch linksliberale Kräfte zu sehen. Man sieht viele Nationalflaggen, „Keine Aufgabe“-Flaggen des Kosovo oder Flaggen mit Jesus Christus und nota bene keine einzige Regenbogen- oder EU-Flagge. Man muss wohl berücksichtigen, dass die Jugend in Serbien im Vergleich zur Jugend in der EU eher rechts, traditionalistisch und religiös ist. Daraus folgt, dass auch die Studentenproteste einen ausgeprägten nationalen Charakter haben müssen.

Die Linke und ihr Plan

Natürlich bleibt die Linke nicht passiv. Die linksliberalen Kräfte versuchen mit allen Mitteln, die Proteste für sich zu vereinnahmen und in eine linksliberale Richtung zu lenken. In diesem Sinne kann man eine stille Koalition zwischen der Linken und den von der Regierung kontrollierten Medien beobachten, denn beide Seiten versuchen, die Proteste als antinationale, proeuropäische Revolution darzustellen. Das ist natürlich nicht so einfach, da die westlichen Mächte die Regierung Vučić unterstützen. Der Kampf um das ideologische Profil der Demonstrationen steht also bevor. Einmal mehr wird deutlich, wie gefährlich es sein muss, wenn rechtskonservative Kräfte zu passiv und initiativlos sind, während die Linke proaktiv agiert. Einmal mehr zeigt sich, dass es in Serbien an tragfähigen rechten Strukturen (Parteien, Medien, Zivilgesellschaft) mangelt.

Die wichtigste Frage ist, ob es sich um eine farbige Revolution handelt. Die von der Regierung kontrollierten Medien, aber auch die liberale Presse, versuchen immer wieder, die alte Dichotomie auszunutzen: Nationalisten, Rechte, SNS, Vučić, also die Bösen, auf der einen Seite und Pro-EU, Liberale, Tolerante, Opposition, also die Guten, auf der anderen Seite. Aus dieser Perspektive sollten die Proteste wie eine neue Farbenrevolution der EU-Befürworter sein.

Das Problem mit dieser Interpretation ist, dass sie völlig falsch ist. Die Nationalisten und Patrioten sind gegen die Regierung und stellen die Mehrheit der Demonstranten. Auf der anderen Seite hat die EU bzw. der Westen kein Interesse daran, Vučić zu beseitigen, weil er trotz seiner Rhetorik immer kooperativ und brav war. Wichtig ist auch, dass die liberalen Oppositionsparteien noch nicht in der Lage sind, die Proteste zu kontrollieren. Die Studenten haben bereits eine Erklärung veröffentlicht, in der es heißt, dass die NGO-Aktivisten nicht für die Studenten sprechen können. Die alten liberalen „Studentenführer“ stehen nicht mehr in der ersten Reihe. In einigen Fällen wurden Oppositionspolitiker von den Protesten ausgeschlossen, was auch interessant ist. Um es klar zu sagen: Weder Regierungs- noch Oppositionspolitiker noch die EU sind bei den Demonstranten besonders beliebt. Insofern geht es hier nicht um Parteipolitik. Klar ist aber, dass der Rücktritt von Vučević und Đurić zu spät kam und ein solcher erzwungener Schritt nichts ändern wird. Zudem sind die Proteste ideologisch nicht artikuliert, was bedeutet, dass die Ergebnisse noch offen sind und die Entwicklung verschiedene Richtungen nehmen kann.

Völliges Versagen der Regierung

Die andere wichtige und schwierige Frage ist: Was können wir erwarten? Der Rücktritt von Vučević zeigt, dass die Regierung nicht in der Lage ist, die Dinge in den Griff zu bekommen. Die Demonstrationen sind zu groß geworden, die Unzufriedenheit nicht mehr zu ignorieren. In fast jeder serbischen Stadt gibt es Proteste. Auch die Oppositionsparteien haben die Lage nicht unter Kontrolle. Die politische Krise ist also sehr tief, und Neuwahlen können keine Lösung bringen. Man spricht von einer Übergangs- oder Expertenregierung, aber auch das liegt noch im Nebel. Das Einzige, was man mit Sicherheit sagen kann, ist, dass die Institutionen völlig versagt haben und die Politik von Vučić zusammengebrochen ist. Sein Versuch, eine Gegendemonstration in der Stadt Jagodina zu organisieren, ist massiv gescheitert. Es ist klar, je länger die Proteste andauern, desto schwieriger wird es für Vučić, die ganze Krise zu beenden und an der Macht zu bleiben.

Auf der anderen Seite muss man sagen, dass die Demonstrationen eine Niederlage für die proeuropäische, liberale Opposition sind, die nach 12 Jahren fast bedeutungslos geworden ist und sich bei den Studenten einschmeicheln muss, in der Hoffnung, eines Tages an die Macht zu kommen. Verzaubert von der EU, mental in einer Welt von gestern und weit entfernt von der Realität, hat die liberale Opposition wenig zu bieten, außer den alten Phrasen über die Zukunft der EU. Das Problem der Rechte in Serbien wiederum ist die strukturelle Unterentwicklung und chronische Passivität der rechten Intellektuellenszene, die zu reaktiv ist. Sicherlich ist jetzt eine neue Dynamik zu erwarten.

Über den Autor

Dušan Dostanić

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