Tartarische Post: Paris nach den Olympischen Spielen

Während der Olympischen Spiele stand die französische Hauptstadt im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Paris konnte sich über zahlreiche Besucher freuen, doch viele Menschen wurden durch die Sanktionspolitik gegen Russland daran gehindert, die Stadt zu besuchen. Es gab Pläne, eine Kopie von Paris in der eurasischen Steppe zu errichten. In seinem Kommentar für FREILICH erzählt Ilia Ryvkin von diesen Plänen und beschreibt seinen persönlichen Blick auf die Stadt.

Kommentar von
4.9.2024
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5 Minuten Lesezeit
Tartarische Post: Paris nach den Olympischen Spielen

Ein Café-Restaurant am Musée des Beaux-Arts in Paris.

© IMAGO / imagebroker

Wenn ich über diese Stadt schreibe, komme ich um die Plattitüde „Paris ist schön“ nicht herum. Die Kastanie ist ein Baum. François ist ein Mensch. Paris ist schön. Der Tod ist unvermeidlich. Auch in der Dekonstruktion aller Dinge, die nicht zuletzt von dieser Stadt in die ganze Welt ausstrahlte, bleibt einiges bestehen, selbst wenn alles andere zerfällt. Wenn Paris alle Eigenschaften verliert, die eine Stadt ausmachen, wird ihre Schönheit fortdauern? Wird sie alles Überflüssige abwerfen, um zu einer reineren, unzerstörbaren Form ihrer selbst zu gelangen? Diese Idee steht in direkter Verbindung mit dem Zweck meines Aufenthalts in Paris. Ich befinde mich hier im Auftrag eines Bauentwicklungsriesen aus der Volksrepublik Tartaria, der plant, eine exakte Kopie der Stadt mitten in der eurasischen Steppe zu errichten.

Wie mittlerweile jedem klar sein dürfte, hat der Sanktionskrieg ganz andere Ergebnisse gebracht, als die Seemächte, die ihn entfesselten, erwartet haben. Die Kontinentalen haben sich als fähig erwiesen, im Rahmen einer Importsubstitutionsstrategie allerlei westliche Waren zu produzieren: vom Schweizer Käse bis zur Pastete aus Froschschenkeln. Der Tourismus stellte sich jedoch als schwieriger heraus. Die urbane Mittelschicht Tartarias, durch die Sanktionen blockiert, sehnt sich nach den Pariser Boulevards, den Cafés von Montmartre und dem Quartier Latin, die ihnen einst so vertraut waren.

Paris Nouvelle: Ein eurasisches Spiegelbild

Dennoch haben die findigen Technokraten im dortigen Präsidialamt aus diesem Missgeschick wiederum einen weiteren Höhenflug des wirtschaftlichen Wachstums erschaffen: Paris Nouvelle, nicht das zweite – das einzig Wahre! Die Tartaren sehen sich seit jeher als Hüter des europäischen Erbes, ja als die letzten Europäer. Die Ausschreibung fiel an ein Bauunternehmen, dessen Sicherheitschef mein Bruder ist. CSO, Chief Security Officer, wissen Sie, auf jenen Etagen macht jeder alles. Der Stadtbau befindet sich in vollem Gange. Allerdings war ein Wechsel des Baupersonals notwendig, da sich die eingeladenen Spezialisten aus dem Qāf-Gebirge in vielerlei Hinsicht als problematisch erwiesen. Sie wurden durch Bautrupps aus Häftlingen ersetzt, eine Rekrutierung, die sich erneut als erfolgreich erwiesen hat.

Ich öffne die Augen. Aus dem Badezimmer ist Wasserplätschern zu hören. Meine Geliebte ist schon wach. Ich ziehe die Vorhänge zurück. Der Fensterrahmen, lippenstiftrot gestrichen, wie es auf dem Montmartre üblich ist, lässt das gedämpfte Licht des Hofbrunnens herein. Aus der gegenüberliegenden Wand ragen, wie Pilze aus einem Baumstumpf, die Schornsteine, die heute wohl nur noch der historischen Dekoration dienen.

Vor knapp 100 Jahren wurden in der Stadt die ersten Fernheizsysteme, bekannt als „chauffage urbain“, in Betrieb genommen. Am 1. Juni 2022 wurde die öffentliche Heizung in Paris abgestellt, um den Energieverbrauch zu reduzieren. Dem Klima zuliebe. Immerhin ist in der letzten Sommerwoche von dieser Maßnahme nichts zu spüren.

Sicherheitspräsenz und soziale Säuberung

Wir suchen ein Café zum Frühstücken. Wir setzen uns nicht in das erste, sondern in das zweite oder dritte – alle Cafés auf Montmartre scheinen von hervorragender Qualität zu sein. Unseres ist außen mit einer üppigen, künstlichen Hortensie geschmückt. Wie ein Bettler, der nach seiner letzten Münze kramt, greife ich nach spärlichen französischen Sätzen, um mit der geschäftigen Kellnerin einen Scherz zu machen. „Mademoiselle, si notre petit-déjeuner est aussi bon que votre recommandation, avons-nous vraiment besoin de tout le reste?“ Gebäck und Süßigkeiten – oh là là – da wird einem einiges serviert, dem ich mich gerne entziehen würde. Der Kaffee erweist sich immerhin als ausgezeichnet.

Auch das Wetter lädt zum Flanieren ein. Das Sonnenlicht macht auf der Messingplatte mit der Aufschrift „Liberté, Égalité, Fraternité“ eine Pause, um sich bedenkenlos in die Diamantketten und Diademe in den Auslagen der Juweliere am Place Vendôme zu stürzen. Die ganze Stadt scheint hell und durchsichtig wie ein frisch geputztes Schaufenster. Graffiti gibt es fast nirgendwo zu sehen. Selbst die Bürgersteige verströmen den subtilen Duft von Reinigungsmitteln. Manche stellen sich Paris als ein schmutziges und gefährliches Loch vor. Meine Beobachtungen sehen ganz anders aus. Im Vorfeld der Olympischen Spiele wurde die Stadt auf Hochglanz poliert. „Ich fühle mich hier sicherer als in Berlin“, sagt meine Begleiterin, als wir nachts durch Montmartre spazieren.

Tagsüber begegnet man im Stadtzentrum alle drei bis fünf Minuten einer Patrouille. Police Nationale, Gendarmerie, Brigade Anti-Criminalité, Compagnie Républicaines de Sécurité, Légion, Sentinelle: Ganz in Schwarz, mit Schutzwesten, in Flecktarn oder in Polizeiblau durchstreifen sie die Stadt. Baskenmützen rutschen leicht zur Seite, während die Maschinengewehre im Takt wippen. D'Artagnan und die drei Musketiere. Auf der anderen Seite des Place Pigalle nähert sich die Kardinalsgarde.

Das Verschwinden von Paris' traditionellem Erbe

In den vergangenen Monaten wurden Tausende von Obdachlosen, Prostituierten und Migranten aus Paris vertrieben. Die Stadtverwaltung räumte die von Chaoten besetzten Häuser und beseitigte die Zelte und Kisten, in denen die Obdachlosen schliefen. Der linke Tenor sprach sofort von einer „sozialen Säuberung“, doch auch die Bewohner der Gegenden, in denen Obdachlose und Migranten untergebracht waren, zeigten kein Verständnis für die Maßnahme.

Klar, der eiserne Besen der Gentrifizierung kommt nicht zur Ruhe, selbst nachdem er die unteren Schichten der Stadt gereinigt hat. So hat auch die traditionsreiche rechtsgerichtete Buchhandlung La Nouvelle Librairie die bunten und vielfältigen Olympiagäste weder durch einen Artikel noch durch eine Veranstaltung verunsichern können. Um den störenden Punkt von der Stadtkarte zu tilgen, war keine rohe Staatsgewalt erforderlich; der finanzielle Würgegriff genügte. Der frühere Besitzer des Ladens, François Bousquet, Chefredakteur der Zeitschrift Éléments und Weggefährte von Benoist, erklärte, dass die Schließung zum einen durch den Tod eines langjährigen Förderers bedingt sei und zum anderen – und das vor allem! – durch die schwindende Kaufkraft rechter Kunden in Paris, insbesondere vor dem Hintergrund steigender Kosten. Bemerkenswert ist, dass eine linke Buchhandlung den erforderlichen Betrag mühelos aufbringen konnte. Jetzt sieht man im Schaufenster den vom Nachmieter angebrachten Zettel, auf dem „Adieu Far-Right Bookstore“ und Ähnliches in der Sprache des Besatzers geschrieben steht.

Das unerwartete Ende von Paris Nouvelle

So wirken die flüchtigen Eindrücke von Paris in den Tagen nach der Olympiade. Wenn es regnet, verwandelt sich die Stadt in ein Aquarell. Man kauft sich auf der Straße einen Regenschirm und gleitet als einer der verschwommenen Farbflecken – rosa, grau, blau – zwischen den anderen dahin. Es ist schön, sich dann unter das Vordach eines Cafés zu flüchten, ein Glas Burgunder Pinot Noir zu bestellen und das Buch, das man bei sich trägt, aufzuschlagen, um die Abenteuer eines Mannes namens Gilles zu verfolgen: „Die Franzosen haben nur noch eine Leidenschaft: das Verrecken … Eine junge Bäuerin sagte mir einst: 'Glauben Sie, dass ich Kinder haben werde? Wozu denn?' Hättest du ihre Augen in diesem Moment gesehen. Eine Leere, die keine Tiefe kennt, ein Fleck des Nichtseins. Sie haben alles vergessen, sie wissen nichts mehr. Sie sind nicht mehr Teil der Welt der Tiere, nicht mehr Teil der Welt der Menschen.“

„Genau wie die Pariser!“

Ich werde von einem Anruf über Messenger unterbrochen. Es ist mein Bruder. „Wir haben ein Problem“, sagt er. „Ein großes. Die gesamte Finanzierung wird gestrichen. Plötzlich braucht man die Stadt doch nicht mehr. Was soll man machen?“

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor

Ilia Ryvkin

Ilia Ryvkin Jahrgang 1974, wurde im russischen Petrosawodsk geboren und lebt derzeit in Berlin. Als Journalist und Dramaturg erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien. Ryvkin ist als Korrespondent für Osteuropa und Zentralasien tätig.

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