100 Tage Gaza-Krieg: Mogadischu und Grosny verhindert

9.000 tote Hamasniks und 14.000 tote Zivilisten. Die israelische Armee ist mit großer Disziplin nicht in die Falle getappt. Aber die Gaza-Metro ist immer noch in Betrieb. Die Abschreckung scheint wiederhergestellt. In Gaza verlagert sich die Intensität auf Säuberungsaktionen.

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100 Tage Gaza-Krieg: Mogadischu und Grosny verhindert

Der Krieg in Gaza begann am 7.Oktober 2023.

© IMAGO / Newscom World

„Der Weg von Damaskus nach Tel Aviv ist gleich weit, wie der Weg von Tel Aviv nach Damaskus“, brachte die israelische Militärlegende Moshe Dayan die konventionelle Präventiv- und Zweitschlagsfähigkeit Israels auf den Punkt. Mit den konventionellen Siegen verschwanden nach und nach auch die konventionellen Gegner, so dass sich die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) zunehmend mit Aufständischen und Terroristen konfrontiert sahen, deren Schlagkraft, Tödlichkeit und Grausamkeit sich am 7. Oktober 2023 in einer infernalischen Eskalation entluden. Die Hamas adaptierte sozusagen Dayans Doktrin: Von Sderot nach Gaza ist es genauso weit wie von Gaza nach Sderot.

Trotz aller Bedenken, Unwägbarkeiten und Risiken galt es daher, die Abschreckungsfähigkeit der IDF gegenüber der Hisbollah, dem Iran und anderen Akteuren wiederherzustellen und die Hamas als Läufer Teherans vom geostrategischen Schachbrett des Nahen Ostens zu entfernen. Dies kulminierte in den Phasen und Zielen, die der Generalstab für die Operation „Swords of Iron“ festlegte. Die erste Phase bestand aus massiven Luftangriffen und begrenzten Vorstößen zur Vorbereitung einer umfassenden Bodenoffensive. Nach der Bombardierung von 10.000 Zielen begann der Angriff in der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober. 360.000 mobilisierte IDF-Soldaten standen geschätzten 45.000 Hamas-Soldaten gegenüber.

Die zweite Phase sah die Besetzung des Gazastreifens, die Zerschlagung der militärischen Strukturen der Hamas und die Zerstörung des Tunnelsystems vor. Auch bekannt als „Gaza-Metro“. Ursprünglich ging die IDF von einem unterirdischen Netz in der Größenordnung der Londoner U-Bahn aus. Also etwa 400 Kilometer. Laut einem Bericht der New York Times von Mitte Januar 2024 mussten diese Schätzungen auf 560 bis 720 Kilometer nach oben korrigiert werden.

Nach Ansicht des britischen Oberst a. D. Richard Kemp, Commander of the British Empire (CBE), war es richtig, dass sich die IDF gegen den Rat offizieller amerikanischer und britischer Experten entschied und mit massiven Panzerkräften in den Gazastreifen einmarschierte. Ein Verzicht auf Panzereinheiten wäre laut Kemp ebenso erfolglos gewesen wie im Irak und in Afghanistan.

„To Hamas, life is cheap!“

Dennoch hat die IDF Anstrengungen unternommen, um Kollateralschäden unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Bisher wurden sechs Millionen Flugblätter abgeworfen, 14 Millionen automatische Warnanrufe und 72.000 persönliche Warnanrufe getätigt. Diese intensivierte Taktik des bewährten „Dachklopfens“ ermöglichte den Rückzug in humanitäre Zonen über sichere Korridore. Zusätzlich zu den täglichen taktischen Feuerpausen.

Die Bilanz dieser Bemühungen ist außergewöhnlich: So belaufen sich die Verluste der Palästinenser auf geschätzte 23.000, davon 9.000 getötete Hamasniks, also Aufständische und Terroristen der Hamas. In der Regel liegt das Verhältnis zwischen getöteten Aufständischen und zivilen Opfern eher bei 1:5 bis 1:10.

Und dies, obwohl die Doktrin der Hamas in dieser Hinsicht eine Antithese darstellt. Ziel ist es, möglichst viele Opfer unter der Zivilbevölkerung zu verursachen, um Israel vor dem Gericht der Weltöffentlichkeit unter Druck zu setzen. Stellungen, Waffenlager und Tunnelschächte, deren Zahl inzwischen auf 5.700 geschätzt wird, befinden sich in oder in der Nähe von Schulen, Krankenhäusern, Moscheen, öffentlichen Gebäuden, Geschäften und anderer ziviler Infrastruktur.

Zivilisten werden systematisch als Schutzschilde missbraucht. Verweigerer werden erschossen. Auch Geiseln werden in Hinterhalte gezwungen. Ebenso ist es üblich, falsche Spuren zu legen und Tonbandstimmen abzuspielen. Keine Armee könnte diesen Auftrag ohne Kollateralschäden an Mensch und Infrastruktur erfüllen. Oberst Kemp bringt die Geisteshaltung der Hamas auf den Punkt: „To Hamas, life is cheap!“

Spongebombs versus Gaza-Metro

„Pläne halten nur bis zur ersten Feindberührung“, fasste Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke der Ältere seine Doktrin des „Getrennt Marschierens“ und „Vereint Schlagens“ zusammen. Lord Admiral Horatio Nelsons „Something must be left to the Chance“ drängt sich auf. Geplante Schritte wie Zwischenziele unterliegen daher einer ständigen Bewertung und Nachjustierung.

Nachdem die zwölf Bataillone der Hamas im Norden des Gazastreifens zerschlagen wurden und dazu übergegangen sind, in Gruppen von zwei bis fünf Hamasniks anzugreifen und sich gleichzeitig in das Tunnelsystem zurückzuziehen, planen die IDF, in den nächsten Monaten vor allem Säuberungsaktionen durchzuführen. Dadurch können die Reserveeinheiten nach und nach abgezogen und demobilisiert werden.

Channel 12, ein israelischer Fernsehsender, berichtete über „Armament Economics“. Die Zahl der verschossenen Granaten sei rapide zurückgegangen. Es handele sich nicht um Munitionsmangel, sondern um einen sparsameren und sorgfältigeren Umgang mit Munition. Kein Einsatz sei bisher wegen Nachschubproblemen abgebrochen oder verschoben worden.

Neben der ununterbrochenen Waffenproduktion der umfangreichen israelischen Rüstungsindustrie ist die transatlantische Logistikkette ununterbrochen in Betrieb. Mehr als 240 Transportflugzeuge und 20 Schiffe brachten bisher 10.000 Tonnen Material aus den USA. Darunter 57.000 Artilleriegranaten, 14.000 Panzergranaten, 5.000 Mk 82 „Dumb Bombs“, 5.400 Mk 84 2.000 Pfund „Warhead Bombs“, 3.000 JDAM-Kits zur Aufrüstung von „Dumb Bombs“ zu „Smart Bombs“ sowie 1.000 GBU-39 und 100 BLU-109 bunkerbrechende Bomben.

Bis Mitte Dezember wurden 29.000 Bomben auf den Gazastreifen abgeworfen und 70 Prozent der 440.000 Gebäude beziehungsweise Wohnungen zerstört oder beschädigt. Dass dabei nur 14.000 Zivilisten ums Leben kamen, spricht für den ebenso systematischen wie sorgfältigen Einsatz der IDF. Besonders hilfreich war dabei der Einsatz von Künstlicher Intelligenz zur Lokalisierung, Identifizierung, Zielauswahl und Zielansprache. Das hohe Ausmaß an zerstörter Infrastruktur ist auf die intensive Nutzung ziviler Gebäude durch die Hamas zurückzuführen.

Der „Krieg als Vater aller Dinge“ im Sinne Heraklits in Verbindung mit Toynbees „Challenge and Response“ lässt eine ebenso gut vorbereitete wie ausgerüstete IDF im Gazastreifen operieren. So ist der Verband Jahalom/Diamant mit den auf Tunnelkampf spezialisierten Einheiten Samur/Wiesel und Sayfan/Gladiole für unkonventionelle Kriegsführung mit Robotern, Hunden und „Spongebombs“ im Einsatz.

Diese „Schaumbomben“ dehnen sich explosionsartig aus und härten in kürzester Zeit aus, um Tunnelschächte zu verschließen. Laser- und GPS-gesteuerte Munition aus dem 120-mm-Granatwerfer „Iron String“ erhöht die Kampfkraft im urbanen Gefechtsfeld ebenso wie das Nachtsichtgerät „Ido“ oder die „Negev-Gun“, die im Kaliber 7,62 mm über eine hohe Durchschlagskraft verfügt und dennoch gezieltes Einzelfeuer ermöglicht. Das neue Fire Control System, FCS, erhöht die Treffergenauigkeit um das Vierfache.

„Raw Courage of the Infantrymen“

Zum ersten Mal sind alle vier Flugabwehrsysteme gleichzeitig im Einsatz. Iron Dome und David's Sling für den Nahbereich, Patriot und die Arrow-Systeme für die Mittel- und Langstrecke. INS Oz und INS Magen der Saar 6-Klasse unterstützen die Bodentruppen von See aus mit 18 verschiedenen Waffensystemen an Bord. So zum Beispiel die Anti-Terror-Einheit LOTAR, die auch amphibische Operationen durchführt und auf Infiltration, Sabotage und Scharfschützenfernfeuer spezialisiert ist.

Zwei Staffeln der F-35 Adir/Lightning II fliegen Angriffe mit „dumb bombs“, die mittels JDAM zu „smart bombs“ aufgerüstet wurden. Dadurch können die Bomben auch unter den Tragflächen und nicht nur in den Waffenschächten mitgeführt werden. Die Tarnkappenfähigkeit muss gegenüber den erweiterten Einsatzmöglichkeiten vorerst zurückgestellt werden.

Die IDF und die Polizeikräfte haben seit Beginn des Krieges 529 beziehungsweise 60 Tote zu beklagen. 193 seit Beginn der Offensive. Darunter 135 Offiziere, die meisten Unteroffiziere und Dutzende Mannschaften. Ein Blutzoll, dessen geringe Höhe – mit Ausnahme des 7.10. – Freund, Feind und Verbündete überraschte.

Der Plan, den Gazastreifen in ein zweites Mogadischu oder Grosny zu verwandeln, ist gescheitert. Das Ausmaß der Grausamkeit hat vielmehr Motivation und Moral gestärkt. Colonel Kemp schrieb dazu sinngemäß: Letztendlich entscheidet nicht die High-Tech-Streitkraft, sondern der schiere Mut des Infanteristen mit seinem Gewehr.

Über den Autor

Gert Bachmann

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