Israels Schutzschild zeigt Risse nach iranischem Raketenangriff: Mögliche Vergeltungsszenarien

Seit dem massiven iranischen Raketenangriff auf Israel wird täglich mit einem militärischen Gegenschlag Israels gerechnet. Für Israel scheint es verlockend, das iranische Atomwaffenprogramm ein für alle Mal zu zerstören. Gleichzeitig hat auch der Iran seine Optionen gegen Israel auf dem Tisch. Der Politologe Dr. Seyed Alireza Mousavi analysiert die Lage im Nahen Osten.

10.10.2024
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4 Minuten Lesezeit
Israels Schutzschild zeigt Risse nach iranischem Raketenangriff: Mögliche Vergeltungsszenarien

Am 1. Oktober 2024 feuerte der Iran Hunderte von Raketen auf Israel ab.

© IMAGO / SOPA Images

Seit dem jüngsten iranischen Raketenangriff auf Israel wird täglich mit einem militärischen Gegenschlag Israels gerechnet. Tel Aviv wird zurückschlagen, so viel scheint sicher. Allerdings muss es mit einem Gegenschlag des Iran rechnen. Israel hat mehrere Optionen mit unterschiedlichem Eskalationspotenzial für die Region. Als Reaktion auf den ersten iranischen Angriff im April hatte Israel einen Luftwaffenstützpunkt nahe der Stadt Isfahan mit einer Rakete beschossen und angeblich eine Flugabwehrbatterie zerstört, ohne sich dazu zu bekennen.

Drei Szenarien des israelischen Gegenschlags

Nach dem Raketenangriff auf Israel am 1. Oktober forderten der ehemalige Ministerpräsident Naftali Bennett und andere sicherheitspolitische Falken in Israel die Zerstörung des iranischen Atomprogramms. Israel habe damit die beste Chance seit Jahrzehnten, „eine neue Ordnung“ im Nahen Osten zu erreichen. Auch der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump hat sich für einen Angriff auf die iranischen Atomanlagen ausgesprochen. Allerdings wird immer wieder darüber spekuliert, ob Israel in der Lage wäre, das iranische Atomprogramm durch einen gezielten Angriff auszuschalten. Denn die Atomanlagen im Iran liegen tief unter der Erde und sind über das ganze Land verteilt.

Die Luftwaffe könnte beispielsweise die Anlagen in Natans im Zentrum des Irans mit massiven Schlägen zerstören. Die besonders tief liegende Atomanlage in Fordo kann aber nur mit bunkerbrechenden Bomben getroffen werden, und zwar mithilfe der Amerikaner. US-Präsident Biden hat bereits deutlich gemacht, dass er einen Angriff auf Atomanlagen im Iran nicht unterstützen wird. Hinzu kommt, dass Tel Aviv in der Nähe sensibler Einrichtungen im Iran nicht wie im Libanon und in Gaza über eine unumstrittene Luftüberlegenheit verfügt und mit einer Abwehr durch moderne Flugabwehrbatterien wie die S-300 oder möglicherweise sogar die neuere S-400 rechnen müsste. Es gibt Berichte, dass Russland in den letzten Wochen S-400-Abwehrsysteme an den Iran geliefert hat. Iran wird auch der Zerstörung seiner Nuklearanlagen nicht tatenlos zusehen. Bereits 2021 hat Iran einen Angriff auf die israelische Atomanlage Dimona simuliert. Eine erfolgreiche Zerstörung der Atomanlage Dimona könnte angesichts der geringen Größe Israels eine Umweltkatastrophe auslösen und Israel ins Chaos stürzen.

Auch Angriffe auf die iranische Ölindustrie gelten derzeit als wahrscheinliche Reaktion der Israelis. Die Ölanlagen im Iran befinden sich hauptsächlich im Westen des Landes, nahe der Grenze zum Irak. Sie sind weit weniger geschützt als militärische Ziele. Der iranische Ölminister landete bereits am Wochenende auf der Insel Kharg, wo sich das wichtigste Ölterminal des Landes befindet, und führte Gespräche mit der Führung der iranischen Marine.

Die USA treten auf die Bremse

Washington versucht jedoch, Israel von einem Angriff auf die iranische Ölinfrastruktur abzuhalten. Der Iran ist derzeit der drittgrößte Erdölproduzent der OPEC. Die Ölproduktion trägt zu seinem wirtschaftlichen Überleben bei. Einer der wichtigsten Abnehmer ist China. Das Weiße Haus weiß das. Dennoch will Präsident Joe Biden im Wahljahr keine höheren Energiepreise auf dem Weltmarkt riskieren. Als Biden vergangene Woche von Journalisten gefragt wurde, ob er einen Angriff Israels auf iranische Ölförderanlagen befürworte, antwortete er: „Wir diskutieren darüber.“ Diese Bemerkung ließ den Ölpreis innerhalb weniger Minuten um fünf Prozent auf 77,65 Dollar pro Barrel steigen. Gleichzeitig kursieren an den Märkten Drohszenarien, dass der Iran im Falle eines israelischen Angriffs seinerseits die Straße von Hormus und damit den Wasserweg für den Öltransport sperren könnte. Das wiederum könnte den Ölpreis auf knapp hundert Dollar pro Barrel treiben. Der iranische Außenminister warnte Israel zudem vor einem Angriff auf die Infrastruktur des Landes und drohte, dass jeder Angriff auf die iranische Infrastruktur mit härteren Gegenschlägen beantwortet werde.

Israel könnte auch versuchen, konventionelle Ziele im Iran zu treffen. Schläge gegen militärische Ziele könnten auch von den USA, aber auch von Teheran als verhältnismäßige Reaktion angesehen werden und zu einer Entspannung der Lage beitragen. Iran hat bei seinem jüngsten Angriff auch militärische Ziele in Israel ins Visier genommen. Die Frage ist allerdings, in welchem Ausmaß Israel zurückschlagen würde. Sollte es dabei zu Toten und Zerstörungen kommen, könnte sich der Iran erneut unter Zugzwang sehen.

Iran überwältigt israelische Luftabwehr

Der Iran hat am 1. Oktober mehr als 180 ballistische Raketen auf Israel abgefeuert. Es war der größte Angriff mit ballistischen Mittelstreckenraketen in der Militärgeschichte. Selbst Russland hat im Ukraine-Krieg noch nie einen derart konzentrierten Luftangriff geflogen. Eine Woche ist das nun her, doch der israelische Gegenschlag blieb bislang aus. Tel Aviv zögert derzeit unter anderem deshalb mit einem Vergeltungsschlag, weil der israelische Schutzschild beim jüngsten iranischen Raketenangriff Risse bekommen hat. Im Gegensatz zum ersten iranischen Raketenangriff trafen diesmal Dutzende von Raketen ihre Ziele und richteten laut Satellitenbildern Schäden an. Unter den Zielen des iranischen Angriffs befanden sich zwei militärische Luftwaffenstützpunkte und das Hauptquartier des Mossad in Tel Aviv.

In dichter Folge schlugen die iranischen Raketen am 1. Oktober vor allem auf der Luftwaffenbasis Nevatim im Süden Israels ein. Dort ist die F-35-Flotte, das Flaggschiff der israelischen Luftwaffe, stationiert.

Nachdem beim jüngsten Raketenangriff Dutzende iranischer Raketen militärische Einrichtungen in Israel getroffen und die israelischen Abwehrsysteme weitgehend überlistet hatten, griff Tel Aviv in der vergangenen Woche zu seiner bewährten Informationszensur. Die israelische Zeitung Maariv enthüllte jedoch am Donnerstag, dass ein Flugzeughangar auf dem Stützpunkt Nevatim während der Operation gegen Teheran schwer getroffen wurde. Von Planet Labs aufgenommene und von AP veröffentlichte Satellitenbilder bestätigen den Bericht und zeigen mehrere Einschläge, darunter ein großes Loch im Flugzeughangar und einen Krater auf einer der Landebahnen. Bei dem Raketenangriff im April wurden neben ballistischen Raketen vor allem Drohnen und Marschflugkörper mit relativ langen Flugzeiten eingesetzt. Beim jüngsten Raketenangriff auf Israel setzte der Iran ausschließlich ballistische Raketen ein, die Israel innerhalb von zwölf Minuten erreichen konnten.

Die Lage in der Region bleibt weiterhin angespannt. Die arabischen Golfstaaten haben zuletzt bei ihren diplomatischen Treffen mit dem Iran versucht, Teheran ihre Neutralität im iranisch-israelischen Konflikt zu versichern. Je nachdem, wie der israelische Vergeltungsschlag ausfällt, könnte sich der Iran danach wieder unter Zugzwang sehen und einen totalen Krieg in der Region ausbrechen, dem sich die Golfstaaten als enge Verbündete der USA in der Region nicht entziehen könnten. Es bleibt abzuwarten, in welchem Ausmaß Israel zurückschlagen wird.

Über den Autor

Seyed Alireza Mousavi

Dr. Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler, Carl-Schmitt-Exeget und freier Journalist, spezialisiert auf Geopolitik und lebt in Berlin.

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