Temporärer Gaza-Hafen: Seekorridor für „freiwillige" Massenauswanderung nach Europa?
Ein Schiff der US-Armee mit Teilen für einen temporären Hafen für Hilfslieferungen auf dem Seeweg ist derzeit auf dem Weg in den Gazastreifen. Der geplante schwimmende Hafen vor der Küste des Gazastreifens ist jedoch nur eine humanitäre Fassade, hinter der sich Washingtons geopolitische Ambitionen verbergen, meint der Politikwissenschaftler Dr. Seyed Alireza Mousavi.
Während die Verhandlungen um einen Waffenstillstand im Gazastreifen ins Stocken geraten sind, planen die USA und deren Verbündete einen temporären Gaza-Hafen für Hilfslieferungen über das Meer einzurichten. Israel treibt zugleich trotz der laufenden Verhandlungen über eine Waffenruhe die Vorbereitungen für eine Bodenoffensive in Rafah im Süden Gazas voran, um nach eigenen Angaben weitere Hamas-Bataillone zu zerschlagen und dort vermutete Geiseln zu befreien.
Ein Schiff der US-Armee mit Teilen für einen temporären Hafen ist derzeit unterwegs in den Gazastreifen, um einen Seekorridor von Zypern aus in Richtung Gaza aufzubauen. Die US-Regierung hatte kürzlich angekündigt, angesichts der humanitären Notlage in Gaza einen temporären Hafen einrichten zu wollen, um Lebensmittel, Wasser und Medikamente von Zypern aus in das Kriegsgebiet zu bringen. Der einzige Hafen in dem Gebiet in Gaza-Stadt ist zerstört. Laut einem Sprecher des US-Verteidigungsministeriums werde es etwa 60 Tage dauern, bis der temporäre Hafen voll einsatzfähig ist. Sobald er errichtet sei, könne er 24 Stunden am Tag genutzt werden.
Die EU unterstützt auch den geplanten Seekorridor: Der zyprische Präsident Nikos Christodoulides sagte letzte Woche in Anwesenheit der Präsidentin der Europäischen Kommission, dass die EU bald den Korridor eröffnen solle. Er besuchte mit Ursula von der Leyen das Seenotrettungszentrum, das die EU und Zypern gemeinsam im Hafen von Larnaka betreiben. Deutschland wird sich auch am geplanten Seekorridor für Hilfslieferungen in den Gazastreifen beteiligen. Die Bundeswehr prüft nach Spiegel-Informationen bereits, ob man die Seebrücke für Gaza auch mit der Marine unterstützen könnte.
Einrichtung eines Hafens zur „freiwilligen“ Massenauswanderung nach Europa?
Es kommen jedoch immer wieder Zweifel an den Absichten der USA bezüglich des Aufbaus eines temporären Hafens in Gaza auf. Medien in der Region spekulieren, dass die Motivation für den Bau des Hafens darin bestehe, die Massenvertreibung der Bevölkerung des Gazastreifens per Schiff nach Europa zu erleichtern. Der schwimmende Hafen vor der Küste des Gazastreifens sei nur eine humanitäre Fassade, hinter der sich die „freiwillige“ Massenmigration nach Europa verberge, kommentierte kürzlich die Nachrichtenagentur Anadolu. Die Einrichtung eines Gaza-Hafens hat bereits die Zustimmung der israelischen Regierung erhalten, da Premierminister Benjamin Netanjahu diese Idee seit Beginn des Krieges verfolgt, mit dem Ziel, die „freiwillige“ Umsiedlung der Menschen aus dem Gazastreifen und ihre Flucht nach Europa durchzusetzen.
Wenige Tage nach Beginn des Krieges gegen die Menschen im Gazastreifen veröffentlichte das israelische Geheimdienstministerium ein Dokument, in dem die Vertreibung der 2,3 Millionen Einwohner des Streifens unter einem humanitären Deckmantel gefordert wird. In dem durchgesickerten Dokument wird empfohlen, Gaza so unbewohnbar zu machen, dass die Bevölkerung gezwungen wäre, in andere Länder zu fliehen, unter anderem in den ägyptischen Sinai, nach Europa und Kanada. Israel könnte die Massenvertreibung vor der internationalen Gemeinschaft rechtfertigen, so der Plan, wenn sie zu „weniger Opfern unter der Zivilbevölkerung im Vergleich zu den zu erwartenden Opfern im Falle eines Verbleibs“ führen würde, heißt es in dem Dokument. Unlängst berichtete unter anderem die Financial Times, dass sich Israel mit der Bitte um die Unterstützung eines Plans zur Umsiedlung der Menschen in Gaza an die Europäische Union (EU) gewandt haben soll.
Es wird auch spekuliert, die Einrichtung einer provisorischen Hafenanlage hängt damit zusammen, dass Ägypten Tel Aviv deutlich gemacht hat, keine Palästinenser in den Sinai bei einer möglichen Offensive in Rafah zu lassen. Ägypten baut derzeit aus Sorge vor einer Massenflucht aus dem nördlich angrenzenden Küstenstreifen in der Wüste Sinai ein riesiges Auffanglager, das von hohen Betonmauern eingeschlossen für Zehntausende von Geflüchteten Platz bieten wird. Mehrere israelische Beamte und Politiker in Tel Aviv planen bereits die Zwangsvertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen, wenn diese von der israelischen Armee über Rafah hinaus vertrieben werden.
Israelische Beamte haben wiederholt deutlich gemacht, dass sie nicht nur die Hamas besiegen, sondern auch Millionen Einwohner des Gazastreifens nach Ägypten oder in andere Länder vertreiben wollen. Diese Äußerungen fielen im Zusammenhang mit klar geäußerten Plänen zur Annexion des Gazastreifens und zum Bau von Siedlungen für israelische Juden anstelle zerstörter palästinensischer Häuser. Kürzlich hielten israelische Siedlergruppen und Abgeordnete der Knesset sogar eine Konferenz ab, um den Bau jüdischer Siedlungen im Gazastreifen zu erörtern, sobald dort die einheimische Bevölkerung ethnisch gesäubert sein wird. Sollte Ägypten die Palästinenser nicht aufnehmen, dann kommt die Massenvertreibung der Menschen aus Gaza über den Seeweg infrage.
Sind die USA auf dem Weg, ihre Militärpräsenz in Gaza aufzubauen?
Dabei ist zu beobachten, dass die USA sich keine Mühe machen, die Hilfslieferungen auf dem Landweg auszuweiten. Und stattdessen würden sie offensichtlich eher die Hilfsgüterlieferung aus der Luft oder von See abwickeln. Diesbezüglich haben aber internationale Hilfsorganisationen große Vorbehalte. Deren Sorge ist nämlich, dass die Lieferungen zu Wasser und aus der Luft den Druck von der israelischen Regierung nehmen könnten, mehr Lkw mit Hilfsgütern in den Gazastreifen zu lassen. In einem Gespräch mit Al Jazeera betonte der Direktor für Außenbeziehungen und Kommunikation des UN-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge (UNRWA), dass die bestehenden Landübergänge nach Gaza „schneller, sicherer“ seien als die Einrichtung eines Seekorridors oder Hilfslieferungen aus der Luft.
Nach dem Pentagon-Plan soll das US-Militär eine große schwimmende Plattform vor der Küste Gazas bauen, an der Frachtschiffe Hilfscontainer entladen können. Von dort sollen Marineschiffe die Güter zu einem schwimmenden Damm bringen. Insgesamt wirft die US-Mission für die Einrichtung eines Seekorridors noch weitere Fragen auf. 1.000 US-Soldaten sollen an dem Einsatz beteiligt sein. Eine wichtige Frage ist vor allem, von wem die Hilfsgüter dann an Land gebracht werden. Es bleibt unklar, wie die Sicherheit der US-Truppen gewährleistet wird und wie eine schleichende, durch mögliche Vorfälle erzwungene Ausweitung des Einsatzes im Kriegsgebiet abgewendet werden kann. Mit anderen Worten dürfte auch die Mission ein verdeckter Einstieg der USA in den Gaza-Krieg sein.
Gaza-Hafen als ein Teil des Wirtschaftskorridors Indien-Nahost-Europa
Dabei ist nicht auszuschließen, dass der Bau des Hafens in Gaza ein Teil des ehrgeizigen Wirtschaftskorridors Indien-Nahost-Europa (IMEC) sein könnte, mit dem der Westen plant, die Neue-Seidenstraße zu hintertreiben und Irans Machtausbau in Nahost einzudämmen. Der vorgeschlagene Korridor soll Indien über den Nahen Osten – also über die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Jordanien und Israel – mit Europa verbinden. Die von den USA geführte Initiative gilt als Gegengewicht zu Chinas Neue-Seidenstraße-Projekt für den Ausbau einer alternativen Infrastruktur in der Region. Die USA haben zum Ziel, die asiatische Integration in der Region in ihrem Sinne mithilfe Indiens voranzubringen. Insofern ist es auch kein Zufall, dass Saudi-Arabien und die VAE sich für die Einrichtung des Seekorridors über Zypern nach Gaza einsetzen wollen.
Die israelische Verkehrsministerin Miri Regev enthüllte kürzlich einen neuen Korridor für die Lieferung von Gütern aus Indien nach Israel, der die Bedrohung durch die Huthi im Roten Meer umgeht. Der neue Korridor ist eine Alternative zur derzeit militarisierten Meerenge Bab al-Mandab, nachdem mehrere der weltgrößten Reedereien ihre Fahrten durch das Rote Meer wegen der Huthi-Angriffe ausgesetzt hatten. Bei diesem in der Probephase befindlichen Korridor handelt es sich eben um jenen Korridor Indien-Nahost-Europa IMEC, dessen Namen bei der Berichterstattung im Westen kaum erwähnt wird. Der vorgeblich für Hilfslieferungen nach Gaza geplante Seekorridor von Zypern aus ist insofern ein weiterer Schritt zur Fertigstellung des pro-NATO IMEC-Korridors.
Zur Person:
Dr. Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler, Carl-Schmitt-Exeget und freier Journalist, spezialisiert auf Geopolitik und lebt in Berlin.