Freilich #36: Ausgebremst!

Rangfolge des Grauens: Ist ein Vergleich der Menschheitsverbrechen möglich?

Die Debatte um Ulrich Siegmund zeigt, wie schnell historische Gräueltaten im politischen Kampf instrumentalisiert werden. Helmut Seifen warnt davor, dass eine Kultur der Empörung den notwendigen nüchternen Blick auf die dahinterliegenden Prinzipien historischer Gewalt verzerrt.

Kommentar von
29.11.2025
/
5 Minuten Lesezeit
Rangfolge des Grauens: Ist ein Vergleich der Menschheitsverbrechen möglich?

Der AfD-Politiker Ulrich Siegmund wollte sich nicht anmaßen, unter Berücksichtigung des Holocaust eine Rangliste der schlimmsten Menschheitsverbrechen zu erstellen. Dafür erntete er scharfe Kritik.

© IMAGO / dts Nachrichtenagentur

Die massenmörderischen Gräueltaten der Nationalsozialisten waren von solcher Monstrosität, dass sie zurecht immer noch Gegenstand gegenwärtiger Reflexionen sind, wenn man über Deutschland, seine innere Verfasstheit und seine Rolle in Europa nachdenkt. Dazu gehört auch, das eigene fassungslose Entsetzen über diese Verbrechen damit zu bekunden, dass man sie als einzigartig und als die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte bezeichnet. Nur dann, so glaubt man, kann man seine unzweifelhafte Abscheu gegenüber diesen Untaten auch überzeugend und glaubhaft beweisen.

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Ein Streit um Worte

Nun hat es in jüngster Vergangenheit wieder einen Aufschrei der Empörung darüber gegeben, dass sich ein Politiker nicht vorbehaltlos diesem verordneten Bekenntnis anschließen wollte, sondern sich gut begründet einer Einordnung der Naziverbrechen in eine Rangfolge der Gräueltaten entzog. Ulrich Siegmund, Landtagsabgeordneter der AfD im Landtag von Sachsen-Anhalt, sah sich nicht in der Lage, die monströsen Verbrechen der Nationalsozialisten als schwerste Verbrechen der Menschheitsgeschichte einzuordnen.

Allerdings lehnte er eine solche Einordnung auch nicht ab, sondern er antwortete auf die Frage des Journalisten, ob der Holocaust das schlimmste Menschheitsverbrechen sei: „Das maße ich mir nicht an zu bewerten, weil ich die gesamte Menschheit nicht aufarbeiten kann und man aus allen Verbrechen dieser Menschheit lernen muss, genauso aus diesem, wie aus vielen anderen auch.“ Den Nationalsozialismus bezeichnete er als „Tiefpunkt unserer Geschichte“. Seine politischen und journalistischen Gegner warfen ihm daraufhin öffentlich die „Verharmlosung des Holocaust“ vor, die Relativierung der Gräueltaten des Nationalsozialismus.

Empörung als Waffe

Nun weiß jeder, der sich im aktuellen politischen Kampf auskennt, dass der Vorwurf der Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen durch Siegmund einem Politiker der AfD gilt, dessen Partei stets in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt wird. Mit dieser Form der Diffamierung arbeiten die politischen Gegner dieser Partei im Grunde seit deren Gründung 2013, weil sie seit jeher Probleme in diesem Land anspricht, die von den anderen Parteien nicht gelöst werden oder gelöst werden wollen. Insofern kann man hinter diesem Vorwurf gegenüber Siegmund schon eine gewisse Boshaftigkeit vermuten und die Sache damit als Empörungskanonade dem gewöhnlichen politischen Kampf zuordnen, in dem jede Seite den Versuch unternimmt, in die Glaubwürdigkeit des Gegners eine Lücke zu schießen, und damit zur Tagesordnung übergehen.

Kann man Menschheitsverbrechen überhaupt vergleichen?

Die Antwort von Siegmund aber enthält einen Hinweis, der ernst zu nehmen ist. Siegmund selbst erklärt seine Zurückhaltung, die nationalsozialistischen Verbrechen an die Spitze aller Verbrechen stellen zu wollen, mit einer persönlichen Erfahrungseinschränkung, die man akzeptieren sollte, ohne daraus boshaft niedere Beweggründe des Politikers zu konstruieren. Doch führt seine Antwort hin zu einer weiteren Frage: „Kann irgendjemand überhaupt in der Lage sein, die politischen Großverbrechen des letzten Jahrhunderts in eine Rangordnung zu bringen, die da unterscheidet nach dem Verwerflichkeitsgrad dieser Verbrechen?“

Versuche dazu gibt es. Diese Versuche konzentrieren sich eigenartigerweise stets auf die Gräueltaten der Nationalsozialisten, weniger oder nie auf die Gräueltaten ihrer ideologischen Verwandten, der Kommunisten, deren Wirken nach dem „Schwarzbuch des Kommunismus“ ca. 90 Millionen Ermordete in den Jahren 1917 bis 1989 auf dem Gewissen hat.

Man führt dazu an, dass der Charakter des rassenideologisch begründeten Genozids und die fabrikmäßig organisierte Verfahrensweise eine Mordmaschinerie in Gang gesetzt hat, die beispiellos in der Geschichte der Menschheit sei und eben diese ungeheure Zahl von 6 Millionen Todesopfern und mehr innerhalb weniger Jahre gefordert habe. Und wenn man sich dann aus den Bild- und Schriftdokumenten die Einzelheiten, den Ablauf dieser verbrecherischen Handlungen vor Augen führt, die unmenschliche Grausamkeit, die in zahllosen Einzelfällen der Tötung geschehen sind und die einen erschauern lassen, dann kann man Verständnis dafür aufbringen, dass man den nationalsozialistischen Genozid als größtes Menschheitsverbrechen einstufen möchte.

Blick über den Nationalsozialismus hinaus

Aber diese Betrachtung der Großverbrechen des letzten Jahrhunderts ignoriert zu sehr die Opfer dieser Gräueltaten und richtet zu sehr den Blick auf die technokratischen Vorgänge. Diese sind nicht erst von den Nationalsozialisten erfunden worden. In den USA etwa wurden mit der Eugenik- und Euthanasiebewegung Anfang des 20. Jahrhunderts Institute gegründet, die Instrumente zur „Behandlung“ von Menschen ersinnen sollten, denen man Freiheit und Lebensrecht vermeinte absprechen zu können.

In Kafkas Erzählung Die Strafkolonie wird mit aller zynischen Grausamkeit vorgeführt, wie Sträflinge maschinell gefoltert und hingerichtet werden. Ein Offizier der Strafkolonie erklärt einem Reisenden mit großer Begeisterung die technisch raffinierte Vorgehensweise einer maschinell gesteuerten „Egge“, die in einem zwölfstündigen Vorgang Buchstaben in den Leib des auf einen Bock gefesselten Verurteilten ritzt, bis dieser unter fürchterlichen Qualen stirbt. Man hat bei der Lektüre der Erzählung den Eindruck, Kafka stelle in ahnungsvoller Vorausdeutung technokratische Mordverfahren dar, wie sie dann später durch die Nationalsozialisten in anderer Form angewandt wurden.

Die Perspektive der Opfer

Wenn man zu einer tatsächlich würdevollen Einordnung dieser Menschheitsverbrechen kommen will, können die äußeren Verfahrensweisen kein Gradmesser für irgendeine geartete Reihenfolge der Schrecklichkeit sein. Was sage ich den 90 Millionen Ermordeten der kommunistischen Gewaltherrschaften? „Ihr habt zwar auch gelitten, aber ihr seid nur das Opfer des zweitschlimmsten Verbrechens der Menschheit.“ Und den zahlreichen Ermordeten in der französischen Revolution – die Vendée wurde fast entvölkert durch die Mordkommandos der Jakobiner –, was sage ich denen? Spätestens der Blick auf die Opfer dieser drei unterschiedlichen massenmörderischen Vorgänge verdeutlicht den verdeckten Zynismus, der hinter der Absicht steht, diese unbegreiflichen Unmenschlichkeiten in eine Rangfolge einzuordnen.

Natürlich war die fabrikmäßig organisierte Ermordung so zahlreicher Menschen durch die Nationalsozialisten einzigartig, aber eben offensichtlich doch fußend auf einer damals aktuellen Gedankenwelt. Aber macht dieser Vorgang dieses Verbrechen zum Schlimmsten? Was sagen die Opfer der Kommunisten dazu, ja häufig selbst Kommunisten?

Die Wurzel der Gewalt

Aus all diesem kann man nur einen Schluss ziehen: Diese fürchterlichen, völlig unbegreiflichen Unmenschlichkeiten entziehen sich jeglichem Ranking. Deshalb verlangt z. B. Hermann Lübbe in seiner Schrift Politischer Moralismus zurecht, „daß es insbesondere in Erinnerung an die undarstellbaren Leiden dieser Opfer nicht angeht, diese Opfer nach Graden der moralischen Verwerflichkeit ihrer Tötung gruppieren zu wollen.“ Man müsse dagegen nach der gemeinsamen Wurzel der mannigfachen politischen Großverbrechen dieses Jahrhunderts suchen. Und diese Wurzel findet Lübbe unter anderem in der „moralistischen Selbstermächtigung zur Gewalt“ aus der Vorstellung heraus, man habe als einziger eine tiefe und unumstößliche Einsicht in die ideologisch erkannten Natur- oder Gesellschaftsprozesse.

Ein Widerspruch zu dieser Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten von Natur und Gesellschaft kann es deshalb nicht geben. Und so begegnet man dem Widerspruch anderer nicht argumentativ, sondern mit der Gewalt sozialer Ausgrenzung bis hin zur Verfolgung und Ermordung. Im Tscheka-Organ Rotes Schwert vom 18. August 1919 konnte man lesen: „Uns ist alles erlaubt“. Und weiter unten: „Unsere Humanität ist absolut … wir sind die ersten in der Welt, die das Schwert nicht zu Zwecken der Versklavung und Unterdrückung ziehen, sondern im Namen der Freiheit.“ Büchner lässt in seinem Drama Dantons Tod den Jakobiner St. Juist vor dem Nationalkonvent sagen: „Die Natur folgt ruhig und unwiderstehlich ihren Gesetzen; der Mensch wird vernichtet, wo er mit ihnen in Konflikt kommt. Wir sind nicht grausamer als die Natur. Soll eine Idee nicht ebenso gut wie ein Gesetz der Physik vernichten dürfen, was sich ihr widersetzt? Was liegt daran, ob sie nun an einer Seuche oder an der Revolution sterben.“

Diese jakobinischen Allmachtsphantasien waren und sind durchweg die Grundlagen aller sozialistischen Weltveränderungsunternehmen der letzten 250 Jahre, gleichgültig, in welcher Farbe der Sozialismus auftrat. Verantwortlich für die Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts sind also Grausamkeit und Menschenverachtung, die in dieser Allmachtsphantasie liegen. Wie will man da eine Rangfolge der Scheußlichkeit und Verabscheuungswürdigkeit der durchgeführten Mordtaten aufstellen, wenn doch die Grausamkeit und Menschenverachtung bereits in der moralistischen Selbstermächtigung zur Gewalt liegt? Es gibt hier keine Rangfolge, nur das Entsetzen darüber, dass der Mensch sich wohl immer wieder in die diabolische Welt der Selbstvergötterung verirren kann.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor

Helmut Seifen

Helmut Seifen ist pensionierter Oberstudiendirektor und war von 2017 bis 2022 Abgeordneter der AfD im Landtag von Nordrhein-Westfalen, wo er als bildungspolitischer Sprecher der Fraktion fungierte. Heute ist er stellvertretender Vorsitzender der Desiderius-Erasmus-Stiftung.

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