Tendenz zu Parallelgesellschaften
Kulturelle Abschottung in einzelnen Stadtvierteln, Integrationsfallen, religiöse Hegemoniebestrebungen in Schulen und antisemitische Einstellungen unter muslimischen Jugendlichen: Das zeigt ein 93-seitiger Bericht, verfasst von der Politikwissenschaftlerin Nina Scholz und dem Historiker Heiko Heinisch im Auftrag des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) im April 2018.
Ein Bericht der Recherche-Plattform Addendum
Der Bericht, der Addendum exklusiv vorliegt, war vom Integrationsfonds allerdings nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, er sollte später in eine breit angelegte Studie zum Thema Parallelgesellschaft einfließen, wie es im Regierungsprogramm im Integrationskapitel festgeschrieben worden sei, heißt es auf Anfrage von Addendum.
Die Arbeit von Heinisch und Scholz entspreche laut einer Sprecherin des ÖIF keiner repräsentativen Vorerhebung, für die Gesamtstudie brauche es deshalb noch weitere belastbare Daten, da es sich um ein sehr sensibles Thema handle. Die Autoren selbst sprechen auf schriftliche Anfrage von keiner systematischen Erhebung, sondern von einem „Versuch, das Feld für eventuelle Studien abzustecken“. Weitere Aufträge haben sie vom ÖIF bislang nicht erhalten.
Welche zusätzlichen Studien noch in Auftrag gegeben worden sind, und in welchem Ausmaß die vorliegende Arbeit von Heinisch und Scholz schlussendlich in die Gesamtbewertung miteinbezogen wird, wollte oder konnte das ÖIF nicht beantworten. Auch nicht, ob die Arbeit überhaupt berücksichtigt werden wird. Addendum hat deshalb die wichtigsten Punkte des Papiers zusammengefasst.
Von der Methodik her basiert die Arbeit der beiden Autoren auf einer umfassenden Literatur- und Medienrecherche und zahlreichen Interviews mit Richtern, Exekutivbeamten und Lehrern.
Ethnische Kolonien als Integrationsfallen
In den geführten Interviews mit Exekutivbeamten wurden die Wiener Bezirke Favoriten, Simmering, Ottakring, Rudolfsheim-Fünfhaus, Brigittenau und Leopoldstadt genannt, in denen sich Strukturen einer Parallelgesellschaft abzeichnen oder teilweise schon vorhanden sind. Vor allem türkische Migranten seien aufgrund ihrer Anzahl in diesen Vierteln auf dem Weg, sich in abgeschlossene „Communitys zu segregieren“. Eine ähnliche Tendenz werde auch bei serbisch-, tschetschenisch- und afghanischstämmigen Migranten beobachtet.
Ein Beamter berichtet zum Beispiel vom Entstehen einer „ethnischen Kolonie“ in Wien-Favoriten: „Eine durchschnittliche türkische Familie, die nicht deutsch sprechen möchte und die sich nicht in die österreichische Gesellschaft integrieren mag, kann nur in Sprechbereiche gehen, wo türkisch gesprochen wird, kann türkisch einkaufen gehen, zum türkischen Schuster, zum türkischen Computerfachmann, zu den türkischen Ärzten und kann den ganzen Tag nur in ihrer Gemeinde verbringen.“ Im Bericht werden diese monoethnisch und monokulturell geprägten Bezirke als „Integrationsfallen“ für die dort lebenden Menschen bezeichnet.
Konflikte mit Schlagstöcken und Messern
Ein weiteres Problem: Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern verschiedener Ethnien würden sich, den befragten Exekutivbeamten zufolge, in diesen Stadtvierteln schnell zu gewalttätigen Konflikten zwischen größeren Gruppen ausweiten.
„Es sind sehr rasch Menschen da, die sich hier auch dann einbringen und wenn das die gleiche Ethnie ist, (…) dann gibt’s Jugendliche, die sofort nach Hause laufen und Schlagstöcke oder Messer holen, um unterstützend tätig zu sein.“ Zudem würden ethnische Gruppen immer wieder versuchen, bestimmte Plätze oder Parks im Bezirk zu besetzen und als ihr Revier in Besitz zu nehmen und, wenn notwendig, auch gewaltsam gegen andere zu verteidigen. Die Polizei müsse diese Bereiche buchstäblich zurückerobern, sagt ein Beamter: „Wir haben richtige Großaktionen gemacht, wo wir in den Park hinein sind mit einem polizeilichen Aufgebot und gesagt haben, das ist unser Park.“
Ansätze einer Paralleljustiz
Konkrete Hinweise auf die Existenz einer systematischen Paralleljustiz erhielten die Autoren in Gesprächen mit Richtern und Vertretern der Exekutive nicht. Ansätze einer Paralleljustiz gebe es jedoch in familienrechtlichen Angelegenheiten. Eine befragte Familienrichterin äußerte den Verdacht, dass bei einvernehmlichen Scheidungen, bei denen die Frau auf alle Ansprüche verzichtet, im Hintergrund eine religiöse Autorität gemeinsam mit der Familie Druck ausüben und ihre Macht ausspielen würde. Auch im Bereich des Strafrechts vermuten die konsultierten Richter ein Dunkelfeld. Sie kritisieren, dass entsprechende Fälle erst gar nicht zu Gericht kommen, weil es der Polizei trotz erheblicher Verdachtsmomente nicht gelänge, ausreichend Beweise für das Vorhandensein einer Straftat vorzulegen.
Ehrvorstellungen fördern Parallelgesellschaften
Als problematisch bewerten die befragten Richter und Exekutivbeamten auch die vorherrschenden traditionellen Ehrvorstellungen. Denn die Haltung, dass familiäre Angelegenheiten den Staat und die Mehrheitsgesellschaft nichts anzugehen hätten, gehe oft mit einer gewissen Ablehnung des geltenden staatlichen Rechtssystems einher, da dieses, so die Meinung, der Durchsetzung der Familienehre im Weg stehe. Die Verfasser der Studie kommen zum Fazit: „Traditionelle Ehrvorstellungen fördern die Herausbildung parallelgesellschaftlicher Strukturen, da mit einer strengen Dichotomie (ehrenhaft – unehrenhaft, anständig – sündhaft) eine klare Trennlinie zwischen dem Innen und dem Außen, dem Eigenen und dem Fremden gezogen wird.“
Je mehr muslimische Schüler an einer Schule, desto wahrscheinlicher kulturelle Abschottung
Parallelgesellschaftliche Entwicklungen zeigen sich laut Studienautoren am deutlichsten an Schulen mit einem hohen Anteil an muslimischen Schülern. Die Autoren warnen, dass diesen Kindern oftmals in ihrem familiären Umfeld Werte und Einstellungen vermittelt würden, die unserer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft diametral entgegenstehen.
Interessant ist, dass anders als im Zuge der Diskussion über die Probleme mit dem konservativen Islam an Neuen Mittelschulen vielfach angenommen, der Schultyp offenbar deutlich weniger Einfluss auf die Häufigkeit und Stärke der im Schulalltag auftretenden religiösen Konflikte zu haben scheint als die Zusammensetzung der Klasse.
„Je mehr muslimische Schüler an einer Schule sind, umso deutlicher zeigen sich Tendenzen kultureller Abschottung, Widerstände gegen bestimmte Unterrichtsinhalte und Versuche identitär islamischer Peergroups, Schülerinnen und Schüler mit muslimischem Familienhintergrund zu einem ‚islamkonformen‘ Lebensstil zu nötigen“, bilanzieren die Autoren.
Eine für den Bericht befragte Lehrerin warnt vor einer immer strenger werdenden Kleiderordnung. Wer kein Kopftuch aufsetze, werde angefeindet und als „Nutte“ beschimpft. Alle für den Bericht konsultierten Lehrkräfte beobachten eine spürbare Zunahme von Schülerinnen mit Kopftuch. Eine AHS-Lehrkraft führt diese Entwicklung auch auf den türkischen Nationalismus zurück und spricht von einer „politischen Missionierung“. Die Präsenz der türkischen Außenpolitik in Österreichs Schulklassen bezeichnet sie als „Wahnsinn“.
Wiener Lehrkräfte warnen: „Verhärtung islamischer Regeln“
Pädagogen beklagen in Schulen auch die immer stärker werdende Verbotskultur. „Haram“, also islamisch verboten, sei, den Befragten zufolge, ein tieferer Ausschnitt, ein kurzer Rock oder offen getragenes Haar, Musik hören, Gesichter und Körper zeichnen oder auch ein Zusammenarbeiten von Burschen und Mädchen. Die Rede ist auch von religiös motiviertem Mobbing, das an einer Schule sogar zu physischen Attacken auf ein Mädchen, das sich offenbar in den Augen ihrer Mitschüler zu „unzüchtig“ gekleidet hatte, ausartete.
Die befragten Wiener Lehrkräfte berichten auch, dass sie allgemein eine „Verhärtung islamischer Regeln“ wahrnehmen, die sich besonders drastisch im Ramadan zeige, und die mit einer Abwertung derjenigen Schüler einhergehe, die den Fastenmonat nicht einhalten.
Bevor man mit Kindern im Burkini Schwimmen geht, verzichtet man
Die Autoren bemängeln zudem, dass Lehrinhalte in der Schule immer öfter unter „fundamentalistisch islamischen Einstellungen“ leiden. Als besonderes Problemfeld nennen befragte Lehrkräfte den Schwimmunterricht. Dieser finde an vielen Schulen kaum noch statt, da viele muslimische Eltern ihre Kinder befreien ließen, weil sie nicht wollen, dass sich ihre Töchter gemeinsam mit Burschen im Schwimmbad aufhalten.
Dass Schwimmen fester Bestandteil des Lehrplans ist, spielt offenbar keine Rolle, wie die Aussage einer Pädagogin zeigt: „Ja, natürlich steht es im Lehrplan, aber es wird nicht mehr gemacht. Und bevor man dann mit Kindern im Burkini hingeht, verzichtet man lieber drauf.“
Um die Schulpflicht beim Schwimmunterricht manchmal durchzusetzen, würden einige Lehrer den Eltern androhen, ihr Kind das Jahr wiederholen zu lassen, wohlwissend, dass sie sich mit solchen Methoden am Rande des gesetzlich Erlaubten bewegen.
Todsünden und Hölle
Überhaupt werde an immer mehr Schulen die Auseinandersetzung mit Körperlichkeit, Sexualität und Nacktheit verweigert. Eine AHS-Lehrkraft berichtet von religiös begründeten Verweigerungshaltungen ihrer Schülerinnen und Schüler, wenn es um Nacktdarstellungen im Lehrbuch und um das Zeichnen des menschlichen Körpers geht.
Laut Aussage einer Lehrerin werde dieses Gedankengut auch in der Moschee vermittelt: „Und der Bub in der 5. Klasse hat zu mir gesagt, außerehelicher Sex sei eine Todsünde und man komme in die Hölle. […] Da war ich noch unvorbereitet und habe alarmiert gefragt: ‚Woher hast du denn das?!‘ Und da hat er mir gesagt, das habe er schon an vielen Moscheen in Wien so erklärt bekommen.“
Die Zeit am Wochenende in den Gebetshäusern wird an mehreren Stellen im Bericht als hinderlich für die Integration der Schüler beschrieben. „Nach dem Wochenende haben wir oft den Eindruck, dass die Kinder wie nach einer Gehirnwäsche wieder in der Schule sitzen“, sagt eine Lehrerin.
In drei der befragten Schulen soll es zu Problemen mit den islamischen Religionslehrern gekommen sein. Eine AHS-Lehrerin beschwerte sich über die mangelhaften Deutschkenntnisse eines Religionslehrers, eine NMS-Lehrkraft berichtete, dass der islamische Religionslehrer versuchte, die Schüler davon zu überzeugen, dass die Evolutionstheorie falsch sei. An einem Gymnasium habe eine Religionslehrerin versucht, die Einrichtung eines eigenen Gebetsraums für muslimische Schüler durchzusetzen. Dieselbe Religionslehrerin wollte zudem islamische Regeln für die gesamte Schule einführen, indem sie forderte, dass Sportwochen, Ausflüge und Schularbeiten nur noch außerhalb des Ramadans stattfinden sollten.
Antisemitismus unter Schülern
Sorgen bereiten den befragten Lehrkräften auch die antisemitischen Einstellungen einiger muslimischer Schüler. In einigen Klassen sei es kaum noch möglich, über das Thema Nationalsozialismus zu sprechen, ohne dass es zu heftigen Störungen, Boykotten und antisemitischen Ausbrüchen komme. Viele Schüler könnten kaum noch zwischen einem religiösen Dogma und gesicherten Fakten unterscheiden. Besuche der KZ-Gedenkstätte Mauthausen seien oftmals nicht mehr möglich, ohne dass sich eine Lawine antisemitischer Äußerungen Bahn breche, wie es eine Lehrkraft formuliert.
Dieses Gedankengut ist dem Bericht zufolge aber nicht nur ein Problem an Neuen Mittelschulen. Die Autoren sprechen von einer großen Verbreitung antisemitischer Einstellungen und Stereotype unter muslimischen Kindern und Jugendlichen an allen von ihnen befragten Schulen. So erzählt die Lehrkraft eines Gymnasiums, dass es auch an ihrer Schule bereits vorgekommen sei, dass etliche muslimische Schüler den Ausflug ins Jüdische Museum boykottiert hätten.
Wann wird die Gesamtstudie veröffentlicht?
Zusammenfassend zeigen die Aussagen von Richtern, Exekutivbeamten und Lehrern, die von den beiden Studienautoren dokumentiert wurden, deutlich die Tendenz zu gesellschaftlichen Parallelstrukturen als Ergebnis mangelhafter oder verfehlter Integrationspolitik.
Wann die Gesamtdaten, inklusive der neuen Untersuchungen, an das Außen- und Integrationsministerium übermittelt werden, wollte man nicht bekannt geben.
Dieser Artikel wurde zuerst veröffentlicht unter https://www.addendum.org/schule/parallelgesellschaften/