„Wir erleben womöglich die permanente Krise als neue Normalität“

Im FREILICH-Interview spricht der Politologe Benedikt Kaiser über die Konvergenz der Krisen und die Möglichkeiten der patriotischen Opposition.

Interview von
5.1.2023
/
5 Minuten Lesezeit
„Wir erleben womöglich die permanente Krise als neue Normalität“

Benedikt Kaiser

FREILICH: Herr Kaiser, Finanzkrise 2008, Eurokrise 2012/13, Flüchtlingskrise 2015, Coronakrise 2020f, Energiekrise 2022 – schlittern wir in eine Zeit voller Krisen? Wird dieses Jahrzehnt das „Dezennium der Krisen?“

Benedikt Kaiser: Wir erleben jedenfalls eine „neue Normalität“, und diese neue Normalität bringt uns die Krise in Permanenz. In der Krise leben heißt heruntergebrochen: in einer schwierigen, herausfordernden Lage leben, in einer Phase, die – je nach Krisenverlauf und je nach Verhalten der Krisenakteure, je nach Dynamik also – das Potential zu Umbrüchen und Wenden, aber auch zur bloßen Krisenvertagung (auf spätere Zeiten) in sich trägt. Eine Krise ist immer ergebnisoffen.

Was unsere konkreten Krisen nun betrifft, haben Sie tatsächlich Recht: Die Krisenintervalle werden kürzer, eine folgt auf die nächste in kürzerem Abstand als man das vielleicht in den 1970er- oder 1980er-Jahren gewohnt war. Das hat unterschiedliche Gründe: Der Einschnitt durch „Corona“ war nicht vorhersehbar. Aber andere Krisen, zum Beispiel die Migrationskrise 2015, sind menschengemachte Krisen, die sich heute wiederholen. Was wiederum die Finanz- und Eurokrise angeht – bitte, die läuft seit 15, 16 Jahren ununterbrochen weiter. Das Finanzsystem operiert im Krisenmodus seit mindestens 2007/08, als die schwerste Krise der Finanzwirtschaft und des Finanzsystems seit dem Ende der 1920er-Jahre ausbrach, und die Eurokrise fand nicht nur 2012/13 statt, wie Sie andeuten, sondern ist bis heute nicht gelöst. Auch diese Krise (bzw.: ihre Lösung) wird nur verschleppt.

Wir erleben also womöglich kein bloßes „Jahrzehnt der Krisen“, sondern die permanente Krise als neue Normalität. Es entstand schon vor Jahrzehnten, so schreibt es Joscha Wullweber in seiner Studie Zentralbankkapitalismus (Berlin 2021), „ein Nährboden, der die Wahrscheinlichkeit von Krisen mit globalem Ausmaß stark erhöhte“. Auf diesem Boden gedeihen heute die angeführten Krisen, und das erleben wir heute Lebenden als „Never Ending Crisis“.

Kann man diese Krisen auf politische Strukturen zurückführen? Zum Beispiel auf den „globalen Kapitalismus“?

Da muss man sich die einzelnen Krisen genauer ansehen. In aller gebotenen Kürze kann man aber sagen, dass die neuen Krisen einen banalen Umstand gemeinsam haben, der durchaus keine banalen Folgen hat, sondern existenzielle: In einer globalisierten Welt nimmt eine Krise schneller globale Züge an. Und das hat folglich stärkere Auswirkungen als isolierte nationale Krisen oder explizit kontinentale Besonderheiten. Wenn alles miteinander vernetzt ist und beispielsweise der globale Markt mit seinen globalen Handelsketten neue Fragilität erfährt, die immer in diesem System angelegt war, aber den Menschen in Aufschwungphasen nicht in dieser Vehemenz bewusst gewesen ist, dann können bestimmte Krisenentwicklungen andere Entwicklungen auslösen und krisenbehaftete Kettenreaktionen verursachen.

Das war im 19. Jahrhundert und selbst im 20. Jahrhundert natürlich noch deutlich anders als im Zeitalter des digitalisierten, finanzialisierten und globalisierten Weltkapitalismus. Dieser ist kein monolithischer Block, kein Einheitssystem; er weist nationale und kontinentale Spezifika auf. Aber charakteristisch für diese Epoche der krisenanfälligen Weltökonomie ist der neue Grad der Virtualität und Vernetzung, der gegenseitigen Abhängigkeiten und Interdependenzen, der Anfälligkeit und „Vulnerabilität“ weltweiter Wertschöpfungsketten usf. Ein Ereignis an Ort X kann eben manifeste Folgen an Ort Y haben, was wiederum auf Ort Z nachwirkt usw. Nicht grundlos nannte Alain de Benoist eine seiner antiglobalistischen Aufsatzsammlungen Schöne vernetzte Welt

In dem Podcast der Bürgerplattform EinProzent sprachen Sie von einer „Konvergenz der Krisen“ – Können Sie bitte diesen Begriff ein bisschen ausführen?

Mit der „Konvergenz der Krisen“ versuche ich die neue Intensität und Intervalltaktung der politischen, gesellschaftlichen, ökologischen und wirtschaftlichen Krisen in Worte zu fassen. Sie sind keine isolierten Krisen, die lediglich für sich genommen zu analysieren und zu verstehen wären. Sie laufen zusammen, sie konvergieren. Das hat zur Folge, dass die Krisen dichter, intensiver, geballter werden. Sie werden dadurch für das Bestehende, für die herrschenden Verhältnisse und ihre Begünstigten, gefährlicher. Damit ist aber noch nichts über den Ausgang der Krisen gesagt.


Unsere gewohnte Welt steht Kopf. Wir schlittern von Krise zu Krise. Bevor die eine bewältigt ist, kommt auch schon die nächste. Die Krise wird zum Alltag, zu unserer neuen Normalität. In der neuen FREILICH-Ausgabe analysieren wir Ursachen und Folgen dieser Entwicklungen.

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Guillaume Faye, ein 2019 verstorbener Denker der französischen Rechten, ging von einer „Konvergenz der Katastrophen“ aus. In seinem gleichnamigen Werk, 2004 auf Französisch und 2014 auf Englisch erschienen (bis heute nicht auf Deutsch), prophezeite er diese Katastrophenkonvergenz als Zusammenlaufen von entsetzlichen, brutalen, eben katastrophalen Eskalationen. Diese Sichtweise lässt sich begründen als eine mögliche Entwicklung im 21. Jahrhundert. Aber sie ist mir, lässt man nur sie als Erklärungsmodell zu, zweifellos zu deterministisch. Denn Faye geht von inneren Gesetzmäßigkeiten aus, die seiner Überzeugung nach das liberale westliche System zum Einstürzen bringen werden. Als Gründe benennt er etwa islamische Massenzuwanderung, den Klimawandel und die massive Überalterung der Europäer.

Indes: An inneren Gesetzmäßigkeiten ist schon die kapitalistische Produktionsweise nicht zugrunde gegangen, wie es die orthodoxen Marxisten fälschlich im Ideengebäude des Historischen Materialismus zu ihrem Axiom erhoben. Und auch Faye sitzt diesem Fehler der geschichtlichen Alternativlosigkeit auf, nur eben von einer radikal rechten Positionierung aus, was ihn dazu treibt, dass er im „Post-Katastrophen-Zeitalter“ das logische Aufkommen eines nichtmaterialistischen „Archäofuturismus“ als Gegenbild zur dann untergegangenen materialistischen Welt(un)ordnung verkündet. Das erinnert mich an jene Marxisten, die davon ausgingen, dass der Kapitalismus „gesetzmäßig“ durch den Sieg des Sozialismus überwunden würde, auf den später der vermeintlich höhere nächste Entwicklungsschritt, der Kommunismus, folgen könnte …

Kurz gesagt: Faye dreht ein falsches vulgärmarxistisches Denkmodell auf rechts, übernimmt dabei aber – sei es auch unbewusst und unfreiwillig – die immanenten Geburtsfehler eines solch dogmatischen Ansatzes. Zudem scheint mir, trotz der prekären Lage Europas, die Fayesche Entwicklung zur Konvergenz der Katastrophen nicht in Stein gemeißelt: Schließt man sich Fayes – interessanter – Gegenwartsanalyse und seiner – alarmistisch-verstiegenen – Zukunftsprognose an, ist das Risiko groß, in einen übertriebenen, zur Untätigkeit motivierenden Fatalismus zu verfallen. Das liegt insbesondere daran, dass Faye ganz einfach verschiedene Potentiale ausblendet, darunter ausgerechnet individuelles und kollektives Handeln sowie die nicht zu unterschätzende Kraft des Zufalls, d. h. des unvorhersehbaren historischen Ereignisses.

Aus diesen Gründen spreche ich lieber von der „Konvergenz der Krisen“ als von einer „Konvergenz der Katastrophen“. Denn eine Krise ist, wie alle menschengemachte Geschichte: kontingent, ergebnisoffen, beeinflussbar. Sie kann in die eine wie in die andere Richtung verlaufen und auslaufen oder sich zuspitzen, und das weist den politisch handelnden Subjekten eine höhere Relevanz zu als deterministische Annahmen, denen zufolge bestimmte Entwicklungen „ohnehin unvermeidlich“ sind. Da spielt es keine Rolle, ob diese abzulehnenden deterministischen Annahmen nun liberal, wie im Progressivismus der Fortschrittsideologie, historisch-materialistisch, wie im klassischen Marxismus, oder, rechts, wie im Ultra-Katastrophismus Guillaume Fayes, aufgeladen sind.

Was bedeutet diese „Konvergenz der Krisen“ für die patriotische Opposition? Ist „Krisenzeit“ auch „Oppositionszeit“?

Jede Zeit ist Oppositionszeit. Als Alternative zum falschen Ganzen muss man sich konstant Gehör verschaffen und an einer Erweiterung seiner eigenen Resonanz- und Wirkräume arbeiten. Das ist in Zeiten der permanenten Krise umso wichtiger. Denn in Krisen gehen dem Machtblock, der in sich verschiedene ideologische und materielle Fraktionen beherbergt, regelmäßig Menschen verlustig. Das heißt: Das Vertrauen von Teilen des Volkes in die politischen, medialen und ökonomischen Eliten geht ein Stück weit verloren. Dieses Vertrauen ist aus Sicht der Herrschenden nur schwer wiederherzustellen.

Wer 2008, 2015 oder auch jetzt, in der Energiekrise 2022, von Bord ging und den „Narrativen“ des Establishments nicht mehr glaubt, wer also kritischer denkt oder gar mit den herrschenden Eliten „abschließt“, wird offener für alternative Erzählungen und Deutungen. Der Zustand der „Ansprechbarkeit“ für oppositionelle Arbeit wird so erst hergestellt. Das ist die Voraussetzung für meta- und realpolitisches Ausgreifen aus der patriotischen Szenerie. Fehlt bei den Menschen die Unzufriedenheit mit dem Bestehenden, suchen sie keine Alternativen. Von daher ist die neuartige Konvergenz der Krisen die Conditio sine qua non, also die zwingende Voraussetzung, um überhaupt jenseits der eigenen „Blasen“ politisch und weltanschaulich wirken zu können.

Wohlgemerkt: Das impliziert keine Marxsche oder Fayesche Gesetzmäßigkeit, hier nach dem Motto: Wenn die Menschen den Herrschenden in der Konvergenz der Krisen nicht mehr vertrauen, vertrauen sie der Opposition. So läuft das nicht. Vertrauen muss man sich erarbeiten und Hegemonie will erkämpft sein. Die Krisen schaffen nur die objektiv erforderliche Ausgangsbasis. Alles weitere muss man selbst in die Hand nehmen. Die Konvergenz der Krisen unterstreicht die wesensgemäße Offenheit der Geschichte. Und das sollte just in diesen schweren Zeiten Mut machen und Zuversicht vermitteln. Noch ist Deutschland, noch ist Österreich, noch ist Europa nicht verloren!

Herr Kaiser, vielen Dank für das Gespräch!


Zur Person:

Benedikt Kaiser, Jahrgang 1987, studierte in Chemnitz Politikwissenschaft mit europaspezifischer Ausrichtung (M.A.). Er arbeitet als Lektor und Publizist, wirkt als politischer Kommentator und Analyst. Regelmäßig schreibt Kaiser für Zeitschriften des In- und Auslands wie Die Kehre und Sezession, Kommentár (Ungarn), Tekos (Belgien) und Abendland/Neue Ordnung (Österreich). Für wichtige Magazine der Nouvelle Droite aus Frankreich – éléments und Nouvelle Ecole – gilt er als deutscher Ansprechpartner.

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