Zur Ambivalenz des AfD-Gründungsmythos
In seinem Kommentar fordert der Berliner AfD-Politiker Frank-Christian Hansel eine öffentlich wahrnehmbar wirkende Umstellung der Innen-Außen-Differenz seiner Partei.
Die AfD, heißt es immer wieder, ist angetreten, anders zu sein, Politik anders machen zu wollen. Dieser Vorsatz wurde als Maxime zum Gründungsmythos erhoben, der als Selbstzuschreibung sowohl nach innen als auch nach außen wirkt. Mit dieser Maxime manifestiert sich der Befund der „integralen Einschwörung“ im Sinne eines Prinzips „totaler Mitgliedschaft“, das Peter Sloterdijk in seiner luziden Studie Im Schatten des Sinai – Fußnote über Ursprünge und Wandlungen totaler Mitgliedschaft von 2013 (!) bemüht hat.
Darin beschreibt er die Urszene des Gemetzels, das im Nachgang des Tanzes um das goldene Kalb von Mose befohlen worden war. Mit und aus diesem Gemetzel heraus hat Moses das Auserwählte Volk quasi sich selbst hervorbringen lassen. Indem sich die AfD mit ihrer Maxime vom Anderssein von Anfang an durch ein eigenes Narrativ absetzte gegen die etablierte Politik an und für sich, also grundsätzlich gegen „die Anderen“, betrieb sie eine „Selbstexklusionsmaßnahme“, aus der heraus sich „eine möglichst unüberwindliche Innen-Außen-Differenz herausbildete. Dann, nach der verschärfenden Erfurter Sezession 2.0, mit der Folge einer zusätzlichen Binnendifferenzierung, entstand eine weit radikalere Absetzbewegung, die sich nun gegen innerparteilich unterstellte Abweichlertendenzen in Richtung einer FDP 2.0 oder CDU 2.0, richtete.
Das Anderssein als Parteiidentität
Nicht umsonst begann die „Erfurter Resolution“ mit der akuten Beschwörungsformel, das Projekt AfD sei insgesamt in Gefahr. Was diese überschüssige Einschwörung im Sinne von Selbstverstärkung im konkreten Erfurter Fall zum Skandal gemacht hatte, war, dass sie sich als interne Flügelabweichung verstand und ein Bekenntnis nicht mehr nur zum eigentlichen Selbstverständlichen einforderte, sondern zusätzlich die Binnenabgrenzung gegen das eigene Parteiestablishment einforderte. Jetzt ging es seitens der „Ganzen“ gegen die angeblichen „Halben“, die es perspektivisch letztlich „auszuschwitzen“ gelte. Damit handelte Björn Höcke gegen den 6. Hauptsatz der „Theorie der Stolz-Ensembles“ von Peter Sloterdijk in seiner Schrift Zorn und Zeit (2006): „Machtkämpfe im Innern politischer Körper sind immer auch Vorrangkämpfe zwischen thymotisch geladenen, ehrgeizigen Individuen mitsamt ihren Gefolgschaften; die Kunst des Politischen schließt darum die Verfahren der Verliererabfindung ein“ (S. 37).
Hier schließt sich der Kreis einer Entwicklung, die zum öffentlich inszenierten Dauertribunal durch das Parteien- und Medienkartell mit der Drohung der Verfassungsschutzbeobachtung führt. In dieser Inszenierung mit angeleiteter Regieführung wird der AfD verunglimpfend die Rolle als Sammelbecken rechtsextremistischer Mitglieder zugeschrieben, so dass die bürgerlichen Mitspieler und Zuschauer der Mitte sich doch bitte nicht angesprochen fühlen sollten, bei dieser Truppe mitzumachen.
Der Wähler hat eine andere Perspektive
Hier also findet die integrale Selbsteinschwörung ihr logisches Pendant im Außen, denn im Parteiensystem wird dem emporschießenden Neuling, der sich selbst im Sinne ontologischer Differenz absetzt, konsequent der Platz im Diesseits der Hauptbühne des „demokratischen Spektrums“ verweigert und die spiegelbildliche totale Ausgrenzung geprobt. Jedes Mittel, seinen Aufstieg mit unlauteren Mitteln zu verhindern, ist Recht, jede Demütigung erlaubt. Die AfD wird auf diese Weise medial verzerrt zum Skandal. Da grenzt es doch an ein wahres Wunder, dass es die AfD im modus vivendi einer neuen politischen Bewegung mit starken Sendern im erhöhten Frequenzbereich bis ins 10. Jahr geschafft hat, vor allem, wenn man Ihre genannten psychopolitischen Entstehungsbedingungen im Innen und Außen zugrunde legt.
Aber offensichtlich nehmen viele Bürger den Skandal nicht bei der AfD wahr. Für sie ist nicht die AfD der Skandal, sondern die Politik der Altparteienkoalitionen, die bereits seit Jahren die postnationale Überwindung Deutschlands in einer zentralistischen EU vorantreiben und das Land mit Eurorettung, Klimarettung und Flüchtlingsrettung belasten, was die finanzielle und wirtschaftliche Basis schwächt.
Parteipolitik hat ihre eigenen Regeln
Mit Niklas Luhmanns Theorie Sozialer Systeme („Systemtheorie“) kann man lernen, dass Systeme und Subsysteme sich selbst regelnden – autopoietischen – Funktionsbedingungen unterliegen. Man kann das einfacher auch Spielregeln nennen. Das Subsystem „Parlamentarische Parteien-Demokratie“ ist ein solches Subsystem mit eigenen Spielregeln. Wer also in diesem System – rein systemtheoretisch im Sinne Luhmanns gesprochen – mitspielen will, heißt, Teil des Spiels, also aktiver Player werden zu wollen, ist, ob er will oder nicht, gezwungen, entweder die Funktionsbedingungen zu akzeptieren – oder es zu lassen, und dann lediglich Umwelt des Systems zu sein, also draußen zu bleiben.
Es geht hier um Entweder – Oder, nicht um Ja, da ein bisschen, dort etwas weniger. Genau an diesem Punkt müssen wir uns als AfD fragen – eine Frage, die eigentlich längst entschieden, aber von vielen offenbar noch nicht verinnerlich ist - ob wir Politik anders, also jenseits des selbstreferentiellen Systems „Parlamentarische Parteien-Demokratie“ machen möchten, oder in ihm eine andere Politik. Hier gilt das Motto: Politik kann man – systemtheoretisch gesprochen – gar nicht anders machen, sondern man kann entweder richtige Politik machen oder falsche.
Dass in der AfD der alle Mitglieder einschließende lagerübergreifende Konsens herrscht, dass in den letzten 30 Jahren die Politik in allzu vielen Feldern in die völlig falsche Richtung gelaufen ist und diese Politik korrigiert werden muss, um Deutschland wieder wettbewerbsfähig, und als solches überhaupt zukunftsfest zu machen, ist nachgerade evident. Es ist dieser Grundkonsens, der die Mitglieder der Partei zusammenschweißt.
Unser Anderssein ist demnach eben kein kategorial-ontologisches Phänomen, sondern rührt aus einer differenten Wahrnehmung der sozialen und politischen Verhältnisse her, die uns zu „bürgerlichen Dissidenten“ macht.
Richtige oder falsche Politik
Ich denke, also bin ich; Ich denke anders, also bin ich anders. Nicht, dass wir also tatsächlich anders wären, macht uns im politischen Spektrum besonders, sondern weil wir anders über die Verhältnisse denken und daher eine andere Politik fordern und uns zu diesem Zwecke zusammengefunden haben.
Diese Einsicht verlangt eine Depotenzierung unserer Maxime, sie verlangt die Rückholung des eigenen Anspruchs eines irgendwie gearteten Andersseins. Was in der Gründungsphase notwendig und richtig war im Sinne einer identitätsstiftenden Einschwörung und zur innerparteilichen programmatischen Klärung, sollte nach zehn Jahren stabiler Selbstvergewisserung jetzt überwunden werden, damit wir uns nach den Funktionsbedingungen des Subsystems bewegen und mit dieser Bewegung unsere andere Politik in das Zentrum des Systems implementieren.
Exit aus der Sezessionsfalle
Denn mit der Überwindung des ex ante quasi gesetzten sezessionistischen Grabens ist, um den erwartbaren reflexartigen Widersprüchen gleich vorweg zu begegnen, keine inhaltliche Anbiederung an die Konkurrenten gemeint noch intendiert, sondern wird allein das Möglichkeitsfeld eines wechselseitig anderen modus vivendi ermöglicht und der fortschreitende Weg einer tendenziell weiteren Binnenradikalisierung und Entfremdung gestoppt. Die Umstellung unserer Differenz im Subsystem Parlamentarische Parteiendemokratie von „Politik anders machen“ auf „andere Politik machen“ ermöglicht uns den Exit aus der Sezessionsfalle, in die uns insbesondere der „Verfassungsschutz“ tappen lassen will.
So wie das Subsystem Parlamentarische Parteiendemokratie seine eigenen Funktionsbedingungen hat, haben auch die in ihm wirkenden Parteien als weiterem Subsystem ihre Funktionsbedingungen, denen man systemtheoretisch gesprochen, nicht entkommen kann. Das hat bereits vor mehr als 100 Jahren Robert Michels in seiner klassisch gewordenen Studie Zur Soziologie des Parteienwesens in der modernen Demokratie – Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens 1911 herausgearbeitet. Auch hier heißt es, abzurüsten und Entspannung zu signalisieren. Das oftmals vernehmbare Geraune, wie schnell man denn zur „Altpartei“ geworden sei, löst sich dann von alleine auf. Denn mittlerweile läuft, man mag es bedauern, die Rekrutierung von Nachwuchs, Mitarbeitern, Funktions-, Amts-, und Mandatsträgern so wie bei den Anderen auch – systemtheoretisch leider gar nicht anders machbar.
Befreiung aus der Sezessionsfalle
Erst mit bzw. nach dieser dann auch öffentlich draußen wahrnehmbar wirkenden Umstellung der Innen-Außen-Differenz des „Wir und bzw. gegen die Anderen“ hin zum „We agree to disagree“ im Sinne einer anerkannten inhaltlichen Binnendifferenz innerhalb des politischen Spielfelds wird der Raum aufgeschlossen, der eigene konstruktive Spielräume ermöglicht, da sie nicht gleich als „Verrat“ gebrandmarkt würden. Spiegelbildlich würde damit auch den anderen die Möglichkeit eröffnet, die – auch in selbstschützender Abwehr – hochgezogenen Brandmauern einzureißen. Dann kann das politische Spiel beginnen: Die ehrliche Auslotung tatsächlicher inhaltlicher Schnittmengen untereinander, teilweise Zusammenarbeit auf unterschiedlichsten Ebenen, bis hin zu taktischen oder strategischen Allianzen.
Wenn es unser Ziel ist, den öko- und klimasozialistischen Umverteilungs-Globalismus zu stoppen, werden wir dazu Verbündete brauchen. Befreien wir uns daher aus der selbst verordneten Sezessionsfalle und laden alle „bürgerlichen Dissidenten“ dazu ein, uns dabei zu unterstützen. Zwingen wir mit diesem Schritt auch die Mitbewerber, zu ihren eigentlichen politischen Aussagen zu stehen, die im Zweifel auch nur noch mit uns als AfD gegen den Linksblock um- und durchsetzbar sind. Zarte Anfänge sind in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt ja schon erkennbar. Dann kann es wirklich heißen: Die beste Zeit der AfD liegt noch vor ihr.
Zur Person:
Frank-Christian Hansel, Jahrgang 1964, ist seit 2016 für die AfD Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Dort ist er unter anderem im Ausschuss für Wissenschaft und Forschung aktiv. Der gebürtige Hesse studierte Politische Wissenschaften, Philosophie und Lateinamerikanistik.
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