Pro & Contra: Braucht es eine „Cancel Culture“ von rechts?
Die „Cancel Culture“ greift um sich. Soll auch die politische Rechte „canceln“? Marvin T. Neumann meint, es brauche Zensur und Verbote, um sich gegen linke „Wokeness“ zu wehren und die Gesellschaft zu formen. Elmar Podgorschek spricht sich indessen gegen eine rechte „Wokeness“ aus.
Die Meinungsfreiheit ist in Gefahr, so heißt es. In mehreren Umfragen geben die Deutschen an, sich nicht mehr zu trauen, ihre Meinung offen kundzugeben. Initiativen gegen „Hassrede“ würgen dem Bürger der westlichen Welt ohnehin längst den Hals ab und der mediale Druck zerstört Karrieren aufgrund von Kontaktschuld. In Großbritannien klingelt die Polizei bei einem falschen Wort auf Facebook an der Haustür und wer als Wissenschaftler tatsächlich behauptet, es gäbe nur zwei Geschlechter, der wird vom Campus gejagt. Die Zensurformen und Mittel zur Reglementierung der Sprache sind zweifelsohne ein wesentlicher und vor allem deutlich vernehmbarer Bestandteil der andauernden Entartung des Westens. Der Wandel von der vulgärverbalen Freizügigkeit noch zu Beginn der Jahrtausendwende hin zur politisch-korrekten Theokratie ohne Gott ruft natürlich Widerstand hervor.
Für viele Kritiker der „Cancel Culture“ liegt die Antwort in der uneingeschränkten Meinungsfreiheit. Die Meinungsfreiheit sei das höchste Gut und Ideal der demokratisch-aufgeklärten Welt. Der Gipfel der Moderne. Ein sakraler Wert, der zurückerobert werden müsste. Jeder sollte im Prinzip alles sagen können, solang das Gesagte keinen direkten Aufruf zur Gewalt bzw. keine Gewaltandrohung darstellt. Das „Canceln“ unterhalb dieses Kriteriums sei demnach Ausdruck für eine unfrei gewordene, von Ideologen und Moralisten gekaperte Gesellschaft. Für Wohlfühlliberale wie Ulf Poschardt ist die politisch korrekte Neurose daher lediglich die Wiederkehr des Gartenzwergbiedermeier der Bonner Republik unter neuen Vorzeichen – die grün lackierte Reaktion. Die liberale Hufeisentheorie der Sittenordnung, sozusagen. Und wie diese Theorie auch in ihrer allgemeinen Formel mit der Realität des Politischen und Historischen nur wenig zu tun hat, funktioniert sie als Erklärungsansatz für den plötzlich aufgetretenen Moralismus westlicher Machteliten ebenso wenig. 68er-Romantiker nahmen an, dass die Zerstörung des überlieferten christlich- konservativen Wertekorpus einzig und allein die Beseitigung eines moralisch-repressiven, faschistoiden Systems bedeutet hätte, dem daraufhin in die ungefilterte Ausdrucksform menschlicher Individualität gefolgt wäre. Tatsächlich aber wurde lediglich ein Weltanschauungs- und Wertesystem durch ein neues ersetzt. Das Vakuum der „freien Welt“ wurde gefüllt, zum Unbehagen aller „free speech absolutists“.
Doch die Forderung einer vollumfänglichen Meinungsfreiheit ist naiv und unpolitisch – und damit nutzlos im Kampf gegen woken Totalitarismus. Denn der Raum des Diskurses verhält sich nicht anders als jeder andere Gesellschaftsbereich. Auch die gesellschaftliche Debatte ist politisch. Gerade im Zeitalter der Massengesellschaft ist die Diskurshygiene und Konsensbeherrschung fundamentales Element politischer Macht. Wenn von Informationskriegen, „Fake News“ und „Desinformation“ gesprochen wird, dann geht es in der Regel darum, die Kontrolle des Sag- und Denkbaren gegen die Graswurzelopposition oder geopolitische Konkurrenz durchzusetzen. Alle angeblichen Gefahren für „die Demokratie“ müssen gecancelt werden. Und am besten ist es, wenn mit „Demokratieunterricht“ bereits die Kindergartenkinder zum selbstverständlichen Canceln erzogen werden.
Der Korridor des Sagbaren wird immer enger. Ein falsches Wort oder eine abweichende Meinung genügen – schon steht man auf der Abschussliste der Tugendwächter. In der FREILICH-Ausgabe Nr. 21 zeigen wir, wie die „Cancel Culture“ unseren Alltag beeinflusst und die Freiheit bedroht.
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Es gibt also keinen Kommunikationsordoliberalismus. Die Institutionen setzen den Rahmen des Denk- und Sagbaren und damit letztendlich des Möglichen – genau deshalb können sie keine neutralen Pfeiler einer Gesellschaft sein. Wer die konsensbildenden Institutionen beherrscht, formt die Gesellschaft. So einfach ist das. Wenn also queerfeministische Progressisten im Kinderfernsehprogramm den Kleinsten schon die geschlechtliche Identitätskrise näherbringen, dann steigt der Anteil von jungen Menschen, die sich als „LGBTQ+“ identifizieren. Wenn man dies bedenklich findet, kann man aber nicht mit dem Verweis auf freie Meinungsäußerung dagegen vorgehen – denn diese verhindert derlei Gefahren nicht. Im Gegenteil. Die Normalisierung und Institutionalisierung dieser woken Exzesse sind unter der Prämisse der Meinungsfreiheit überhaupt erst vollzogen worden. Unter dem Primat der Liberalität, der individuellen Wahl des Lebenswandels und der problemlosen Parallelexistenz verschiedener moralischer Visionen. Doch am Ende ging es nie darum, verschiedene moralische Visionen innerhalb der Gesellschaft demokratisch zu vermitteln und ihre Parallelität zu moderieren. Der Anspruch emanzipatorischer und revolutionärer Strömungen war stets, die eine moralische Vision durch eine neue zu ersetzen – anders funktionieren vor allem moderne Gesellschaften auch gar nicht. Jeder Raum wird zwangsweise eingegliedert, Macht drängt stets zur Homogenisierung, auch ideologiepolitisch. Die liberale Demokratie projiziert und reproduziert dementsprechend ihre ideologische Konzeption gemäß ihrer Eliten, und das heißt nun mal, dass sie den abendländischen Normkonservatismus zu Gunsten liberalistischer Initiative beseitigen musste. Das erzkonservative Dorf im bayerischen Hinterland kann nur vor TikTok, Gleichstellungsbeauftragten und Asylheimen behütet werden, solange es Instanzen gibt, die gegen dergleichen „konter-canceln“.
Für eine rechte politische Kraft, die einen echten Wandel beabsichtigt – geistig, moralisch, politisch, sozial – ist die Eroberung und Nutzung der Institutionen also eine logische Notwendigkeit. Konservative bekommen keinen Blumentopf dafür, dass sie sich der Ausübung von Macht verweigern und devot demonstrieren, wie liberal und nachgiebig sie mit ihren Widersachern und wie offen für alle Debatten sie doch eigentlich sind. Die Zurschaustellung machtpolitischer Impotenz und kulturpolitischer Gleichgültigkeit ist das Aushängeschild „anschlussfähiger“ Politik rechts der Mitte – aber genau diese gilt es zu überwinden. Aufstrebende Karrieristen, Wirtschaftsbosse und „Kulturschaffende“ müssen sich in die Lage versetzt sehen, Anschluss bei einer rechten Kraft zu suchen und sich ihrer moralischen Vision unterzuordnen, nicht umgekehrt. Und diese „Reconquista“ beginnt mit dem Abstellen aller Anreize zur Transgression. In den USA haben selbst „Gatekeeper“ wie Matt Walsh begriffen, dass „das bessere Argument“ nicht reicht, wenn man sich im weltanschaulichen Kampf mit Leuten befindet, welche die eigenen Kinder „groomen“ lassen wollen. Selbst Michael Knowles forderte auf dem CPAC 2023, dass Transsexualismus aus dem öffentlichen Leben komplett verschwinden müsse – keine Werbung, keine Serien und Filme oder „drag queen story hours“ mehr. In Iowa wurden erste Gesetzentwürfe vorgelegt, welche die weißenfeindliche Rassenlehre der „Critical Race Theory“ an Universitäten und Schulen verbannen soll.
Das sind alles gute Ansätze. Denn Gesetze, ökonomische Machtgebilde, Medien und Finanzströme setzen die Imperative, denen die Gesellschaft folgt. So fangen Unternehmen, Politiker, Sportler und Künstler ganz von selbst an, „woke“ zu werden. Es gilt also, auch den Rahmen des Diskurses zu bestimmen. Und das bedeutet: Konter-Canceln. Dies muss der Anspruch sein: Wir wollen die moralischen Normen setzen und wer dagegen verstößt, darf keinen Gesellschaftseinfluss haben. Wenn das „Privatfernsehen“ rund um die Uhr die Verwahrlosung unserer Gesellschaft als Unterhaltungsprogramm anbieten möchte, dann wird dies restlos gestrichen. Wenn die unzähligen, von Steuergeldern finanzierten Medienprojekte der Öffentlich-Rechtlichen auf den Sozialen Medien Jugendlichen die Verstümmelung ihrer Genitalien als neusten Trend näherbringen wollen, dann wird der Sauladen einfach aufgelöst. Und wenn der Mob an überakademisierten linksliberalen Aktivisten nicht Folge leistet, dann gibt’s halt Berufsverbote. Auf anderem Wege wird man diesen woken Multiplikatoren des Wahnsinns nicht die zersetzende Wirkmacht nehmen können – sie müssen in ihrem offenkundig destruktiven Handeln schlicht und ergreifend gehindert werden.
In den 60ern wollten diese Revolutionäre nur einen Stehplatz im Gesellschaftsforum – heute erklären sie sich selbst zur eigentlichen Gesellschaft. Der kolossale Fehler damaliger Konservativer, diesen Kräften überhaupt den Eintritt zu gewähren, wird lediglich von Rechten erkannt. Aber diese Erkenntnis ist der erste Schritt auf dem Pfad zur Wende. Und diese muss gleichermaßen konsequent ausfallen. Das bestehende Regime nutzt den Marker des „Hasses“ als Beschreibung für alle ungewünschten und sukzessive kriminalisierten Meinungen und Standpunkte. Allerlei Ismen und Phobien seien „Hass“ und keine Meinung, also abseits der „polite society“. Die angemessene Antwort auf diese Pathologisierung von Opposition ist die Gegenoffensive. Nicht wir sind eine Gefahr für Staat und Ordnung, sondern ihr. Und nicht wir sind krank, sondern diejenigen, die Männer in Kleidern für Frauen, kleine Kinder für sexuell reif, Weiße für unwiderrufliche Unmenschen und Binsenweisheiten von Gestern für verbale Gewalt halten. Sie gehören gecancelt. Für Perversion und subversive Agitation darf es keine Meinungsfreiheit geben. Denn das ist tatsächlich gefährlich. Die letzten fünfzig Jahre haben es bewiesen. Wir sollten die Lehre daraus ziehen.
Hier lesen Sie den Contra-Beitrag von Elmar Podgorschek: Pro & Contra „Cancel Culture“: Gegen rechte Wokeness
Zum Autor:
Marvin T. Neumann, Jahrgang 1993, ist Nachkomme von vertriebenen Ostdeutschen in zweiter Generation und war Bundesvorsitzender der Jungen Alternative sowie Pressesprecher der AfD-Fraktion im Landtag Brandenburg.