Reisebericht: Landsmännische Begegnungen (2)
Nach einem kurzen Aufenthalt in der slowakischen Hauptstadt Bratislava setzt FREILICH-Redakteur Mike Gutsing seine Reise durch die Hauptstädte Ostmitteleuropas fort. Dabei wandelt er auf den Spuren der Deutschen, die sich vor Generationen dafür entschieden haben, in einem fremden Land zur Minderheit zu werden.
Ins Herz Pannoniens
Verlässt man Pressburg (Bratislava) in Richtung Budapest und meidet die modernen Autobahnen, so findet man sich bald in einem dünn besiedelten Teil des Pannonischen Beckens wieder, der mit seinen weiten Feldern und sanften Hügeln auf den ersten Blick mancher norddeutschen Heidelandschaft nicht unähnlich zu sein scheint. Obwohl die Region sowohl auf der slowakischen als auch auf der ungarischen Seite der Donau infrastrukturell gut erschlossen ist, überraschte die große Entfernung zwischen den einzelnen Dörfern. Auch das völlige Fehlen von Bauernhöfen oder Gestüten mit einer Geschichte vor der Betonmoderne machte die Fahrt eintöniger als erhofft.
Als zutiefst dörflich sozialisierter Mensch gibt es in der Regel nur wenige Eigenheiten moderner Großstädte, denen ich etwas abgewinnen kann, und auch die Faszination von Hochhausmeeren und Stahl- und Betonpanoramen ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Umso mehr überraschte mich die Faszination, die sich mir bot: Hier erlebte ich zum ersten Mal, was es bedeutet (oder bedeuten sollte), wenn Städte damit werben, dass sich hier „Vergangenheit und Moderne die Hand reichen“. Man könnte jetzt ellenlange Berichte über die wunderschöne Budapester Altstadt schreiben, über das großangelegte Hauszmann-Restaurierungsprogramm, über die Tage und Wochen, die man damit verbringen könnte, jede Gasse, jede Straße und alle großen Denkmäler der Stadt ausführlich zu bewundern. Aber dafür könnte man jeden beliebigen Reiseführer zur Hand nehmen, und keiner könnte auch nur die Hälfte der Eindrücke beschreiben, die man dort findet.
Die „Magyarországi németek“ (Ungarndeutsche)
Anstelle dieser allgemeinen Schilderungen soll eine Begebenheit erzählt werden, die im Rahmen der gesamten Reise nur einen Bruchteil der Zeit in Anspruch nahm, dafür aber einen großen Teil meiner Gedanken verschlang und bis heute nicht loslassen will. Auf dem Weg nach Budapest stieß ich zufällig auf die Selbstverwaltung der deutschen Minderheit in Ungarn. Die Ungarndeutschen, die sich vor allem aus den ehemaligen Volksgruppen der Donauschwaben und Siebenbürger Sachsen zusammensetzen, haben seit dem Zusammenbruch des Ostblocks eine bemerkenswerte Entwicklung genommen, die hier nur kurz skizziert werden soll. Während sich 1990 rund 30.000 Personen zum deutschsprachigen Teil der Ungarndeutschen bekannten, waren es 2001 bereits 62.000. 2011 bekannten sich 132.000 Personen in Ungarn zum deutschen Volkstum, Schätzungen, die auch den assimilierten Teil der Ungarndeutschen einbeziehen, gehen sogar von insgesamt rund 200.000 Deutschen im heutigen Ungarn aus.
So weit, so erfreulich – denn während nationale Minderheiten in vielen Ländern Europas einen hohen Stellenwert in der Politik ihres kulturellen Mutterlandes einnehmen, fristen sie insbesondere im politischen Betrieb der Bundesrepublik Deutschland ein Schattendasein. So ist die AfD mittlerweile auch in diesem Bereich die einzige Partei, die ihr Interesse an den Volkszugehörigen in den Nachbarstaaten zumindest glaubwürdig verkaufen kann. Als etwa die PiS-Regierung in Polen den Deutschunterricht an schlesischen Schulen massiv kürzte, gelang es außer dem AfD-Landtagsabgeordneten Joachim Paul kaum einem Vertreter der bundesdeutschen Politik, dieses Unrecht öffentlichkeitswirksam anzuprangern.
Eine nachhaltigere Minderheitenpolitik?
Sprung zurück nach Ungarn: Anders als in Polen hat die nationalkonservative Regierung in Budapest kein Problem damit, den Deutschen in Ungarn „Bestandsschutz“ zu gewähren. So wurde 2013 ein Gedenktag für die Vertreibung und Unterdrückung der Ungarndeutschen während des Kalten Krieges eingeführt. Der ungarische Staat finanziert auch die Neue Zeitung, die direkt in Budapest im sogenannten Haus der Ungarndeutschen unweit des Heldenplatzes und der Fidesz-Parteizentrale herausgegeben wird. Neben diesen Publikationen vertritt ein Abgeordneter der Ungarndeutschen Partei die Interessen seiner Landsleute im ungarischen Parlament.
Für mich war klar: Da muss ich hin! Nach einigen Telefonaten und einem gescheiterten Versuch, trotz Urlaubszeit jemanden im örtlichen Selbstverwaltungsbüro anzutreffen, schlenderte ich durch die Stadt in Richtung Heldenplatz. Am Haus der Ungarndeutschen angekommen, dauerte es nicht lange, bis ich mit einem Vertreter der Donauschwaben ins Gespräch kam und schnell überboten wir uns gegenseitig mit Freudenbekundungen über die Möglichkeit des Austausches. Denn obwohl immer wieder deutsche Reisegruppen in der Gaststätte des Hauses einkehrten, war wohl den wenigsten die Besonderheit oder Bedeutung des Ortes bewusst, allenfalls hörte ich während meines Aufenthaltes das erfreute Glucksen „endlich wieder eine Speisekarte in deutscher Sprache zu sehen“.
Ein tiefer Abdruck
Es folgte ein fast fünfstündiges Gespräch mit „Max“ (Name geändert), viel Gelächter und die dreckigsten ungarischen Trinksprüche, die die Welt noch nicht gehört hat. Neben vielen Informationen über Land und Leute, die Arbeit der Selbstverwaltung und ihrer Organe und allerlei Belanglosigkeiten diskutierten wir ausgiebig über die politische Lage in Ungarn, Deutschland und Europa. Diesem Thema soll an anderer Stelle ein eigener Text gewidmet werden, zu vieles bedarf einer weiteren Betrachtung und würde nicht in diesen ohnehin untypischen Reisebericht passen. So viel sei vorweggenommen: Während es in postnationalen Gesellschaften fast schon ein Verbrechen ist, wenn Menschen sich als Teil einer ethnisch-kulturellen Gruppe verstehen und in diesen Kategorien denken, fühlen und handeln, ist es für ethnische Minderheiten wie die Deutschen in Ungarn die Grundlage des eigenen Überlebens.
Gerade das weitgehend gute Verhältnis zur ungarischen Bevölkerung und zur Regierung Orbán macht die Assimilation sehr leicht. Nur der Wille zur Selbsterhaltung trägt Früchte, und so wird jedes auf Deutsch vorgetragene Gedicht, jedes gedruckte deutsche Wort und jede Stimme für die parlamentarische Vertretung der Ungarndeutschen fast zu einer revolutionären Tat. Ein Jammern oder Klagen über die eigene Situation war bei diesem Vergleich undenkbar. Als ich an jenem Abend meine Unterkunft erreichte, waren mir Zunge und Füße schwer wie Blei, während mein Geist und mein Herz von der Höhenluft kaum zur Ruhe kamen. Es folgten noch viele unvergessliche Erlebnisse, bis ich wieder an meinem heimischen Schreibtisch saß, aber der Eindruck, dass es der bekannte Spruch aus dem Erzgebirge „Deutsch und frei wollen wir sein“ bis an den Balaton geschafft hat, bleibt mir eine liebe und teure Erinnerung.
Hier geht's zum ersten Teil: Reisebericht: Ein Zirkelschlag durch Europa (1)
Hinweis: In einer früheren Version hieß es, die Budapester Zeitung habe ihren Sitz im Haus der Ungarndeutschen, tatsächlich hat aber die Neue Zeitung ihren Sitz an der Adresse.