Warum die Zurückweisung von Asylsuchenden an der Grenze trotz EU-Recht rechtlich möglich ist

Deutschland diskutiert über eine Kehrtwende in der Migrationspolitik: Innenministerin Faeser (SPD) kündigte Grenzkontrollen für die nächsten sechs Monate an. Umstritten ist jedoch die mögliche Zurückweisung von Asylbewerbern an den deutschen Grenzen. Kritiker halten dies für verfassungs- und vor allem europarechtswidrig. Der staats- und verfassungsrechtliche Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Dr. Christian Wirth, sieht das anders, wie er in seiner Analyse für FREICH erklärt.

Analyse von
15.9.2024
/
7 Minuten Lesezeit
Warum die Zurückweisung von Asylsuchenden an der Grenze trotz EU-Recht rechtlich möglich ist

Der AfD-Politiker Christian Wirth hält Zurückweisungen von Asylbewerbern an der Grenze für europa- und verfassungskonform.

© AfD/ IMAGO / Sven Simon

Nachdem der islamistische Anschlag von Mannheim, bei dem ein Polizist ums Leben gekommen ist, fast schon in Vergessenheit geraten ist, wirkt der islamistische Anschlag von Solingen nach, nicht zuletzt wohl aufgrund der Wahlerfolge der AfD in Thüringen und Sachsen.

Neun Jahre nachdem Angela Merkel (CDU) mithilfe des damaligen Vizekanzlers Gabriel (SPD), des Innenministers de Maizière (CDU) und des Außenministers Steinmeier (SPD) die Dublin-III-Verordnung und damit das Europäische Asylrecht pulverisierte sowie Deutschland und Europa in eine unbeschreibliche Migrationskrise von Völkerwanderungsgröße gestürzt hat, ist es jetzt Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion, der angesichts der wankenden Ampel-Regierung und der Umfragewerte in Deutschland eine Schließung der Deutschen Außengrenzen und die Abschiebung nach Afghanistan und Syrien fordert.

Im Ergebnis richtig sagt er, dass eine nationale Notlage angesichts der Zuwanderung in Deutschland vorläge, die es erlauben würde, Menschen an Deutschlands Grenzen zurückzuweisen. Tatsächlich gibt es solche Notlagenszenarien in dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).

Das EU-Recht lässt viel zu

Art 71 AEUV bestimmt, dass das EU-Recht nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedsstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit berührt. In Art. 78 Abs. 3 wird sogar bestimmt, dass, wenn sich ein oder mehrere Mitgliedsstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden, der Rat auf Vorschlag der Kommission vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedsstaaten erlassen kann. Beide Vorschriften sind eine Konkretisierung des Art. 3 Abs. 2 EUV, in dem die gegenseitigen Bedingungen der offenen Binnengrenzen festgelegt wurden. Dazu später mehr.

Vorweg, ohne an dieser Stelle ausführlich auf die Rechtsprechung des EuGH eingehen zu können, hat der EuGH diese Notlagen-Tatbestände der Art. 71 und 78 AEUV bereits „abgefrühstückt“, eine Hilfe ist weder von der Europäischen Kommission noch vom EuGH zu erwarten, oder um mit den Worten des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, zu sprechen, der vor einem  „kollusivem Zusammenwirken“ zwischen den EU-Institutionen und dem EuGH zu Lasten der Nationalstaaten gewarnt hat.

Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Papier, der bereits in einem Gutachten von 2018 für die Grenzschließung geworben hat, hält die Zurückweisung von Asylbewerbern an der Grenze für zulässig. „Ich halte Zurückweisungen nach Paragraf 18 Asylgesetz nicht nur für möglich, sondern sogar für geboten.“ Deutschland sei ausnahmslos von sicheren Drittstaaten umgeben.

Die Souveränität Deutschlands wiegt schwerer

Paragraf 18 erlaubt die Zurückweisung von Asylbewerbern an der Grenze, die über ein anderes EU-Land einreisen. Es gebe laut Papier keine europarechtlichen Regelungen, die ein solches Vorgehen außer Kraft setzten, weil sie übergeordnet seien. „Die jetzige Praxis, die faktisch ein Zutrittsrecht für jeden vorsieht, der das Wort Asyl ausspricht, halte ich für nicht zulässig“, so Papier. Die Ausnahmeregelung aus humanitären Gründen sei zur Regel geworden, widerspreche aber dem Sinn des Asylrechts. Papier beruft sich auf den souveränen Staat Deutschland, der nicht gezwungen werden kann, jeder Person der Welt Asyl zu gewähren. Die Souveränität stehe über dem europäischen Recht.

Auch der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Maaßen ist der Auffassung, dass § 18 Asylgesetz vor der Dublin-III-Verordnung anzuwenden ist, da alle asylsuchenden Ausländer nach § 18 Abs. 2 AsylG an den Deutschen Außengrenzen zurückzuweisen sind, wenn sie aus sicheren Drittstaaten kommen. Nach Artikel 16a GG, § 26a AsylG gehören hierzu alle EU-Mitgliedsstaaten und eine Ausnahme mit Blick auf europäische Vorschriften nach § 18 Abs. 4 NR. 1 nur gelte, wenn Deutschland aufgrund von Rechtsvorschriften der EU für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Diese Vorschrift ist in aller Regel nicht einschlägig, da nach Artikel 13 Dublin-III-Verordnung die Staaten zuständig sind, über die die Asylsuchenden eingereist sind, also die sicheren Drittstaaten. Maaßen plädiert dafür, EU-Recht nicht mehr anzuwenden, da sich die meisten Mitgliedsstaaten nicht an dieses halten und somit auch für Deutschland nicht mehr verbindlich sind und verweist auch auf den 72 AEUV.

Kann man das EU-Asylrecht einfach unbeachtet lassen? Immerhin haben wir uns in Art. 16a Abs. 5 GG verpflichtet, internationales, auch EU-Asylrecht, zu beachten. Im Rahmen des Art. 23 GG soll sogar das Europäische Asylrecht das Deutsche Asylrecht „überlagern“.

Notlage muss angemeldet werden

So bewertet der Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht, Daniel Thym, die Sachlage anders. Er hält das Dublin-System für bindend. Zwar bestehe die Grundidee darin, dass die Länder an der EU-Außengrenze die meisten Asylanträge bearbeiten. Allerdings könne Deutschland deshalb Asylbewerber nicht einfach zurückweisen. Stattdessen verlangt die Dublin-III-Verordnung ein kompliziertes Verfahren, wenn jemand „an der Grenze“ um Asyl nachsuche. Erst wenn ein Verwaltungsgericht grünes Licht gebe, dürfe Deutschland eine Person in den zuständigen Staat überstellen. Laut Thym wäre es zwingend erforderlich, dass Deutschland zunächst eine Notlage bei der EU anmeldet.

Wie oben gesagt, wird eine solche Notlage jedoch nie festgestellt werden. Dies insbesondere, da die Notlage seit 2015 bewusst herbeigeführt und aufrechterhalten wurde.

Niemand glaubt mehr an Dublin

Ein Phänomen der Dublin-III-Verordnung ist, dass sich aktuell wohl kein Land der EU außer Deutschland mehr daranhält. Asylsuchende werden oft ohne Registrierungen oder sogar nach Registrierungen nach Deutschland durchgewinkt; Grenzschließungen sind für Frankreich, Schweden, Dänemark u.a. an der Tagesordnung. Beachtlich hier, dass weder die EU-Kommission noch Deutschland ein mögliches Vorgehen gegen rechtsbrüchige Mitgliedsstaaten mit Vertragsverletzungsverfahren ahndet, wie Österreich das beim Deutschen Mauth-Alleingang getan hat.

Der Grund, keiner glaubt mehr an dieses Dublin-System, welches die Mitgliedsstaaten bestraft, die sich vertragstreu verhalten, nämlich durch den Wechsel der Zuständigkeit, wenn die eigentlich verpflichteten Staaten die Drittstaatenangehörigen trotz Zuständigkeit und Rückstellungsersuchen nicht mehr zurücknehmen. So haben Polen und Österreich auch bereits angekündigt, eine Zurückweisung von Drittstaatlern an den deutschen Grenzen nicht hinzunehmen.

An der Dublin-III-Verordnung herumzudoktern, löst die deutschen Probleme nicht. So spricht Merz davon, dass er die Migranten nach Deutschland durchlassen würde, die entweder in den vorgelagerten EU-Staaten keinen Asylantrag gestellt haben oder nicht registriert wurden. Dies ist aber genau Wasser auf die Mühlen unserer Nachbarstaaten, die alles tun, um die Migrantenströme zu uns weiterzuleiten. Das kann man auch verstehen. Deutschland bekommt geliefert, was es bestellt hat. Diese Rosinentheorie bezüglich des EU-Asylrechts verschärft die bereits vorhandene Nichtanwendung der Dublin-III-Verordnung durch unsere Nachbarstaaten. Tatsächlich hat die CDU/CSU-Fraktion in der 37. Kalenderwoche, trotz großartiger Ankündigung in der Presse und in der Haushaltsdebatte, in derselben Woche einen Grenzschließungsantrag einzubringen, nichts geliefert.

Eine Lösung ist machbar

Wie kann eine juristische, saubere Lösung aussehen? Diese Lösung habe ich einem Bundestagsantrag (BT-Drs. 20/11626) dargelegt, auch mit einer Abhandlung, warum die Rückführungsrichtlinie zwischen der Bundesrepublik und den Nachbarstaaten keine Anwendung findet.

Betrachten wir die Rechtsgrundlage, auf der das gesamte EU-Asylrecht beruht. In Art. 3 Abs. 2 EUV haben die EU-Mitgliedsstaaten sich offene Binnengrenzen mit freiem Personenverkehr zugesichert. Im Gegenzug wurde die EU zu folgenden Aufgaben verpflichtet:

Geeignete Maßnahmen in Bezug auf

  • die Kontrolle der Außengrenzen,

  • das Asyl,

  • die Einwanderung,

  • die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität.

Keine dieser Maßnahmen erfüllt die EU in auch nur ansatzweise erforderlichem Maße. Richtig ist, dass bei der Ratifizierung des EU-Vertrages 1993 die Vertragsparteien nicht absehen konnten, dass diese Vertragsbedingungen unter dem Druck der Migrationswelle nicht mehr greifen können. Aber wenn diese Vertragsbedingungen sich so durch in der Zukunft liegende Umstände geändert haben, die niemand vorhersehen konnte, muss man sich an diese Vertragsbedingungen auch nicht halten.

Im Zivilrecht wendet man zum Beispiel die Rechtsfigur „Wegfall der Geschäftsgrundlage“ an. Diese Rechtsfigur entstammt dem römischen Recht: Clausula rebus sic standibus. Sie bedeutet, dass eine Regelung nur unter dem Vorbehalt gleichbleibender Umstände gelten soll. Es dürfte unstreitig sein, dass das EU-Asylrecht neben dem Schutz der Außengrenzen gescheitert ist. Diese Klausel ist auch in internationalen und völkerrechtlichen Verträgen, wie den EU-Verträgen, anerkannt und kodifiziert, nämlich in Art. 62 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WÜV).

Politischer Wille ist erforderlich

Wenn wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage die Anwendung von EU-Asylrecht über Artikel 23 GG nicht zur Anwendung kommt, gibt es auch keine Verdrängung der Regelungen des Artikel 16a Absätze 1 bis 4 GG, denn völkerrechtliche EU-Verträge sind nur dann vorrangig, wenn die Anwendung der GFK und der EMRK bezüglich des Asyls in den Vertragsstaaten sichergestellt ist, was offensichtlich nicht der Fall ist. Die Artikel 16a Absätze 1 bis 4 GG bleiben damit uneingeschränkt und ohne Rücksicht auf EU-Verträge unmittelbar anwendbar.

Demnach können und müssen wir das gesamte EU-Recht mit der Dublin-III-Verordnung zumindest zeitweilig suspendieren, bis die EU-Außengrenzen wirksam geschützt und ein wirksames Asylsystem in den EU-Mitgliedsstaaten installiert ist, und das ist sicher nicht das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS), dass vielleicht irgendwann kommen soll.

Hierzu bedarf es nur eines politischen Willens und eines Ministerialerlasses aus dem Innenministerium. Der Dominoeffekt würde bewirken, dass auch die EU-Außenstaaten keine Migranten mehr aufnehmen.

Können wir diese Maßnahme gegenüber der EU-Kommission und dem EuGH durchsetzen? Deutschland ist der größte Beitragszahler der EU. Sowie die EU z.B. Ungarn mit hohen Strafzahlungen erpresst, obwohl Ungarn den Auftrag der EU-Außengrenzsicherung vertragsgemäß erfüllt und eben nicht seine Kultur durch kulturfremde Einwanderung gefährdet sehen möchte, kann Deutschland durch seine Beitragszahlungen sicher eine wohltuende Besinnung auf europäische Kultur und Interessen bewirken. Das nennt man die normative Kraft des Faktischen.

Nur so können wir Deutschland wieder vom Kopf auf die Füße stellen und sowohl die europäische als auch die deutsche Kultur retten.

Über den Autor

Christian Wirth

Dr. Christian Wirth ist AfD-Politiker und Rechtsanwalt. Seit 2017 ist er Mitglied des Deutschen Bundestages und Sprecher für Staats- und Verfassungsrecht der AfD-Bundestagsfraktion.

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