Maß statt Gefolgschaft: Über einen souveränen deutschen Standpunkt in der multipolaren Welt
Zwischen multipolarer Weltordnung und geistiger Nachkriegsroutine verliert Deutschland außenpolitisch an strategischer Klarheit und Handlungsspielraum. Kevin Dorow plädiert für einen nüchternen, mitteleuropäisch verankerten Souveränitätsbegriff, bei dem Interessen über Loyalitätsrituale gestellt werden.
Die außenpolitische Lage Deutschlands im frühen 21. Jahrhundert ist von einer eigentümlichen Spannung geprägt. Einerseits werden die Rückkehr der Machtpolitik, die Erosion internationaler Ordnungen und das Entstehen neuer Machtzentren nahezu täglich konstatiert. Andererseits verharrt das politische Denken vielerorts noch immer in Kategorien der Abhängigkeit, der Loyalitätsrhetorik und der moralischen Selbstverortung. Zwischen diesen beiden Polen – der Realität einer multipolaren Welt und dem mentalen Nachhall der Nachkriegsordnung – klafft eine strategische Leerstelle.

Ein souveräner deutscher Standpunkt würde diese Leerstelle füllen. Nicht durch demonstrative Abkehr von Partnern, sondern durch die nüchterne Rückbesinnung auf das Eigene: auf Lage, Interessen und Möglichkeiten eines Landes in der Mitte Europas.
Die deutsche Mittelstellung als Konstante
Deutschlands geografische und politische Lage ist keine variable Größe, sondern eine Konstante der Geschichte. Sie zwingt zur außenpolitischen Mäßigung und belohnt Maßhalten. Staaten an den Rändern können sich Konfrontation eher leisten; Staaten im Zentrum müssen ordnen, vermitteln, ausgleichen.
Ein souveräner Standpunkt erwächst aus dieser Lage. Er ist weder westlich noch östlich, sondern mitteleuropäisch. Er misst Nähe und Distanz nicht nach ideologischer Sympathie, sondern nach strategischer Wirkung. Abhängigkeit – gleich von welcher Seite – widerspricht dieser Logik.
Die Vereinigten Staaten und Russland bleiben auf absehbare Zeit zentrale Akteure der internationalen Politik. Beide verfolgen eigene, konsistente Interessen, die aus ihrer jeweiligen Machtstellung, Geschichte und Geografie erklärbar sind. Diese Interessen sind nicht identisch mit den deutschen – und müssen es auch nicht sein.
Ein souveräner deutscher Standpunkt vermeidet daher die Verwechslung von Partnerschaft und Gefolgschaft. Nähe zu Washington darf nicht bedeuten, amerikanische Prioritäten automatisch zu übernehmen. Distanz zu Moskau darf nicht bedeuten, den Gesprächsfaden abzuschneiden. Das Gleiche gilt auch andersherum. Außenpolitik, die sich an emotionalen Frontlinien orientiert, verliert an Tiefe.
Deutschland hat weder ein Interesse an dauerhafter Konfrontation mit Russland noch an einseitiger sicherheits- sowie wirtschaftspolitischer Abhängigkeit von den USA. Beides reduziert Handlungsspielräume und bindet Ressourcen. Souveränität zeigt sich gerade darin, solche Einseitigkeiten zu vermeiden.
Europa als politischer Maßstab
Der natürliche Bezugsrahmen deutscher Außenpolitik ist Europa. Nicht als abstraktes Projekt, sondern als konkreter Raum gemeinsamer Interessen. Sicherheit, Wirtschaft, Infrastruktur und Stabilität sind hier enger miteinander verflochten als in jedem globalen Bündnis. Gerade das Aufblühen europäischer Rechtsparteien kann und sollte hierbei als Chance für ein neues, souveränes Europa betrachtet werden.
Ein eigenständiger deutscher Kurs setzt daher auf europäische Handlungsfähigkeit. Diese entsteht nicht durch rhetorische Einigkeit, sondern durch materielle Grundlagen: industrielle Substanz, Energieversorgung, technologische Kompetenz und sicherheitspolitische Koordination. Ohne diese Grundlagen bleibt Europa Objekt fremder Strategien.
Deutschland trägt hier besondere Verantwortung. Sowohl als Führungsmacht als auch als ordnende Kraft. Souveränität auf europäischer Ebene bedeutet, sich nicht dauerhaft zwischen äußeren Polen aufreiben zu lassen, sondern eigene Schwerpunkte zu setzen.
Die multipolare Welt ist kein Ausnahmezustand, sondern der Normalfall der Geschichte. Phasen hegemonialer Ordnung waren stets begrenzt. Heute kehren wir zu einer Welt zurück, in der Macht verteilt, Interessen plural und Allianzen beweglich sind.
In einer solchen Ordnung ist ideologische Festlegung hinderlich. Beweglichkeit, Gesprächsfähigkeit und strategische Geduld gewinnen an Bedeutung. Staaten, die ihre Außenpolitik auf moralische Absolutheiten gründen, verlieren Anpassungsfähigkeit. Staaten, die Interessen klar benennen, bleiben berechenbar.
Deutschland ist gut beraten, Multipolarität nicht als Bedrohung, sondern als Handlungsraum zu begreifen. Dies setzt voraus, mit allen relevanten Akteuren zu sprechen; nicht aus Zustimmung, sondern aus Notwendigkeit.
Abhängigkeit als strategisches Risiko
Souveräne Außenpolitik beginnt im Inneren. Ein Staat, der energiepolitisch, wirtschaftlich oder technologisch einseitig gebunden ist, kann außenpolitisch nicht frei handeln. Abhängigkeiten wirken still, aber nachhaltig. Sie begrenzen Optionen, bevor Entscheidungen überhaupt getroffen werden.
Die Vermeidung solcher Abhängigkeiten ist keine ideologische Frage, sondern eine strukturelle. Diversifizierung, Redundanz und Eigenleistung sind klassische Elemente staatlicher Vorsorge. Sie gewinnen in einer fragmentierten Weltordnung erneut an Gewicht. Deutschland muss diese Zusammenhänge wieder als politische Kernfragen begreifen – nicht als technische Randthemen.
Gesprächsfähigkeit ist dabei kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck strategischer Reife. Diplomatie lebt vom offenen Kanal, nicht von der öffentlichen Geste. Wer den Dialog abbricht, verzichtet auf Einfluss und überlässt die Gestaltung anderen.
Ein souveräner deutscher Standpunkt vermeidet daher vorschnelle Festlegungen. Nicht jede internationale Krise verlangt Positionierung, nicht jede Entwicklung moralische Bewertung. Zurückhaltung ist außenpolitisch in vielen Fällen produktiver als Aktionismus. Diese Form der Zurückhaltung verlangt Selbstvertrauen. Sie setzt voraus, dass man den eigenen Standort kennt und nicht ständig bestätigen muss.
Ein souveräner deutscher Standpunkt entsteht daher nicht durch Distanzierung von Partnern, sondern durch Klarheit über sich selbst. Er vermeidet Abhängigkeit, ohne Beziehungen zu kappen. Er setzt auf Europa, ohne sich von globalen Entwicklungen abzuschließen. Er akzeptiert Multipolarität, ohne sich in ihr zu verlieren.
Vor allem aber verzichtet er auf die Illusion, Außenpolitik könne moralisch sauber sein. Politik ist kein Bekenntnis, sondern Ordnungskunst. Wer das akzeptiert, bleibt handlungsfähig.





