Andreas Kempers faschistischer Fluss: Ist Höcke ein Faschist?

Im letzten Teil der Recherche wird Andreas Kempers Faschismus-Vorwurf gegen Björn Höcke genau unter die Lupe genommen.
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Andreas Kempers faschistischer Fluss: Ist Höcke ein Faschist?

Björn Höcke. Bild: Metropolico

Im letzten Teil der Recherche wird Andreas Kempers Faschismus-Vorwurf gegen Björn Höcke genau unter die Lupe genommen.

Eine Recherche von Bernhard Straßer

Der dritte und abschließende Teil meiner Serie über Andreas Kempers Artikel „Höckes faschistischer Fluss“ wird sich ein wenig tiefer in die theoretische Faschismusforschung hineingraben. Gerade Begriffe wie „Faschismus“ oder „Nazi“ werden mittlerweile inflationär und zumeist auf hochgradig polemische Weise als Kampfbegriffe des politischen Diskurses verwendet. Die emotionale Abneigung gegenüber „Nazis“ ist dabei enorm, das Wissen dagegen, wie im Rahmen seriöser Forschung Faschismus verstanden und aufgearbeitet wird, bewegt sich in einem bemerkenswerten Kontrast dazu. Und vielleicht liegt der Grund für den Erfolg von Andreas Kempers Texten nicht zuletzt darin, dass er als Einziger die Sehnsucht der Polemiker und politischen Aktivisten danach, ihre Abneigung auf eine sich „wissenschaftlich“ gebende Weise endlich bestätigt zu sehen, zu bedienen gewillt ist.

„Wenn im Okt. die faschistische Agenda von #Höcke ein Viertel der Stimmen bekommt, dann liegt dass auch daran, dass die Medien nicht den Stand der Faschismusforschung vermitteln, sondern Höcke unwissenschaftlich als ’nationalkonservativ‘ verharmlosen“1, schreibt Kemper selbstbewusst auf Twitter. Mit dem „Stand der Faschismusforschung“ meint er dabei anscheinend sich selbst, denn er hat 2016 über die Thüringer Filiale der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Broschüre namens „… die neurotische Phase überwinden, in der wir uns seit siebzig Jahren befinden – zur Differenz von Konservativismus und Faschismus am Beispiel der ‚historischen Mission‘ Björn Höckes“ veröffentlicht, worin er Höckes „faschistisches“ Weltbild nachweisen will.2

Roger Griffins Faschismus-Definition

Doch auch hier, wer die ersten beiden Teile gelesen hat, wird nicht überrascht sein, tauchen schnell Probleme und Fragwürdigkeiten auf. Bereits der Ansatz ist wacklig, denn Kemper benutzt für seine Arbeit die „generische“ Faschismusdefinition des britischen Historikers Roger Griffin. Diese besteht nur aus einem einzigen Satz:

“Faschismus ist eine politische Ideologie, deren mythischer Kern in seinen mannigfachen Permutationen aus einer palingenetischen Form von populistischem Ultranationalismus besteht.“3

Was ist damit gemeint? Griffin will mit seinem relativ neuen Ansatz einen „Idealtypus“ im Sinne Max Webers definieren, einen ideologischen Kern, der allen faschistischen Phänomenen gemeinsam ist. Doch erkennbar geht damit eine enorme Beliebigkeit einher. Es fehlen die meisten Merkmale, die man gemeinhin mit Faschismus in Verbindung bringt, und wie sie von älteren Faschismusdefinitionen, beispielsweise von Emilio Gentile4, genannt werden: Führerprinzip, Totalitarismus, Einheitspartei, Rassismus etc. Auch typische Feindbilder wie Ablehnung von Demokratie und Parlamentarismus, Anti-Liberalismus oder Antisemitismus werden nicht genannt.

Wenn man darüberhinaus bedenkt, dass der ursprüngliche Unterschied zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie lediglich darin bestand, dass bei weitgehender ideologischer Übereinstimmung erstere die sozialistische Revolution gewaltsam, zweitere sie friedlich innerhalb des parlamentarischen Rahmens umsetzen wollte, wird das Fehlen eines weiteren zentralen Merkmals deutlich: die Bejahung von Gewalt, autoritärer Gewaltherrschaft und Krieg, der Wunsch nach Revolution und gewaltsamem Umsturz.

Indem Griffin Faschismus also nur noch als als vage, generische Idee behandelt, würde ironischerweise sogar ein „demokratischer Faschismus“ im Rahmen einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung möglich. Darin mag ein gewisses fachwissenschaftliches Potential stecken, aber gleichzeitig (und speziell im Kontext aktueller politischer Diskussionen um das Radikalitätspotential der AfD) wird der Begriff damit geradezu ad absurdum geführt.

Kontroverse Position

Aus diesem Grund ist Griffins Definition durchaus kontrovers aufgenommen worden. Sie habe „noch keinen wirklich empirischen Praxistest überstanden“, befindet beispielsweise der Historiker Sven Reichardt, und es hätten sich „einige gewichtige Zweifel gegenüber der Tragfähigkeit dieser Definition Griffins ergeben“5. Speziell in Bezug auf die Neue Rechte kommt Griffin massiv ins Rudern. Diese wird von den meisten Forschern nicht zum Faschismus gezählt – erfüllt allerdings die Bedingungen von Griffins Definition.

Im Interview versucht Griffin, sich zu rechtfertigen:

„Eines der umstrittensten Ergebnisse meiner Definition von Faschismus – rein ideologisch gesehen, ohne die konkreten ‚praxeologischen’ Erfahrung aus der Zwischenkriegszeit zu berücksichtigen – ist, dass die Neue Rechte meinem Faschismusbegriff entspricht.[…]

Wie dem auch sei, wird jeder ernstzunehmende Wissenschaftler, der nicht mit verdeckten Karten spielt und genau arbeitet, alsbald feststellen, dass unabhängig davon, welche Taxonomie er verwendet, der von der Neuen Rechten verbreitete Rassismus, ihre Ablehnung von Multikulturalismus, ihre Verachtung des aufgeklärten Humanismus als eine Art von Totalitarismus, ihre Verherrlichung einer mystischen kulturellen Hegemonie und ethnischer Wurzeln, ihre Sehnsucht nach einem Europa als Flickenteppich aus homogenen ethnischen Kulturen die Neue Rechte zu einer zutiefst anti-liberalen Kraft macht. Sie hat die gleichen Feinde wie der Faschismus der Zwischenkriegszeit, auch wenn ihre Lösungsansätze, die Organisationsformen und ihr Diskurs sich deutlich unterscheiden. […]

Auch wenn sie sich als metapolitisch ausgibt, ist sie doch keineswegs a-politisch und ihre Ideologie zeigt klare strukturelle Affinitäten zu den radikalen rechten und faschistischen Traditionen der Anti-Aufklärung, des Anti-Liberalismus und des konterrevolutionären Denkens.

Dabei spielt es keine Rolle, wie stark sie das intellektuelle Klima und die politischen Anliegen der westlichen Intellektuellen des späten 20. Jahrhunderts aufgenommen und reflektiert hat. Dies mag noch nicht ausreichen, sie faschistisch zu nennen, aber es ist hilfreich, sie im Kontext der vergleichenden Faschismusforschung zu berücksichtigen.“6

Er gesteht also einerseits zu, dass die Neue Rechte nicht faschistisch genannt werden kann – und das, obwohl, wie sowohl er als auch seine Kritiker übereinstimmend feststellen, seine Definition von Faschismus auch die Neue Rechte umfasst. Daran bereits erweist sich, dass seine Definition nicht ausreichend differenziert ist.

Um sich zu rechtfertigen, schreibt er dann der Neuen Rechten diverse Züge wie „Rassismus“, „Verachtung von Humanismus“, Sehnsucht nach „homogenen ethnischen Kulturen“, „Anti-Aufklärung“ und „Anti-Liberalismus“ zu. Allerdings sind das alles Merkmale, die in seiner eigenen Definition nicht enthalten sind. Sofern er sie also als Nachweis-Merkmale von faschistischer Ideologie betrachtet, müsste er sie eigentlich in seine Definition aufnehmen. Hält er sie dagegen für vernachlässigbar und verzichtet in seiner Definition, kann er sie auch nicht als Nachweis für die Gültigkeit seiner Definition verwenden. Stattdessen aber versucht er hier mit Merkmalen, die gar nicht Teil seiner Definition sind, nachzuweisen, dass seine Definition richtig sei. Und das ist leider im Sinne wissenschaftlicher Methodik absurd und zeigt lediglich, dass das Potential seiner generischen Definition, des Versuchs einer Reduktion auf einen vermeintlichen Kern, hier an seine Grenzen kommt.

Wobei Griffin zumindest ehrlich genug ist, um seiner Ein-Satz-Definition lediglich einen „heuristischen Wert“ zuzuerkennen. So lässt sich also als erstes Zwischenfazit festhalten, dass die Definition, die Kemper verwendet, erstens die eigentlich das politische Deutschland am drängendsten beschäftigende Frage, ob Björn Höcke nämlich eine antidemokratische oder verfassungsfeindliche Politik verficht, damit gar nicht beantworten kann, weil dementsprechende Merkmale darin nicht enthalten sind. Und zweitens, dass sie als generischer, heuristischer „Idealtypus“ sehr ungenau und undifferenziert bleibt, und sich bereits bei der Neuen Rechten als unzulänglich erweist.

Kemper fehlt klare Defition

Dessen eingedenk wenden wir uns nun also Kempers Schrift zu. „’Die neurotische Phase überwinden, in der wir uns seit 70 Jahren befinden‘ – zur Differenz von Konservatismus und Faschismus am Beispiel der ‚historischen Mission‘ Björn Höckes (AfD)“ – so lautet ihr voller Titel. Was man allerdings von einer wissenschaftlichen Arbeit erwarten würde, nämlich erstens eine klare Definition der Begriffe „Konservativismus“ und „Faschismus“, die Festlegung von Merkmalen, anhand derer sie sich jeweils charakterisieren und voneinander abgrenzen lassen, zweitens eine systematisch gegliederte Ausführung der Untersuchung, fehlt hier völlig.

Stattdessen findet sich auf diesen 130 Seiten ein wüstes Sammelsurium von allem, was Kemper anscheinend zu Björn Höcke einfiel, von einer Auflistung seiner Kontakte in die rechte Szene, über Kempers eigene Untersuchung der Wortähnlichkeiten von Höckes Reden und einigen Artikeln, die unter dem Pseudonym „Landolf Ladig“ in einer NPD-Zeitschrift erschienen sind, frei vor sich hin assoziierende Exkurse zu den Begriffen „Mehltau“ und „Neurotik“, das Darstellen diverser Elemente des Höckeschen Weltbildes, und zum Schluss sogar noch 35 Seiten einer in Themenblöcke gegliederten, unkommentierten Zitatesammlung. Der Faschismusbegriff nach Roger Griffin bildet lediglich eine lose Klammer, und wird explizit nur in einigen kurzen Abschnitten behandelt.

„Ultranationalismus“ und „Palingenese“

Auf diese Stellen will ich mich hier beschränken. Auf den Seiten 57 – 64 geht Kemper auf zwei zentrale Merkmale von Griffins Faschismusdefinition ein, nämlich „Ultranationalismus“ und „Palingenese“.

Kemper selbst macht sich nicht die Mühe, eine Definition von „Ultranationalismus“ zu geben. Griffin aber zumindest tut es, und grenzt hier auch nachvollziehbar vom Konservativismus ab: „[Mit „Ultranationalismus“] meine ich eine Form des Nationalismus, der nicht auf der Idee eines civic nationalism fußt, also der Vorstellung einer Nationalität, citizenship oder Staatsangehörigkeit folgt, die auf universellen Menschenrechten, dem Residenz-Prinzip oder der Zugehörigkeit zu einer Zivilgesellschaft beruht, die ethnischem und kulturellem Pluralismus verpflichtet ist. Demgegenüber treibt der Ultranationalismus ein finsteres Spiel mit organischen Metaphern von Verwurzelung und Zugehörigkeit, von Heimat, Boden und Herkunft.“7 Kurz gesagt unterscheidet Griffin hier zwischen Verfassungspatriotismus und ethnisch-völkischen Nationalismus. Dieser Nachweis, so würde man annehmen, dürfte in der Tat bei Höcke nicht schwerfallen, und im Großen und Ganzen gelingt er Kemper auch. Auch wenn bis zum Schluss offen bleibt, ob er überhaupt weiß, was er da gerade beweist.

Doch auch in der lediglich heuristischen Definition Griffins ist Ultranationalismus für sich genommen noch nicht faschistisch, sondern wird es erst durch das Element der Palingenese. Palingenese – von Kemper kruderweise durchgehend als „Palingenetik“ bezeichnet – ist ursprünglich ein Begriff aus der Theologie, und bezeichnet eine umfassende Neugeburt in einem kosmisch-spirituellen Sinn. Faschismus strebt nicht nur eine politische Revolution an, sein „mythischer Kern“ ist eine Pseudoreligion, die danach strebt, im Rahmen eines völkischen Nationalismus eine völlig neue Gesellschaft, einen völlig neuen Menschen zu erschaffen. Auch hier grenzt Griffin nachvollziehbar Faschismus und Konservativismus voneinander ab:

„Der palingenetische Schub hin zu einer neuen Ära, also die beabsichtigte Neugeburt (wenn sie auch an einer mythisierten Vergangenheit orientiert ist) im Unterschied zu einer bloßen Wiedergeburt, unterscheidet den Faschismus vom Konservativismus und erklärt das komplizierte Verhältnis zwischen konservativen Regimen, die versuchen, faschistisch zu erscheinen (beispielsweise Vichy-Frankreich, Francos Spanien, Antonescus Rumänien und Metaxas‘ Griechenland) und genuin faschistischen Regimen. Schließlich ist Faschismus … eine sakralisierte Form der Politik, in Übereinstimmung mit seinem Charakteristikum einer ‚totalitären Bewegung‘, die auf die völlige Verwandlung der Gesellschaft zugunsten einer anthropologischen Revolution innerhalb der historischen Zeit zielt.“8

Bereits die Franco-Diktatur ist laut Griffin (trotz der Merkmale autoritärer Herrschaft und gewaltsamer Machtergreifung) nicht faschistisch, da Franco sein System auf traditionelle Säulen wie die Katholische Kirche und das spanische Herrschafts-Konzept des Caudilismo bezog. Wo keine radikale, neo-religiöse Neugeburt, sondern lediglich eine reaktionäre Wiedergeburt traditioneller Werte, Ideen und Institutionen betrieben wird, handelt es sich also um Konservativismus.

Schwache Argumentation

Und das ist nun der Punkt, an dem Kempers Argumentation in die Realsatire kippt. Zum einen verzichtet er wiederum auf eine genauere Definition dieses doch recht exotischen Fachwortes, sondern bezeichnet die „Palingenetik“, wie er sie nennt, bloß vage als „Ideologie der revolutionären Neuerweckung der Nation“. Das ist aber bereits eine Verflachung. Die „revolutionäre Neuerweckung“ dann reduziert er im nächsten Satz zum „revolutionären Systemwandel“, ein bloßer Systemwandel aber bleibt hinter einer Palingenese bereits eklatant zurück. Dummerweise aber kann er nicht einmal das nachweisen, da Höcke leider anscheinend nirgendwo Revolutionsphantasien entwickelt. Stattdessen will er Höckes angebliches Ziel eines „revolutionären Systemwandels“ mittels des Satzes „Für mich ist die AfD die letzte evolutionäre Möglichkeit für unser Land“ aufzeigen. Dass hier von Evolution statt von Revolution die Rede ist, dass Evolution sogar das Gegenteil von Palingenese darstellt, bekümmert Kemper nicht im Geringsten. Denn: der Satz bedeute ja, dass bei einem Scheitern der AfD nur die Möglichkeit der Resignation oder Revolution übrigbleibe. Bingo! Und das wiederum weist laut Kemper auf die „umfassenden Gesellschaftsveränderungen hin, die von Björn Höcke angestrebt werden“. Umfassende Gesellschaftsveränderungen allerdings dürften von enorm vielen gesellschaftlichen und politischen Gruppen dieses Landes angestrebt werden.

Aber Höckes Gesellschaftsveränderungsideen wären besonders gefährlich, denn, wie Kemper betont und bereits im Titel seiner Arbeit anklingen lässt, wähne dieser sich auf einer „historischen Mission“. Sein Ziel sei nämlich, man halte sich fest: „Für mich ist die Wiedergewinnung der Meinungsfreiheit die historische Mission der AfD.“ Ja, diesen Satz zitiert Kemper wirklich zum Nachweis einer faschistischen Gesinnung.

Wir haben hier also eine lediglich halbe Seite Text, worin die anfängliche Palingenese in jedem Satz ein kleines bisschen verwässert wird: von der eigentlichen Bedeutung, einer spirituellen, totalitären Neugeburt der Nation nämlich, bleibt am Ende nur der Kampf gegen politische Korrektheit übrig. Der Nachweis scheitert also krachend, dass Kemper trotz allem daran festhält, ist das eigentlich Faszinierende. Mit dem Scheitern allerdings, im Rahmen einer Definition, die mit der Reduktion auf lediglich zwei Merkmale Kempers Ansinnen bereits dankbar entgegenkommt, hat sich der Faschismus-Vorwurf eigentlich erledigt, sofern man seriös arbeitet.

Danach driftet Kempers kreativer Kopf relativ übergangslos weiter zu Themen, die mit seiner Faschismusdefinition nichts zu tun haben. Auf den Seiten 84 – 91 schließlich schließlich versucht er sich im Kapitel „Noch einmal: vertritt Björn Höcke eine faschistische Ideologie?“ an einem Fazit.

„Roger Griffin beschreibt den ideologischen Kern des Faschismus »als den utopischen Antrieb, das Problem der Dekadenz zu lösen durch die radikale Erneuerung der Nation, verstanden als organisches Ganzes«“, schreibt er hier und leitet daraus vier Merkmale ab, die er noch einmal kurz gesondert nachweisen will:

  1. utopischer Antrieb
  2. Dekadenz als Problem
  3. radikale Erneuerung der Nation
  4. Nation als organisches Ganzes

Das ist nur leider nicht ganz richtig. Roger Griffins Definition lautet vielmehr, wir erinnern uns: “Faschismus ist eine politische Ideologie, deren mythischer Kern in seinen mannigfachen Permutationen aus einer palingenetischen Form von populistischem Ultranationalismus besteht.” Was Kemper hier zitiert, ist nicht Griffins Definition, sondern lediglich eine Erläuterung seiner Definition, die er 2004 in einem Interview getroffen hat9.

Natürlich ist beides nicht deckungsgleich, speziell bei einer generischen Ein-Satz-Definition ist jedes Wort, jede Wortnuance wichtig.

Hier aber fehlt Entscheidendes, nämlich überraschenderweise die Palingenese. Genau das Element also, an dessen Nachweis Kemper schon einige Seiten zuvor gescheitert ist. Hier wird es reduziert als “radikale Erneuerung der Nation” formuliert. Das mag im Rahmen eines Interviews durchgehen, aber genau genommen ist, wie Griffin selbst herausgestellt hat, der Antrieb zur bloßen Erneuerung als Reaktivierung eines Vergangenen nicht faschistisch, sondern lediglich konservativ.

Was überdies fehlt, ist das Ersatzreligiöse des Faschismus, das in der echten Definition in den Begriffen “mythischer Kern” und “Palingenese” steckt. Der Faschismus will nicht lediglich eine dekadente Phase überwinden, er will eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen schaffen, aus der Mystik von Volk, Blut und Boden und erleuchteten, prophetengleichen Führergestalten heraus. Gerade daraus entsteht eigentlich erst seine Radikalität, seine Brutalität.

Zusammenfassung

Zusammenfassend: Kemper entscheidet sich zuerst für eine Faschismus-Definition, der die meisten im freiheitlich-demokratischen Kontext problematischen Aspekte, die gemeinhin mit Faschismus in Verbindung gebracht werden, schon einmal fehlen. Die überdies umstritten ist, weil sie sich bereits bei der Nachkriegs-Rechten als unzulänglich erweist. Diese verwendet er, ohne sich überhaupt einmal näher Griffins eigene Erläuterungen und Differenzierungen dazu anzusehen. Er verballhornt dabei die Palingenese zur bloßen “umfassenden Gesellschaftsveränderung” und will allen Ernstes Höckes Kampf gegen politische Korrektheit als Äquivalent zur totalitären Neugeburt Deutschlands im Sinne faschistischer Ideologie darstellen.

Und zuguterletzt ersetzt er sogar noch die eigentliche Definition durch eine in einem Interview getroffene Erläuterung, wodurch wiederum zentrale Aspekte verlorengehen.

Was übrigbleibt, wenn alles, was nicht passt, herausgekürzt worden ist, ist ein Schema des Musters “Überwindung von Dekadenz durch Nationalismus”, das dann tatsächlich im Groben der Haltung Höckes und des Rechtspopulismus im Allgemeinen entsprechen könnte: „Früher war alles besser, die 68er haben unser Land und unsere Werte zerstört, wir müssen zurück zu Tradition, Nation und Patriotismus.“ Viel mehr braucht es bei Kemper nicht mehr, um Faschist zu sein. Doch das ist eine Haltung, die man auch bei durchschnittlichen Konservativen antrifft und die weder gegen demokratische Prinzipien noch die Verfassung verstößt.

Und vielleicht ist es gar kein Zufall, dass Kempers Arbeit auf die im Titel versprochene Differenzierung von Faschismus und Konservativismus verzichtet, denn liest man die von ihm zusammengestellten Zitate tatsächlich im Kontext von Griffins Definition, findet man gerade keine palingenetischen Utopien, sondern primär konservative, also rückwärtsgewandte, reaktionäre Motive unter Höckes politischen Zielen.

Bereits die titelgebende und damit für Kemper anscheinend zentrale Wendung der “neurotischen Phase”, der er einen 7-seitigen Exkurs widmet, ist als Motiv nicht palingenetisch, sondern reaktionär: eine Neurose ist eine Angststörung, die zu traumatisiertem, irrationalem Verhalten führt. Die Überwindung einer neurotischen Phase stellt also einen Gesundungsprozess dar, womit ein als natürlich, normal oder gesund gedachter Ursprungszustand wiederhergestellt wird.

Auch die ebenfalls im Titel genannte „historische Mission“ ist schwerlich als faschistisches oder palingenetisches Motiv zu betrachten. „Für mich ist die Wiedergewinnung der Meinungsfreiheit die historische Mission der AfD.“ – Abgesehen davon, dass Meinungsfreiheit kein allzu problematisches Ziel darstellt, drückt der Begriff „Wiedergewinnung“ ebenfalls eine reaktionäre, wiederherstellende Tendenz aus.

Und auch wo er seine eigenen Werte und Ideale beschreibt, womit die von ihm wahrgenommene Dekadenz überwunden werden könne, ruft Höcke weder den „neuen Menschen“ aus noch eine totalitäre Politik, sondern nennt reaktionär-konservative Ideale wie „das Ende der Auflösung der natürlichen Geschlechterrollen“ oder für die Politik ein „auf den preußischen Tugenden fußendes Dienstethos für Politiker“. (Kemper selbst bringt diese Zitate, scheint aber völlig blind dafür zu sein, dass sie ihn eher widerlegen als bestätigen.)

Selbstredend ist das alles erzkonservativ bis ins Mark, und die Ablehnung und Empörung, die Höcke mit solcher antimoderner Rigidität bei großen Teilen von Medien und Politik erzeugt, ist prinzipiell nachvollziehbar. Aber das legitimiert Kemper natürlich nicht dazu, alle Mindeststandards geisteswissenschaftlichen Arbeitens zu unterschreiten. Und wenn er dann am Ende der Arbeit vollmundig verkündet:

“Fassen wir also zusammen: Björn Höcke tritt mit einem utopischen Anliegen auf (1). In seiner historischen Mission geht es ihm darum, die Gesellschaft von dekadenten/ degenerierten Entwicklungen zu befreien (2), um eine neue Nation aufzubauen (3), die als ein »organisches Ganzes« zu betrachten sei (4). Nach Roger Griffins Definition vertritt Björn Höcke damit den ideologischen Kern des Faschismus.“

… dann ist das eben falsch, im Gegenteil gelingt es ihm am Ende einer mit Skurrilitäten gespickten Abhandlung nicht einmal mehr, die Definition zu verwenden, auf die er sich eigentlich beruft. Was Kemper und die veröffentlichende Rosa-Luxemburg-Stiftung damit hier nachweisen, ist nicht Höckes Faschismus, sondern die Bereitschaft, dem eigenen politischen Aktivismus jede wissenschaftliche Lauterkeit zu opfern.


1 https://twitter.com/AndreasKemper/status/1156439108883025920

2 https://www.rosalux.de/fileadmin/ls_thueringen/dokumente/publikationen/RLS-HeftMissionHoecke-Feb16.pdf

3 https://de.wikipedia.org/wiki/Roger_Griffin

4 Emilio Gentile, Der Faschismus. Eine Definition zur Orientierung

Wobei sich auch Gentile gegenüber den Ansätzen „generischer“ Definitionen sehr skeptisch zeigt: „Dies wird besonders deutlich angesichts der Folgen, die der nachgerade inflationäre Gebrauch der Kategorie ‚generischer Faschismus‘ zeitigt. Unter diesem Begriff werden häufig nicht nur die Bewegungen, Regime und Personen zusammengefasst, die sich selbst, in der Zwischenkriegszeit und danach, als faschistisch bezeichnet haben, sondern auch all jene, welche die jeweiligen Autoren gemäß ihrer eigenen Definition als ‚faschistisch‘ betrachten, auch wenn sie sich selbst nicht so bezeichnet oder eine solche Zuordnung bestritten haben. Es ist gar die Rede von Leuten, die Faschisten gewesen seien, ohne es zu wissen, also von einem quasi ‚objektiven‘ Faschismus. Hier ist nicht der Ort, die diversen Fälle zu erörtern, auf die jene Methode angewandt wurde. Doch sollte man sich fragen, was die Konsequenzen eines derartigen Ansatzes wären, wollte man ihn zur Klassifizierung anderer politischer Bewegungen verwenden. Aufgrund einer Theorie des generischen Bolschewismus ließen sich dann paradoxerweise die Anhänger des linken Flügels der christdemokratischen oder der sozialistischen Partei als ‚unbewusste Bolschewisten‘ bezeichnen. So wäre im Nachhinein die faschistische Überzeugung legitimiert, alle Antifaschisten seien als ‚objektive Bolschewisten‘ zu behandeln.“

5 Sven Reichardt, Neue Wege in der vergleichenden Faschismusforschung, S. 12

6 Der umstrittene Begriff des Faschismus. Interview mit Roger Griffin

7 Roger Griffin, Völkischer Nationalismus als Wegbereiter und Fortsetzer des Faschismus. In: Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt – Analysen rechter Ideologie. Münster 2005. S. 23

8 Ebd. S.39f.

9 Der umstrittene Begriff des Faschismus. Interview mit Roger Griffin

Weiterlesen:

„“Andreas Kempers faschistischer Fluss (I): Höcke & das staatliche Gewaltmonopol“ TEIL 1

„“Andreas Kempers faschistischer Fluss (II): Ist Björn Höcke ein Machiavellist?“ TEIL 2

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