Israel: „Reinheit der Waffen“ als Dilemma
Israel steht an der Schwelle zum erneuten Waffengang. Armee und Nation bildeten stets eine Einheit. Die Siege zu Zeiten Dayans und die Einsatzvorschriften über die „Reinheit der Waffen“ prägen das Selbstverständnis. Doch 2006 und 2014 musste sich Israel mit Strafexpeditionen und begrenzten Zielen abfinden. Zwischen „Lessons Learned“ und „Ex-Post-Syndrom“ soll der kommende Krieg anders enden.
Barfüßige Fellachen schleppen sich durch die Wüste – geschlagen und gesenkten Hauptes. So endeten alle israelisch-arabischen Kriege: vom Unabhängigkeitskrieg über den Suez-, den Sechstage- bis zum Jom-Kippur-Krieg. Divisionen und Geschwader modernster sowjetischer Militärtechnik wurden einmal pro Jahrzehnt zu ausgebranntem Metall, woraufhin Moskau die leeren Arsenale wieder auffüllte.
In den Achtzigerjahren wandelte sich das Gesicht des israelisch-arabischen Konflikts nicht nur vor dem Hintergrund der Abkehr von der zerfallenden Sowjetunion, sondern auch durch die Transformation des Krieges: weg vom symmetrischen Aufeinandertreffen gepanzerter Verbände, unterstützt von Jagdbomberstaffeln, bei dem die überlegene israelische Führung wie Taktik und Wagemut entschieden, hin zum asymmetrischen Schlagabtausch zwischen ungelenkten Raketen und „smart bombs“, schultergestützten Panzerabwehrwaffen und reaktivbewehrten Kampfpanzern, Geiselnahme und Blockade – mit stetig wandelnder Intensität des so genannten „low intensity conflicts“, was der Experte Herfried Münkler trocken als Gefechtsfeldbewirtschaftung bezeichnet hat.
Doch Israel ergeht es wie jeder konventionellen Streitmacht: Man schlägt ins Leere. Der Gegner bewegt sich inmitten der Zivilbevölkerung wie ein Fisch im Wasser: Überall lauern Hinterhalte, Sprengfallen und Tunnel. Der Feind kann Stirnband und Tarnanzug tragen oder Sandalen und Leinen.
Somit endete keine Episode dieser zweiten Phase des Konflikts mit einem eindeutigen Ergebnis. Stets waren die Verluste der Terrorkämpfer von Hamas, Hisbollah etc. höher und die israelische Führung sprach von einer erfolgreichen Strafexpedition – bis zum nächsten Waffengang.
Der 33-Tage-Krieg – improvisierte Attacke
Der zweite Libanonkrieg oder der 33-Tage-Krieg, wie der kurze Einmarsch in den Südlibanon in arabischen Ländern genannt wird, folgte genau dieser Dramaturgie. Am 12. Juli 2006 überfiel die Hisbollah eine Einheit der israelischen Selbstverteidigungskräfte in Nordisrael. Drei Soldaten fielen, zwei Soldaten wurden verschleppt. Ein gepanzerter Stoßtrupp folgte den Hisbollah-Kämpfern auf das libanesische Territorium. Kurz nach dem Grenzübertritt fuhr ein Merkava-Kampfpanzer auf eine 200 bis 300 Kilogramm schwere Sprengfalle und wurde völlig zerstört. Im darauffolgenden Gefecht fielen weitere israelische Soldaten.
Hieraus entspann sich eine groß angelegte, aber improvisierte Kampagne zur Befreiung der beiden Soldaten und zur Entwaffnung der Terrormiliz Hisbollah. Die reguläre libanesische Armee verhielt sich weitgehend passiv und beschränkte sich auf Luftabwehrmaßnahmen. Der libanesische Präsident Emile Lahoud, ein christlicher Maronit, erklärte, er werde die Hisbollah nicht verraten.
Diese konnte auf die Unterstützung der Bevölkerung zählen. Ein Angehöriger der rivalisierenden Amal-Bewegung betonte, dass jeder gegen die Israelis kämpfen werde: „Egal ob Amal, Kommunist, Nationalist.“ Zudem verfügte die Hisbollah laut eigenen Angaben über 14.000 Raketen, meist ungelenkte Katjuschas, die in Salven abgefeuert werden, aber auch moderne Fadschr-3- und Fadschr-5-Raketen aus dem Iran. Letztere haben die vierfache Reichweite der Katjuscha und erreichten unter anderem Haifa und Nazareth. Zusätzlich wurde ein Saar-5-Marineschiff durch eine radargelenkte Anti-Schiffsrakete schwer beschädigt. Daneben lieferte Teheran auch Ababil-Drohnen, von denen eine zehn Kilometer vor Haifa von einer F-16 abgeschossen wurde.
Israels Luftwaffe bombardierte Straßen, Brücken, die Autobahn Beirut-Damaskus, das Treibstofflager Sidon, den Flughafen von Beirut und Hochburgen der Hisbollah im Süden Beiruts. Ziel war es, die libanesische Elite zum Handeln gegen die Hisbollah zu zwingen. Andernfalls würde der Libanon durch die Zerstörung der Infrastruktur einen hohen Preis zahlen müssen. Am 23. Juli begann die Bodenoffensive gegen die Hochburgen der Hisbollah.
Ab dem 30. Juli begannen die USA, auf einen Waffenstillstand oder zumindest auf längere Feuerpausen zu drängen. Grund dafür waren die zunehmenden Kollateralschäden unter der Zivilbevölkerung und die wachsenden diplomatischen Proteste. Nach vereinzelten Feuerpausen erfolgte am 14. August der endgültige Waffenstillstand. Diesen nutzte die Hisbollah sogleich, um über Syrien ihre Arsenale mit russisch-iranischen Waffen wieder aufzufüllen. Israel führte daraufhin eine Kommandoaktion im Bekaa-Tal durch.
Mehr Bomben und Artillerie als 1973
Im Zuge der Operation „Just Reward“ („Gerechter Lohn“) flog Israel 15.500 Luftwaffeneinsätze. (Zum Vergleich: Im Jom-Kippur-Krieg 1973 waren es 11.223 und im ersten Libanonkrieg 1982 insgesamt 6.052.) 7.000 Ziele wurden angegriffen. Die Artillerie verschoss 170.000 Granaten, mehr als doppelt so viele wie 1973. Die Hisbollah feuerte 4.000 Raketen ab. Israel hatte 119 Gefallene zu beklagen, erst zwei Jahre später wurden die Leichen der verschleppten Soldaten ausgehändigt. Der Raketenterror kostete 44 Zivilisten das Leben. Der Libanon hatte 1.191 Tote zu beklagen, die libanesische Armee 46 Tote und die Hisbollah 530 Tote.
Sowohl Studien des US-Militärs als auch die israelische Untersuchungskommission unter der Leitung des ehemaligen Obersten Richters Eliahu Winograd kamen zu dem Schluss, dass Ministerpräsident Ehud Olmert, Verteidigungsminister Amir Peretz und Generalstabschef Dan Chalutz die Verantwortung für das wenig zufriedenstellende Ergebnis tragen. Peretz und Chalutz traten 2007 zurück.
Chalutz war zwar ein Luftwaffenheld aus 1973, wo er mit seiner F-4 Phantom drei Luftsiege errang, und er formte die moderne israelische Luftwaffe mit F-16 und F-15, Drohnen, intelligenter Munition und dem verstärkten Einsatz von AH-64 Apache zur gezielten Tötung („targeted killing“) von Terrorführern, jedoch konnte er als erster Luftwaffengeneral an der Spitze des Generalstabs der gesamten Streitkräfte seine Stärken in diesem Krieg nicht ausspielen. Seine Unterstützung für die Frontsoldaten – so stellte er sich bedingungslos hinter Kampfpiloten, denen Klagen durch linke Aktivisten drohten – und seine Impulsivität führten zu einem Angriff, dem es an ausreichender Planung mangelte.
Die Reservisten waren für eine Nord-Kampagne nicht ausreichend ausgebildet. Nach dem Abzug aus dem Südlibanon im Jahr 2000 wurde dem systematischen Ausbau der Verteidigungsstellungen durch die Hisbollah zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Den Luftangriffen wurde zu viel Bedeutung beigemessen und diese wurden ineffizient durchgeführt. Zu viele Ziele wurden verfehlt oder nur unzureichend getroffen. Auch die Koordination der Bodentruppen war mangelhaft. Ein Offizier bemerkte, er sei erstaunt, dass 170.000 Granaten nur fünf Hisbollah-Kämpfer getötet hätten.
Hamas: Gegen jede Regel des Kampfes
Zwischen „lessons learned“ und dem „Ex-Post-Syndrom“ muss ein Gleichgewicht gefunden werden. Tatsächlich konnten im Rahmen der Operation „Protective Edge“ („Starker Fels“) vom 8. Juli 2014 bis zum 26. August 2014 insgesamt 1.065 Hamas-Kämpfer im Gazastreifen getötet werden. Den Kampfhandlungen fielen rund 900 Zivilisten zum Opfer, wobei die Hamas Dutzende öffentliche Hinrichtungen von „Kollaborateuren“ durchführte. Hinzu kamen zahlreiche Hinrichtungen von Tunnelarbeitern, um die unterirdischen Systeme zu schützen. Dennoch wurden 30 Tunnel zerstört. Auf israelischer Seite fielen 66 Soldaten und sieben Zivilisten wurden getötet. Letztere bei einem Beschuss mit 3.000 Raketen.
Die High Level Military Group (HLMG), gebildet aus internationalen westlichen Offizieren und Militärexperten, bescheinigte den israelischen Selbstverteidigungskräften hohe Standards und eine erfolgreiche Operationsführung trotz eines terroristischen Gegners, der nicht davor zurückschrecke, die eigene Bevölkerung systematisch als Schutzschild zu missbrauchen und sich an keinerlei Regeln des Kampfes zu halten. Israels Einsatzdoktrin („Rules of Engagement“) über die „Reinheit der Waffen“ verlangt gegenüber einem derartigen Gegner vieles ab.
Exemplarisch für Israels Einsatzdoktrin ist die gezielte Tötung des Al-Kuds-Brigadenführers Abu al Ata im November 2019. Dieser wurde in seinem Schlafzimmer zusammen mit seiner Frau durch eine von einem Kampfhubschrauber abgefeuerte Rakete getötet, die nebenan schlafenden Kinder wurden schwer verletzt. Normalerweise schlief seine Familie immer im selben Zimmer, da die strengen israelischen Vorschriften bekannt waren.
Die Operation „Swords of Iron“ („Eiserne Schwerter“) soll das zweite Trauma der Verwundbarkeit nach dem ersten gelungenen Überraschungsangriff an Jom-Kippur ebenso ausmerzen wie die erfolgreiche Gegenoffensive von 1973. Jedenfalls dürfte sich der so genannte Scharon-Plan – die einseitige Abkoppelung vom Gazastreifen – im Jahre 2005 als Fehler erwiesen haben, obwohl er gut durchdacht war und kompetente Befürworter wie den Militärexperten Martin van Creveld hatte. Aber kein „Iron Dome“ und keine „Iron Wall“ bleiben ohne ausreichende Pufferzonen unüberwindbar.