Chrupalla zum Gaza-Krieg: „Diplomatische Lösung finden“ – Warum nicht?
Derzeit wird viel über die Aussage des AfD-Vorsitzenden Tino Chrupallas diskutiert, man müsse eine diplomatische Lösung im Krieg zwischen der Hamas und Israel anstreben. Einige Beobachter kritisieren ihn dafür, weil die Hamas angeblich für Diplomatie nicht erreichbar sei. Das ist falsch, meint Bruno Wolters.
Seit Samstagmorgen ist der seit Mitte des 20. Jahrhunderts schwelende Nahostkonflikt in eine neue, noch nie dagewesene Phase der Brutalität und Zerstörung eingetreten. Die Hamas, eine radikal-islamische Gruppe im Gazastreifen, die von vielen Dritten, darunter auch der EU, als Terrororganisation eingestuft wird, griff in den frühen Morgenstunden Israel an und überraschte die israelischen Sicherheitskräfte in den ersten Stunden. Es kam zu brutalen Tötungen und Schändungen, die viele Kommentatoren in den sozialen Medien erschütterten. Die Hamas setzte modernste Ausrüstung ein und bewahrte während des Angriffs eine ungewohnte taktische Disziplin. Möglicherweise waren die Entführungen auch geplant, um in den folgenden Tagen ein Druckmittel in der Hand zu haben.
Entsprechend schockiert war die Reaktion im Westen. Zahlreiche Regierungschefs und nationale Spitzenpolitiker sprachen sich für Solidarität und eine breite Unterstützung Israels aus. Auch die AfD veröffentlichte relativ schnell eine Pressemitteilung ihrer Bundestagsfraktion. Darin verurteilte der außenpolitische Sprecher der Partei, Petr Bystron, den Anschlag und erklärte seine Solidarität mit Israel und dem jüdischen Volk. Der Anschlag wurde ausdrücklich als Terrorakt bezeichnet. Wenige Tage später meldete sich zudem Parteichef Tino Chrupalla auf X (ehemals Twitter) zu Wort. Der Sachse erklärte relativ knapp, aber besonnen, dass der Angriff auf Israel zu verurteilen sei. „Ich trauere um alle Kriegstote. Jetzt müssen die Staaten der Region auf Deeskalation setzen, um einen Flächenbrand abzuwenden. Diplomatie ist das Gebot der Stunde. Eine tragfähige Lösung für alle Seiten muss das Ziel sein“, so Chrupalla weiter.
Diplomatie ist schlimmer als Krieg?
Relativ schnell glühte Chrupallas Kommentarspalte. Viele Kritiker, darunter bekannte Akteure wie der Rechtsanwalt Joachim Steinhöfel oder ehemalige Parteimitglieder, warfen dem AfD-Chef Naivität und Ahnungslosigkeit vor oder zeigten sich enttäuscht. Andere Kommentatoren sprachen sogar von einer angeblichen Einflussnahme aus Russland. Auch Parteikollegen kritisierten den Malermeister. So schrieb Norbert Kleinwächter, der bereits in den letzten Monaten auf Kriegsfuß mit einigen Parteikameraden stand: „Hamas ist eine Terrororganisation. Als du in die AfD eingetreten bist, war diese noch gegen islamistischen Terror. Den unterbindet und vernichtet man. Das Existenzrecht und die Sicherheit Israels sind unverhandelbar. Auch deshalb sind wir Teil des Westens.“
Der Tenor der Kritiker ist einhellig: Chrupallas Hinweis auf eine diplomatische und nachhaltige Lösung sei ein Aufruf zur Selbstaufgabe Israels und die Verneinung eines Rechts auf Selbstverteidigung. Es ist eine Argumentationslogik, die bereits 2022 die Diskussionen beherrschte, als Russland die Ukraine angriff. Auch damals hieß es bei einigen Beobachtern in Medien, Politik und Netz: „Mit Putin ist eine Verhandlungslösung nicht zu machen. Nur ein militärischer Sieg ist akzeptabel. Mit Verbrechern verhandelt man nicht“. Eine bequeme Argumentation, denn sie immunisiert von vornherein gegen jede Kritik oder andere Position, denn: „Wer mit Verbrechern verhandeln will, ist ein schlechter Mensch und außerdem will die andere Seite sowieso nicht verhandeln!“
Einschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten
Es ist ein fälschlicher Ausschluss eines Weges der Diplomatie, der zwar im Krieg aus psychologischen und organisatorischen Gründen hilfreich sein kann, um die eigene Gruppe zusammenzuhalten, der aber in letzter Konsequenz genauso zynisch und unmenschlich ist wie der vermeintliche Andere, dem diese Eigenschaften zugeschrieben werden. Denn wer nicht verhandeln will, will bis zum letzten Mann kämpfen. Das ist nichts anderes als der totale Krieg. Die Folgen einer solchen Haltung können wir gerade in der Ukraine beobachten, wo die sich verteidigende Bevölkerung buchstäblich auf dem Zahnfleisch geht, ohne den angestrebten Siegfrieden und die Rückeroberung der Krim irgendwie zu erreichen. Die Fleischmühle an der Front wird gefüttert, obwohl Verhandlungen mit Putin möglich sind, wie das Getreideabkommen und die Verhandlungsrunden in der Türkei gezeigt haben.
Nun ist der Fall Israel und Hamas etwas komplizierter. Die Hamas hat sich zum Ziel gesetzt, Israel zu vernichten – was ihr seit 40 Jahren nicht gelungen ist. Sie ist seit mehr als 15 Jahren der wichtigste politische Akteur im Gazastreifen und hat daher Interessen, die über das ursprüngliche Ziel hinausgehen. Etablierte Organisationen entwickeln mit der Zeit eigene Interessen und Ziele – es geht um Macht, Geld und Posten. Insofern ist es durchaus fraglich, ob die Hamas mit dem aktuellen Angriff tatsächlich die Vernichtung Israels anstrebt oder ob nicht auch geopolitische, innerpalästinensische und regionale Entwicklungen eine Rolle gespielt haben. Als radikal-islamistische Gruppierung agiert die Hamas auch terroristisch, was aber nicht bedeutet, dass sie sich Verhandlungen und Diplomatie verschließt. Im Gegenteil: Es gibt genügend Wege und Hebel, um direkt auf die Hamas und ihre Führung einzuwirken.
Diplomatie mit Islamisten ist möglich
Es ist übrigens auch gar nicht so unüblich, mit islamistischen Terrorverbänden zu verhandeln. So gab es Vermutungen über geheime und indirekte diplomatische Kontakte zwischen dem IS und arabischen Staaten. Mit den radikalen Taliban in Afghanistan wird jedoch offen und direkt auf dem diplomatischen Parkett diskutiert – und das trotz der durchaus auch terroristisch-islamischen Vorgehensweise der Taliban. Bevor die Taliban in Kabul die Macht 2021 übernahmen, gab es in Verhandlungen am persischen Golf, da die Paschtunen-Gruppe in Doha, der Hauptstadt Katars, die einzige Auslandsvertretung besaß. Katar geht hier einerseits als Vermittler, aber auch als Akteur mit eigenen Interessen vor, denn es wird von Experten vermutet, dass die reichen Katarer zu den Finanziers der Taliban, aber auch der Hamas gehören.
Der diplomatische Höhepunkt ereignete sich 2020: Doha war damals Schauplatz der Verhandlungen zwischen den Taliban und den USA über den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan. Bei der Unterzeichnung des sogenannten Doha-Abkommens konnte sich Katar als Vermittler präsentieren – als Land, das den größten US-Luftwaffenstützpunkt im Nahen Osten beherbergt und gleichzeitig radikale Islamisten. Später half Katar, zehntausende Menschen auf der Flucht vor den Taliban über den Flughafen von Kabul außer Landes zu bringen, darunter auch viele Deutsche und Europäer. Es zeigt sich: Mit islamistisch-radikalen Gruppen ist durchaus zu verhandeln, wenn auch über einen Makler wie Katar.
Mit Hamas verhandeln
Trifft dies auch auf die Hamas im Gazastreifen zu? Wie bereits erwähnt, gibt es vielleicht andere Interessen, die die Hamas zu dem Angriff veranlasst haben. Möglicherweise geht es darum, die aufblühenden diplomatischen Beziehungen zwischen den arabischen Staaten (Saudi-Arabien, Marokko und so fort) und Israel zu verhindern. Die Logik dahinter ist kühl und zynisch, aber nachvollziehbar: Ein Angriff auf Israel provoziert dessen mächtiges Militär zu harten Gegenschlägen, die die arabischen Staaten wieder auf Distanz zu Tel Aviv bringen. Ebenso könnte man den Angriff als Testballon der iranisch-russischen Achse verstehen, um die derzeit instabilen USA, die unter Rekordverschuldung, Inflation und innenpolitischen Schwierigkeiten leiden und vor einer wichtigen Wahl stehen, an einer weiteren Front zu binden und zu strapazieren. Schließlich könnte die Offensive auch ein Signal an die Palästinenser vor allem im Westjordanland sein, dass nur die Hamas und nicht die dort regierende Fatah, die eher zur Kooperation mit Israel bereit ist, die Interessen der Palästinenser vertreten kann.
Die Hamas, die als Organisation mit Macht und zu verteilenden Fleischtöpfen auch ein Interesse an ihrem Fortbestand haben wird, muss daher diplomatischen Lösungen nicht von vornherein abgeneigt sein. Es stellt sich die Frage, ob der Angriff wirklich auf die „totale Vernichtung Israels“ abzielt und nicht eher profane Gründe hat. Die massenhafte Verschleppung von Geiseln könnte auch ein Indiz für diese Haltung sein – wer Geiseln nimmt, will verhandeln und Menschenleben als Druckmittel einsetzen. Behauptungen über die mangelnde diplomatische Offenheit der Hamas sind also durchaus zu hinterfragen, wenn nicht gar als falsch zu bezeichnen. Und: Es wäre vor allem auch falsch und im Sinne der Chancenmaximierung geradezu idiotisch, nicht wenigstens einmal versucht zu haben, diplomatische Lösungen zu finden. Wer von vornherein nicht durch mögliche Türen gehen will, beschränkt sich selbst.
Mögliche diplomatische Wege
Wie könnte ein konkretes diplomatisches Vorgehen gegenüber der Hamas aussehen? Nun, zunächst einmal könnte ein direkter Versuch der Kontaktaufnahme mit dem Ziel von Verhandlungen, etwa zur Freilassung der deutschen Geiseln, ein Anfang sein. Kontakte und Kommunikation leben aber auch von Kontinuität und Tradition, sodass hier auch Katar und andere arabische Partner unbedingt an den Tisch geholt werden müssen. Zudem haben die Katarer extrem gute Beziehungen zum Gazastreifen, da sie dort seit Jahren mit dreistelligen Millionenbeträgen aktive Unterstützung leisten – mit stiller Akzeptanz Israels. Katar hat in den letzten Jahren bewiesen, dass es ein Verhandlungspartner sein kann, der auch mit isolierten und schwierigen Akteuren wie den Taliban umgehen kann. Auch hier könnte zumindest ein Waffenstillstand möglich sein.
Wenn das nicht hilft, gibt es immer noch diplomatische Möglichkeiten, zum Beispiel diplomatischen Druck auf die Geldgeber und Unterstützer. Die Hamas hat nichts davon, wenn sie im Gazastreifen verliert oder vertrieben wird und dann andere Gruppen wie die Fatah die Macht übernehmen. Aber um den Machtanspruch durchzusetzen, braucht man Geld und militärische Ausrüstung – und hier kann man ansetzen. Die meisten Geldgeber der Hamas sind unter der Hand bekannt und könnten durch diplomatischen Druck dazu gebracht werden, diese Aktivitäten einzustellen. Mit dem Iran ist das natürlich eher schwierig, mit den arabischen Staaten aber durchaus machbar. Gleichzeitig wäre hier aber auch ein enormes diplomatisches Sprengpotenzial vorhanden, das bei falscher Herangehensweise nach hinten losgehen könnte. Zudem könnte ein Stopp aller westlichen Zahlungen an den Gaza-Streifen großen Druck auf die Hamas ausüben – lebt diese doch von der Selbstdarstellung, die Interessen der Bewohner des Gaza-Streifens am besten zu vertreten.
Einfrierung des Konflikts
Eine langfristige und nachhaltige diplomatische Lösung ist derzeit wahrscheinlich nicht möglich, kann aber auch nicht das eigentliche Ziel sein. Vielmehr ist es angesichts der drohenden Katastrophe und der Verluste an Menschenleben notwendig, einen Waffenstillstand und darauf aufbauend ein Einfrieren des Konflikts zu erreichen. Denn die Vertreibung oder schwere Bombardierung der zwei Millionen Menschen im Gazastreifen, die bei völligem Verzicht auf eine diplomatische Lösung der einzige Weg wäre und von israelischen Politikern und Armeeführern teilweise schon skizziert wird, kann und darf nicht versucht werden. Wer sich wirklich um die Geiseln sorgt, aber gleichzeitig das Leben Hunderttausender Palästinenser opfern will, ist ein Heuchler. Der Krieg ist diplomatisch möglicherweise zu lösen, der Konflikt erstmal nicht.
Aber es zeigt sich: Diplomatie ist möglich. Auch mit radikalen Islamisten. Es gibt kein Versprechen, dass diplomatische Kanäle Erfolge bringen, schon gar nicht zeitnah. Aber was spricht dagegen, es zumindest zu versuchen? Nehmen wir an, es gäbe eine Chance, die vielen Geiseln auf diplomatischem Wege zu befreien, aber man verzichtet aus eigener Ignoranz darauf. Diese Geiseln könnten später bei der militärischen Befreiung ums Leben kommen – soll das eine vernünftige und moralisch bessere Lösung sein? Tino Chrupalla hat völlig recht, auch die diplomatischen Lösungswege zu erwähnen. Daraus eine Vernichtung Israels ableiten zu wollen und ihm das in den Mund zu legen, ist infam. Aber in einer Zeit, in der einige deutsche Akteure schon davon sprechen, „den ganzen Gazastreifen dem Erdboden gleichzumachen“, in der also überzogene und zynische Vorschläge gemacht werden, hat Besonnenheit traditionell eher schlechte Karten.