Gegen die Romantisierung des Mittelalters – Heinrich von Sybel
Ranke, Droysen, Treitschke: Die Namen großer Historiker, die mit ihrer Arbeit bis heute wichtige Standards der Geschichtswissenschaft setzten, sind zahlreich und außerhalb ihres Fachbereichs finden sie kaum Beachtung. FREILICH-Redakteur Mike Gutsing stellt einen Vertreter der „zweiten Reihe“ dieser Giganten vor und zeigt, wie die Debatten des 19. Jahrhunderts auch heute noch nachwirken.
Heinrich von Sybel wurde am 2. Dezember 1817 als Sohn einer angesehenen Pastorenfamilie in Soest im Westfalenland geboren. Zu diesem Zeitpunkt war Soest, im Gegensatz zum Rest der Provinz Westfalen, bereits seit 146 Jahren Teil der brandenburgisch-preußischen Gebiete – mit Ausnahme des kurzen Intermezzos als Teil des rheinbündischen Königreichs Westfalen. Doch nicht nur historisch war Soest in der Region ein Sonderfall: Die humanistischen Schulen der Stadt sicherten bereits früh die Verbreitung der lutherischen Lehre unter der Bevölkerung, während weite Teile der Bevölkerung auch durch die Nähe des Erzbistums Köln katholisch blieben. Diese frühe Prägung durch den Protestantismus sollte für Sybels lebenslanges Schaffen von entscheidender Bedeutung sein.
Nach seinem Studium in Berlin unter Leopold von Ranke, dem Vater der modernen Geschichtswissenschaft, promovierte Sybel 1838 und durfte zukünftig den Titel Dr. phil. tragen. Nur drei Jahre später veröffentlichte er die „Geschichte des ersten Kreuzzugs“, die ihm eine außerordentliche Professur an der Universität Bonn einbrachte. Diese Anstellung blieb jedoch nur eine Station, denn Sybel wurde 1845 als ordentlicher Professor an die Universität Marburg berufen, in der er die kommenden Jahre wirkte.
Zwischen Hörsaal und Parlament
Doch die Karriere an den deutschen Hochschulen reichte Sybel nicht. Vom Strom der Zeit erfasst, stellte er sich als Mitglied des Vorparlaments in Frankfurt am Main zur Wahl, das die Wahl zur Frankfurter Nationalversammlung 1848 vorbereitete. So arbeitete Sybel etwa an dem Bundeswahlgesetz und den Befugnissen der Nationalversammlung. Sybel gehörte zu den konservativen Kräften und setzte sich auch später als Vertreter der Kasseler Ständeversammlung stark gegen eine generelle Volkssouveränität und das allgemeine Wahlrecht ein. Heinrich von Sybel eine politische Karriere zu attestieren, wäre eine Übertreibung. Die Betätigungen in diversen Institutionen wie etwa dem Erfurter Unionsparlament (1850), dem preußischen Abgeordnetenhaus (1862-1864, 1874-1880) oder dem Reichstag des Norddeutschen Bundes (1867) zeigen jedoch klar, dass von Sybel neben dem wissenschaftlichen Anspruch auch klare politische Ziele hatte, die er öffentlich vertrat.
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Größere Erfolge erzielte er jedoch im akademischen Betrieb. Seit 1856 war er als Professor an die Universität München gerufen worden. Dort entwickelte er das Historische Seminar, das erstmals auch die Ausbildung von Geschichtslehrern parallel zu den Fachhistorikern institutionell regelte. Im Auftrag des bayerischen Königs arbeitete er an der Verbreitung dieser Strukturen an den restlichen Hochschulen des Königreichs und leitete zu diesem Zweck auch die „Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften“, deren Präsident er von 1886 bis 1895 war.
Wissenschaft als Kampf
Die Umtriebigkeit Sybels brachte ihm jedoch nicht nur Freunde ein: In der sogenannten Sybel-Ficker-Kontroverse (1859-1861) lieferte er sich mit dem Innsbrucker Historiker Julius Ficker einen heftigen fachwissenschaftlichen Diskurs, der weit in die Öffentlichkeit hineinragte. Im Kern drehte sich die Debatte um die Frage, ob Österreich ein Teil des zu gründenden Nationalstaats sein sollte oder nicht. In einer Rede von 1859 hatte Sybel die Italienzüge der mittelalterlichen Kaiser als „unnational“ bezeichnet. Die Bemühung der Anbindung der norditalienischen Städte oder gar des Kirchenstaats an das Alte Reich hätten die Herausbildung eines vormodernen Nationalstaates gestört, wie es etwa in Frankreich oder England geschehen war, so Sybel.
Julius Ficker dagegen betonte den Doppelcharakter der mittelalterlichen Herrscherpolitik, die den kaiserlichen Imperialismus und den königlichen Nationalismus vereinen konnte. Die Debatte spiegelte klar den Gegensatz Preußens und Österreichs wider, Sybel als preußischer Protestant und Ficker als österreichischer Katholik fochten auf dem intellektuellen Weg den Kampf aus, der 1866 mit Gewehren und Kanonen auf dem Schlachtfeld beendet wurde.
Von Staaten und Häusern
Die Sybel-Ficker-Kontroverse zeigt deutlich die entgegengesetzten Strömungen der großdeutschen, beziehungsweise der kleindeutschen Lösung, die beide ihre Ursprünge in der mittelalterlichen Geschichte Deutschlands suchten. Keinem von beiden wäre jedoch in den Sinn gekommen, dass der neu zu bildende deutsche Nationalstaat ohne einen Rückbezug auf das Alte Reich auskommen würde – nur die Ansatzpunkte waren verschieden. Während das Dritte Reich mit diesen Verweisen nicht geizte, war auch die Weimarer Republik über ihre Verfassung und die tradierte Gesellschaftsordnung an die eigene Geschichte gebunden. Dass die Bundesregierung, in ihrem Selbstverständnis die Antithese zum NS-Staat, jedoch auch ihre geschichtskulturelle Bindung an ihre sonstige Vergangenheit gekappt hat, kann durchaus als Erklärung für eine Vielzahl ihrer heutigen Probleme herangezogen werden.
Die Gestalt Sybels hat die Tendenz im Staub, den die vielen anderen großen Personen seiner Zeit aufwirbeln, zu verschwinden. Seine Werke werden heute, teils zu Unrecht, weit weniger rezipiert als es bei seinen Zeitgenossen der Fall ist. Dabei ist er als Teil der Preußen-freundlichen „Borussischen Schule“ für unsere nationale Geschichte wichtiger als viele der heute unterdurchschnittlich begabten, aber viel gelesenen Historiker, die der Geschichtsvergessenheit unserer Tage Vorschub leisten. Heute wäre Heinrich von Sybel 206 Jahre alt geworden und trotz seines Todes im Jahr 1895 mahnt er uns bis heute, dass unsere Geschichte noch so viel älter ist.
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