Linke Zivilgesellschaft: 551 Fragen und der deutsche Schuldkult
Mit einem Fragenkatalog zur politischen Neutralität linker NGOs hat die Union zuletzt einen Nerv getroffen und hysterische Reaktionen ausgelöst. Kevin Naumann analysiert in seinem Kommentar für FREILICH, wie der deutsche Schuldkult und die kulturelle Hegemonie der 68er eine Identitätskrise in der heutigen Politik hervorrufen.
Am Abend der Bundestagswahl haben sich linke Demonstranten vor der CDU-Parteizentrale versammelt. „Wir verurteilen Deutschland – Schande über dich CDU“, steht auf einem Schild.
© IMAGO / dts Nachrichtenagentur551 Fragen zur politischen Neutralität der linken Zivilgesellschaft seitens der Unionsfraktion brachten den linksliberalen Konsens zum Bersten. Der SPD-Politiker Lars Klingbeil sprach angesichts des Fragenkatalogs von einem Foulspiel der Union („Organisationen, die unsere Demokratie schützen, werden an den Pranger gestellt“). Zahlreiche andere politische Akteure bis hin zu Medienleuten empörten sich ebenso.
In einer funktionierenden Demokratie stellt die Opposition Fragen an die Regierung – für Linke, SPD und Grüne jedoch ein Affront sondergleichen. Dass diese Kreise nun derart hysterisch und nervös reagieren, lässt darauf hinweisen, dass hier ein empfindlicher Nerv getroffen wurde, wenn nicht sogar die Achillesferse ihrer Kulturhegemonie. Mehr noch als einem moralischen Reflex liegt dem Thema jedoch ein morbides pathologisches Phänomen zugrunde: der deutsche Schuldkult.
Der deutsche Schuldkult: Mythos und Moral
Im Buch Finis Germania beschreibt der Historiker Rolf Peter Sieferle den „Mythos Auschwitz“ als eine Art moralisches und kulturelles Fundament, das Deutschland nach 1945 prägt. Er sieht darin nicht nur die historische Realität des Holocausts, sondern überhöhte, fast religiöse Narrative, die als ultimative Schuld- und Sühnegeschichte fungieren. Für Sieferle ist dieser „Mythos“ eine Art kollektiver Zwang, der die deutsche Gesellschaft dazu bringt, ihre politischen und moralischen Entscheidungen ständig an dieser historischen Schuld auszurichten – oft auf Kosten rationaler oder pragmatischer Überlegungen.
Mit Sieferle ließe sich argumentieren, dass es die 68er waren, die diese ideologische Grundlage für die heutigen linken NGOs gelegt haben. Ihre Werte – Antifaschismus, globale Solidarität, Kritik an Nationalstaat und Kapitalismus – wurden in den staatlichen und gesellschaftlichen Mainstream integriert. Die Empörung über die Unionsanfrage kann als Reflex dieser verinnerlichten 68er-Moral betrachtet werden, die jede Kritik an den Werten und Projekten der „liberalen Demokratie“ als Angriff auf die eigene Identität empfindet.
Die 68er und ihre ideologische Erbschaft
Und so gelangt man an den entscheidenden Punkt: Jede Facette einer positiven deutschen Identität gilt dem breiten antifaschistischen Konsens der Erben der 68er, die heute als kulturelle Tonangeber in den Institutionen hocken, als ein möglicher Schritt in Richtung Auschwitz. In einer so fundamental verankerten identitären Störung erlangt der programmatische Antifaschismus sozusagen religiöse Züge. Linke Aktivisten auf der Straße und in den staatlichen Institutionen sind die Priester, die Demos gegen rechts breiter zivilgesellschaftlicher Bündnisse die Prozessionen in der Freiluftkathedrale der Schuld, das Bild eines Hitler die schwarze Sonne, die sie fürchten, welche sie anbeten und die niemals verschwinden darf, die Demokratie der Altar, auf dem sie Souveränität und Freiheit opfern.
Deutschland oder die Deutschen müssen demnach verschwinden und in einer Menschheitsgesellschaft aufgehen. Angeklagt ist der Deutsche aus Fleisch und Blut und nicht die Herrschaftsform, denn das Deutsche ist der Teufel, der Unheil über den Planeten brachte. Der Antifaschismus, wie er heute oft praktiziert wird, könnte die Radikalisierung dieses antifaschistischen Prinzips darstellen – ein Weltbild, in dem alles Deutsche potenziell faschistisch ist, solange es nicht aktiv negiert oder überwunden wird. Deutsch sein heißt menschheitsunfähig sein.
Das „Deutsche“ als Problem: Der paradoxe Endpunkt
In der Logik dieses religiösen Antifaschismus wird „deutsch“ mit der NS-Vergangenheit gleichgesetzt. Jede Form von nationalem Selbstbewusstsein, jede Verteidigung einer deutschen Identität könnte als Relikt oder Wiederkehr des Faschismus gedeutet werden. Wenn der Antifaschismus zur absoluten Tugend erhoben wird, dann bleibt für die Deutschen nur die Option, sich selbst aufzugeben, um „rein“ zu sein. Das „Deutsche an sich“ – als kulturelle, historische oder ethnische Kategorie – wird zum Problem, das es zu eliminieren gilt. Er könnte das als paradoxen Endpunkt des Schuldkults sehen: Die Deutschen müssen „verschwinden“, nicht physisch, sondern als kollektives Subjekt, um den antifaschistischen Anspruch zu erfüllen.
Deutschland hat sich „selbst zum Mythos gemacht“ – einem Mythos „ewiger Schuld“, wie es der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck einst verlas, der keine positive Selbstbehauptung mehr zulässt.
Es läuft auf eine Art Selbstauflösung hinaus. Das würde nicht bedeuten, dass die Deutschen physisch ausstürben, sondern dass ihre Identität als Volk, ihre Kultur und ihr Selbstverständnis systematisch dekonstruiert werden, bis nichts Eigenständiges mehr übrig ist. Migration, Multikulturalismus oder die Aufgabe nationaler Souveränität könnten Symptome oder Werkzeuge dieses Prozesses sein. Die NGO-Maschine und das von ihr propagierte Bild führen unweigerlich zu der provokanten Frage: Wie kann ein Volk weiterhin existieren, wenn sein Selbstbild aus Schuld und Ablehnung besteht? Welch Zeichen zivilisatorischer Dekadenz – eine Nation, die sich selbst nicht mehr will, weil sie glaubt, dass ihre Existenz an sich eine Bedrohung darstellt. Diese Zivilgesellschaft, die sich als moralische Avantgarde versteht, ist kein Zeichen von Erneuerung, sondern ein Symptom des Verfalls – ein letzter, verzweifelter Versuch, Sinn in einer Welt zu finden, die ihren inneren Zusammenhalt verloren hat.
Denn was dieser undeutsche Geist von Deutschland verlangt, ist ein Land ohne Grau und Ambivalenzen, eine bruchlose, heile Welt. Kraft dieser Tugendökonomie wird nicht gestaltet, sondern kompensiert – ein Akt der Schwäche, getarnt als Stärke. Aktivisten, die für offene Grenzen kämpfen, begreifen nicht, dass sie damit nicht nur die physischen, sondern auch die kulturellen Mauern niederreißen, die ihnen ihre Pseudorebellion doch erst gewähren. Ein Nichts, das sich in seiner Hypermoral selbst als alles feiert.
Macht und Souveränität: Die Rolle der Zivilgesellschaft
Wenn der aktuelle und überfällige „Skandal“ die „normale“ Ordnung infrage stellt, müsste man mit Carl Schmitt darauf schauen, wer die Macht hat, die Regeln außer Kraft zu setzen oder neu zu setzen. Wer entscheidet letztlich über den Einsatz dieser Gelder und die Ziele dieser „Zivilgesellschaft“? Für Schmitt wäre entscheidend, ob der Staat als souveräner Akteur die Richtung vorgibt oder ob die Zivilgesellschaft selbst in der Lage ist, einen eigenen politischen Kurs zu fahren. Wenn die Finanzierung an Bedingungen geknüpft ist, würde er darin den Beweis sehen, dass der Staat die Oberhand behält und die Zivilgesellschaft nur eine scheinbare Autonomie besitzt. Das würde seiner Ansicht nach die Freund-Feind-Dynamik nicht aufheben, sondern verschieben: Die geförderte Zivilgesellschaft könnte als „Freund“ des Staates gegen andere gesellschaftliche „Feinde“ instrumentalisiert werden.
Die Rhetorik der Emanzipation würde nur die tatsächliche Unterordnung unter die souveräne Macht verschleiern. Der Staat als Akteur behält durch die Finanzierung die Kontrolle über den Begriff des Politischen – wer Freund und Feind ist, wird nicht direkt von der Zivilgesellschaft bestimmt, sondern von der Instanz, die die hunderten Millionen Steuergeld und wichtige Ressourcen bereitstellt – was die Zivilgesellschaft zu einem gut geschmierten Getriebe innerhalb des Herrschaftsapparats macht.
Die Opposition in der Krise: Perspektiven und Konsequenzen
Was also tun? Wenn die Opposition ihre Kontrollrechte nicht wahrnimmt oder nur halbherzig ausübt, muss davon ausgegangen werden, dass sie kein Interesse an der Erringung der Souveränität oder diese – wie bisher – in die Tiefenstrukturen der linken Kulturhegemonie ausgelagert hat. Dann handelt sie nur politisch über Bande und nur so lange, wie es ihr machtpolitisch nützt. Nun fiel der Union diese unpolitische Naivität jedoch auf die Füße und sie wurde selbst zum Feind innerhalb der eigenen Sphäre. Solange sich die Feindschaft gegen die AfD richtete, duldete man sogar physische Angriffe durch Nicht-Thematisierung oder Häme.
Nun wächst das Bewusstsein und man sieht den Aufstieg der AfD vor allem in Mitteldeutschland, aber auch im Westen und steht nun vor der Frage: welcher Weg? Eine Abspaltung der Ost-CDU steht aktuell ebenso wenig zur Debatte wie ein politischer Kurswechsel – der würde einen Stilwechsel einfordern. Hält man an der aktuellen Linie fest oder ist man zu spät, droht die politische Bedeutungslosigkeit, zuerst in der Mitte Deutschlands, später in der gesamten Bundesrepublik. Mit dem derzeitigen Personal jedoch sieht es sehr stark nach Machterhalt um jeden Preis aus. Dann hätte es diese Partei nicht anders verdient und sie würde langfristig unter den Strömen einer nach rechts kippenden Zeit verschwinden. Alle Zeichen stehen daher auf der Verlängerung der Agonie deutscher Identität, dem Schlüssel zur Verantwortung für das Eigene und Künftige.