„L’Empire“: Eine neoreaktionär-absurde Kömodie?

Eine der Hauptpremieren der Berlinale 2024 ist der Film „L’Empire“ des französischen Regisseurs Bruno Dumont. Die absurde Komödie – so die Einstufung – wurde für den Hauptwettbewerb um den Goldenen Bären ausgewählt. Die ironische Verfremdungskonstruktion des Regisseurs erregte weder bei der Festivaljury noch beim Massenpublikum den Verdacht, es handele sich um eine Kritik am woken Liberalismus. Ryvkin, der die Berlinale besuchte, sieht das anders.

Kommentar von
16.3.2024
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4 Minuten Lesezeit
„L’Empire“: Eine neoreaktionär-absurde Kömodie?
Brandon Vlieghe© Tessalit Productions

Die statische Kamera gleitet über lange, kahle Dünen. Ein Fischerdorf an der Opalküste in der Nähe von Lille, der Heimat des Regisseurs. Durchsichtige Wolken ziehen schattenlos über den Sommerhimmel. An einem Nachmittag wie diesem wird das Gehirn von der natürlichen Trägheit des Sommers überwältigt, und der Körper einer sonnenbadenden Nymphe schmilzt wie ein Schokoriegel. Ein junger Fischer zieht ein Boot an Land, auf dessen Seite das Nummernschild steht: 666. Eine Urlauberin lernt ihn kennen. Es scheint, als gleite die Handlung des Films auf dem sandigen Küstenpfad bukolischer Oberflächlichkeit dahin. Aber es scheint nur so. „Am Anfang war die Verschwörung“, schrieb der finstere Romancier Jean Parvulesco, und zwar zwei Verschwörungen, die der Seinskräfte und die der Zerfallskräfte. Die Fäden der beiden Verschwörungen verästelten sich, spiegelten sich ineinander, teilten sich in mannigfaltige Ströme, durchdrangen das Universum und formten die beiden Heerscharen von Geistern, Völkern, Menschen …

In einem seiner Romane, Der Stern des unsichtbaren Reiches, erzählt Parvulesco von der Konfrontation mit dem dunklen Orden der Agenten des Nichts, die an der europäischen Atlantikküste schwarze Pyramiden errichten, um die Tore zur Unterwelt zu öffnen. Ihnen gegenüber steht ein geheimer Orden von Wächtern der westlichen Tradition, angeführt von einer tantrischen Prinzessin namens Licorne Mordore, was übersetzt „rotbraunes Einhorn“ bedeutet. Der weltliche Name der Prinzessin des Lichts ist Jane.

Eine Kommunalpolitikerin, Prinzessin und ein Halbblutzwerg

Es spielt keine Rolle, ob Bruno Dumont das Werk von Jean Parvulesco kennt oder nicht. Im Gegensatz zu dessen reaktionärer Fiktion entsprechen die Kräfte des Guten und des Bösen in „L'empire“ durchaus den gängigen Kriterien der globalen Agenda. Die sich bekämpfenden Parteien in seinem Film heißen „Einsen“ und „Nullen“. Die Welt, die der Film zeigt, scheint das Hirngespinst eines Computerprogrammierers zu sein.

Die Mächte des Lichts sind leicht zu erkennen, sie sind in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Fortschrittliche Aktivist*innen, wertorientiert, moralgetrieben, sie kämpfen mit Lucas' Lichtschwertern und begehen Mord ohne Skrupel. Natürlich sind die Lichtkrieger*innen feministisch aufgestellt. Die Anführerin des Ordens, mit ironischer Brillanz gespielt von Camille Cottin, wird auf der Erde zur Kommunalpolitikerin, wie wir sie aus den fortschrittlichen Parteien Europas kennen. Die Prinzessin des Lichts heißt wieder Jane, wie in Jean Parvulescos umgekehrter Perspektive die Prinzessin der rechten Verschwörung – ein amüsanter Zufall. Abgerundet wird die Reihe durch einen grimmigen Halbblutzwerg, der seinen Mätressen unterwürfig dient. Ziel der Krieger des Lichts ist es, einen kleinen Jungen, den Auserwählten der Finsternis, zu töten. Der Herzenswunsch des Feminismus ist immer Kindermord, nicht wahr? Das Mutterschiff der „Einsen“ hat die Form einer gotischen Kathedrale. „Cathedral“, so schreibe ich das Wort.

Ein Sithlord, der programmiert

Der Programmierer, der von Einsen und Nullen träumen könnte, heißt Curtis Yarvin, auch bekannt als der US-Blogger Mencius Moldbug, der selbsternannte Sith Lord der neoreaktionären Bewegung. In seinem Text „Dark Enlightenment“ verwendet Moldbug den Begriff „Cathedral“, um eine informelle, aber einflussreiche Machtstruktur zu beschreiben. Er bezieht sich damit auf eine Allianz von „progressiven“ Institutionen wie Medien, Bildungseinrichtungen und Regierung, die gemeinsam eine ideologische Hegemonie aufrechterhalten. Diese Struktur beeinflusst die öffentliche Meinung und fördert politische und kulturelle Ideen, die von der Öffentlichkeit als „fortschrittlich“ angesehen werden.

Der Begriff „Kathedrale“ soll verdeutlichen, dass diese Machtstruktur eine Art säkulares, quasi-religiöses Dogma fördert und fanatisch verbreitet, ohne dabei vor inquisitorischen Methoden zurückzuschrecken. „Alle Menschen sind gleich. Die Menschenrechte sind universell gültig. Es gibt eine objektive Realität, die mit wissenschaftlichen Methoden erforscht werden kann. COVID-19 ist eine tödliche Seuche. Es gibt einen menschengemachten Klimawandel. Die NATO ist ein friedliebendes Verteidigungsbündnis. Es gibt keine Rassen. Man kann sein Geschlecht selbst wählen.“ Danke schön.

Die Mächte des Lichts fordern die Mächte der Finsternis heraus

Als Gegenstück zu „Cathedral“ sollte nach Yarvin „Bazaar“ als dezentrales libertäres Organisationsprinzip ins Spiel kommen. Doch Bruno Dumont ist weder Softwareentwickler noch amerikanischer Libertärer. Es ist ein Imperium, das sich bei ihm der Kathedrale widersetzt. Architektonisch wird das dunkel-aufklärerische Imperium durch einen Nachbau des barocken Palastes von Caserta repräsentiert, der Galaxien durchstreift. Musikalisch untermalt von sarkastisch verfremdeten Bach-Melodien in Jazz-Arrangements von Leopold Stokowski, zu denen sich als schwarze Flecken drapierte Figuren obszön wiegen. Der Soundtrack führt den Film streckenweise an den Rand eines Musicals. Die dunkle Seite ist natürlich nicht moralisch. Dafür ist sie von einem Übermaß an Witz, Eros und Heiterkeit geprägt. Die Finsternis wird väterlicherseits vererbt: vom Narrenkönig, gespielt von dem strahlenden Fabrice Luchini, über seinen Sohn Johnny, den Dorfcharmeur, bis hin zum blonden Jungen, dem Erben der Finsternis. Ein Gefolge von Bauern aus dem Dorf bewacht den Kleinen. Die Männerbünde werden in der Rahmenhandlung eindeutig der dunklen Seite zugeordnet.

Die Mächte des Lichts fordern die Mächte der Finsternis heraus, doch diese weichen zunächst vor einem frontalen Zusammenstoß zurück. Im Sinne der neoreaktionären Konzepte von „Passivismus“ und „Vitalismus“ geht es ihnen darum, die frontale Konfrontation mit den überlegenen Kräften der „Cathedral“ zu vermeiden, das Eigene zu etablieren und die Nachkommenschaft zu bewahren. Vor der Endschlacht überlassen die Dunklen das auserwählte Kind den Menschen. Sie vertrauen es der Familie an. Der Film führt auch eine dritte Kraft ein, das komische Paar der Dorfpolizisten Carpentier und Van der Weyden, eine „keine Ahnung Crew“, einfach Menschen. „Lassen Sie das Geschwurbel, Herr Ryvkin“, würden die beiden zu mir sagen, „der Regisseur hat das nicht so gemeint.“

Es ist und bleibt eine absurde Komödie. Wie der Name des legendären neoreaktionären Blogs „Unqualified Reservation“ steht auch meine Rezension unter absolutem Vorbehalt. In einem apokalyptischen Strudel verschwinden die beiden kosmischen Flotten. Das Polizistenpärchen begleitet die allzu sexy Urlauberin mit investigativem Blick. Der Erbe der Finsternis ist unter den Menschen geblieben.


Zur Person:

Ilia Ryvkin Jahrgang 1974, wurde im russischen Petrosawodsk geboren und lebt derzeit in Berlin. Als Journalist und Dramaturg erhielt er zahlreiche Auszeichungen und Stipendien. Ryvkin ist als Korrespondent für Osteuropa und Zentralasien tätig.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.