SPÖ wagt die direkte Parteidemokratie
In seinem Kommentar thematisiert und analysiert Gert Bachmann die geplante SPÖ-Mitgliederbefragung zum Parteivorsitz und unternimmt einen Rundblick über direkte Parteidemokratien in Frankreich, dem Vereinigte Königreich und den USA zum Vergleich.
„Spero contra spem.“ Ich hoffe entgegen der Hoffnung, wussten schon die alten Römer. Nunmehr stellt sich zudem die kaiserliche Ferdinand-Frage: „Ja dürfen die denn das?“ Die SPÖ schickt sich an zu versuchen aus der Not eine Tugend zu machen und das Experiment direkte Demokratie auf Parteiebene zu wagen.
SPÖ-Bundeschefin Rendi-Wagner provozierte nach den unerwartet hohen Stimmverlusten in Kärnten ihren langjährigen Widerpart Doskozil zu einer offenen „Feldschlacht“ auf einem Terrain, wo er erwartungsgemäß unterliegen müsste. Nämlich auf einem Bundesparteitag. Dort würden sich die handverlesenen und über die Jahre weichgespülten Funktionäre in einer Kampfabstimmung für die urban, linksliberale Rendi-Wagner aussprechen. Und nicht für den rural-rustikalen Populisten und Volkstribun. Plebejer versus Patrizier in Ermangelung von Proletariern.
In diesem taktischen Schachspiel um die Macht in der SPÖ musste der burgenländische Landeshauptmann entweder den Rückzug antreten oder auf eine erweiterte Offensive setzen. Im Falle eines Rückzuges hätte er an Prestige eingebüßt. Der Hund der bellt, aber beißt nicht. So zog er blank und erweiterte den Einsatz um eine Mitgliederbefragung. Kommuniziert in Form eines offenen Briefes am Nachmittag vor der entscheidenden Präsidiumssitzung in Wien. Der Überraschungseffekt war gesichert. Rendi-Wagner weilte mit ihrem wichtigsten Verbündeten Bürgermeister Ludwig in Pannonien auf Wiener Landtagsklub-Klausur.
Doskozils Rechnung lautet je breiter und je weiter unten angesiedelt in der Hierarchie, umso größer sein Rückhalt. Laut einer Schnellrecherche der Wiener Zeitung zählt die österreichische Sozialdemokratie derzeit 140.000 Mitglieder. Das durchschnittliche Alter beträgt 63 Jahre. Dürften als Erstwähler also noch für Bruno Kreisky und Fred Sinowatz votiert haben. Damals befand man sich noch sowohl qualitativ, als auch quantitativ in besserer Gesellschaft. 1980 gab es noch 700.000 Genossen mit „Parteibüchl.“ Möglicherweise baut Doskozil auf den Nostalgie-Faktor.
Einzigartig in der Geschichte ist das Instrument der Mitgliederbefragung nicht. Bereits 2020 versuchte Rendi-Wagner ein taktisches Unterfangen, um den kritischen Stimmen die Grundlage zu entziehen. Damals zählten die Genossen noch 157.800 Parteibuchbesitzer. Trotz des Zwischenhochs in den Umfragen letztes Jahr hat die SPÖ über 17.000 Mitglieder eingebüßt.
An der ersten Mitgliederbefragung nahmen ob der geringen Wahlmöglichkeiten lediglich 42,65 Prozent Teil. Wovon sich 71,4 Prozent für Rendi-Wagner aussprachen, die keinen offenen Gegenkandidaten hatte. Auch beim Parteitag 2021 musste sie ohne deklarierten Herausforderer mit 75 Prozent Unterstützern vorlieb nehmen. Der Rest setzte auf Streichungen.
An mangelnder Spannung beziehungsweise Wahlmöglichkeiten leidet die jüngste Runde des Machtkampfes jedenfalls nicht. Ob sich Berichterstattung und Aufmerksamkeit positiv auf die Mobilisierung bei der Salzburger Landtagswahl auswirken werden, wird sich weisen.
„One Man. One Vote“ – Wunderwaffe gegen Politikverdrossenheit?
In Europa gibt es zwei prominente Beispiele für diese Form der Basisdemokratie. Die französischen Republikaner, „Les Republicains“ – einstmals die staatstragenden Gaullisten – küren ihre Kandidaten und Spitzenposten per Mitgliederentscheid. Jedoch ohne große Erfolge im Wettbewerb um die an Le Pen verlorenen Stimmen. Welche auch den alten Parteinamen „Rassemblement“ gekapert hat. Übrigens per Votum der Basis.
Jenseits des Kanals, hinter den Klippen von Dover, versuchten sich die Tories zweimal an der Kür des Parteivorsitzenden und damit auch an der Nominierung des Premierministers. Zuerst obsiegte Boris Johnson, um die glücklose Theresa May abzulösen, dann setzte sich Liz Truss durch, um als erste Premierministerin die Regierung seiner Majestät Carolus Tertius Rex zu lenken. Londoner City und Establishment sorgten dafür, dass nach 45 Tagen Rishi Sunak durch das herkömmliche Prozedere einer Fraktionswahl Premierminister wurde.
Lässt man den Blick noch weiter – jenseits des großen Teichs – schweifen, kosten die europäischen Bemühungen „John Doe“ ein höfliches, jedoch müdes Lächeln. Dort kämpfen sich Farmer, Klempner und Ladenbesitzer durch die Schneemassen des mittleren Westens, um in Scheunen, Turnsälen und Rathäusern dem Gründungsmythos der Republik des „One Man, one Vote“ Referenz zu erweisen. „Res pubica“ im ureigensten Sinne, welche sonst nur noch die Eidgenossen auf der Rütli-Wiese leben. Der „Caucus“ in Iowa macht bei den Vorwahlen den Anfang, gefolgt von „Primaries“ in New Hampshire und South Carolina. Jedoch ist das amerikanische System geprägt durch ein relatives Mehrheitswahlrecht, einem relativ flexiblen Zwei-Parteien-System mit der realistischeren Möglichkeit des Parteiwechsels. Zudem muss man sich in den USA immer wieder erneut als Wähler registrieren lassen und bekommt nicht automatisch eine Wahlinformation zugesandt. Dies ob des einfachen Grundes, dass die staats-skeptischen Amerikaner über kein zentrales Melderegister oder eine Meldepflicht verfügen. Dass die Sicherheit des Wahlprozesses dennoch gewährleistet werden kann, demonstriert Florida immer wieder aufs Neue. Jedenfalls muss man sich nicht mehr zur Registrierung für die Hauptwahl bemühen, wenn man an der Vorwahl teilgenommen hat.
Zurück nach Österreich. Der Modus operandi der Mitgliederbefragung wird in den nächsten Wochen ausverhandelt. Je nachdem, wie ernst man die Sache nimmt, wird sich das Modell möglicherweise als Heilmittel gegen Politikverdrossenheit erweisen. Memento „Funktionärsmeinung ist nicht Wählermeinung“ pflegte der freiheitliche Bundesobmann Friedrich Peter zu sagen. Je breiter die Basis und je niedriger die Hürden, umso leichter könnten die Bürger die Politiker wieder einfangen. Aber den Traum vom Aufbruch des Parteien- und Kammernstaates haben schon viele geträumt.
Michael Spindelegger reiste 2013 publikumswirksam in die Schweiz, um Zeuge einer klassischen „Graswurzelabstimmung“ zu werden. 2017 schrieben ÖVP und FPÖ die Verankerung von verbindlichen Volksabstimmungen für besonders erfolgreiche Volksbegehren in den Koalitionspakt. Für die zweite Legislaturperiode. Wählt uns wieder und ihr bekommt direkte Demokratie. 2019 konnte man sich dieses Versprechens durch die unverhältnismäßige Aufmerksamkeit für „Parteichef sucht Sponsoren. Die Ibiza Edition“ leicht entledigen.
Wird Doskozil der zweite Bundeskanzler aus dem Burgenland? Und wird er wie Fred Sinowatz mit den Freiheitlichen koalieren? Vindobonas Patrizier haben bereits das Spiel um die Bande aufgenommen und feuern Warnschüsse Richtung niederösterreichischer ÖVP ab, die sich in Koalitionsverhandlungen mit den Freiheitlichen befindet. Was in Oberösterreich niemanden mehr interessiert hat und in Kärnten durch Peter Kaiser ohne Aufregungen angedacht werden konnte, muss nunmehr für das Duell Rendi-Wagner versus Doskozil wiederbelebt werden. Ob sich die Donnerstagsdemonstrations-Nostalgie gegen die Sinowatz-Nostalgie durchsetzt, bleibt abzuwarten. Wie denkt man als „hoffnungsvoller“ Diplom-Zyniker über die schüchtern, sprießenden Knospen der direkten Parteidemokratie? Helmut Schmidt beantwortete die Frage, ob er auch eine andere Zigarettenmarke rauchen würde mit: „In der Not frisst der Teufel Fliegen.“
Zur Person:
Gert Bachmann, 42-jähriger Historiker mit Interesse an Geo- und Sicherheitspolitik. Trotz Studiums in Wien hat ihn die Heimatstadt Villach nie losgelassen. Das Herz des dreifachen Vaters und ehemaligen FPÖ-Landesparteisekretärs von Oberösterreich schlägt für ein freiheitliches Österreich und ein vitales, freies Europa der Vaterländer.