Nach Trumps Wahlsieg: Was steckt hinter den versöhnlicheren Tönen der Türkei gegenüber den Kurden?
Die Machtbalance im Nahen Osten ist seit dem Schlagabtausch zwischen Iran und Israel ins Wanken geraten, denn die aktuelle Gemengelage zwingt die Türkei zu einem neuen Ansatz. Eine militärische Eskalation zwischen Israel und Iran würde den Krieg bis an die türkische Grenze tragen. Für die Türkei birgt dies Chancen und Risiken, meint der Politologe Dr. Seyed Alireza Mousavi in seiner Analyse.
Der Chef der nationalistischen Partei MHP und Verbündete des türkischen Staatspräsidenten hat kürzlich mit seinem Vorschlag, PKK-Führer Abdullah Öcalan könne unter Auflagen freigelassen werden, wenn er die Auflösung der PKK verkünde, ein politisches Erdbeben in der Türkei ausgelöst. Öcalan ist seit nunmehr 25 Jahren auf der Gefängnisinsel İmralı in langen Phasen völlig von der Außenwelt abgeschirmt. Die Aufhebung seiner Isolation ist eine zentrale Forderung der kurdischen Partei DEM im Parlament für eine Aussöhnung mit der Regierung in Ankara.
Erdoğans versöhnliche Töne
Erdoğan hat die MHP in letzter Zeit gerne als Stichwortgeber benutzt, auch um die Stimmung im ultranationalistischen Lager zu testen, die gerade in der Kurdenfrage entscheidend ist. Insofern ist davon auszugehen, dass MHP-Chef Devlet Bahçeli in Absprache mit Erdoğan handelt. Erdoğan riet seinen „kurdischen Brüdern“ nach dem MHP-Vorschlag, Bahçelis „ausgestreckte Hand fest zu ergreifen“.
Nach dem jüngsten PKK-Anschlag auf eine Waffenfabrik bei Ankara im Oktober hat Präsident Erdoğan überraschenderweise seinen versöhnlichen Ton gegenüber den Kurden beibehalten. Er sieht eine „historische Chance“, den Friedensprozess zwischen der Türkei und den kurdischen Gruppen wiederzubeleben.
Was ist Erdoğans Ziel?
Viele Beobachter bringen den neuen Vorstoß der Regierung mit dem Versuch Erdoğans in Verbindung, seine Machtbasis in der Türkei zu festigen. Er strebt eine Verfassungsänderung an. Sie könnte dem Präsidenten eine weitere Amtszeit ermöglichen. Bisher fehlt ihm dafür die nötige Mehrheit im Parlament. Er könnte daher versuchen, die kurdische Partei DEM dafür zu gewinnen. Dieses Argument der neuen Annäherung an die Kurden greift jedoch zu kurz.
Der Vorstoß ist vielmehr geopolitischer Natur: Die Türkei bereitet sich nach den US-Wahlen und dem direkten Schlagabtausch zwischen Israel und Iran auf mögliche regionale Machtverschiebungen in der Region vor. Vor diesem Hintergrund ist es Erdoğans Ziel, in diesen turbulenten Zeiten die ethnische Spaltung der türkischen Gesellschaft durch einen Konsens auf politischer Ebene so weit wie möglich zu überwinden, um sich auf die geopolitischen Umwälzungen im Nahen Osten vorzubereiten.
Kurden in Syrien
Als Präsident Erdoğan vor zehn Jahren erstmals eine Aussöhnung mit den Kurden anstrebte, scheiterten die Annäherungsversuche. Seitdem wird der Konflikt zwischen der Türkei und der kurdischen PKK vor allem in den Nachbarländern ausgetragen, wohin sich die PKK im Nordirak und die YPG-Milizen in Syrien zurückgezogen haben. Während die PKK von der EU, den USA und der Türkei als Terrororganisation eingestuft wird, gilt die Kurdenmiliz YPG in Syrien als Verbündeter der USA. In der Türkei wird die YPG allerdings als syrischer Ableger der PKK angesehen.
US-Truppenabzug könnte bevorstehen
Donald Trump hatte für seine erste Amtszeit als US-Präsident (2017 bis 2021) einen Abzug der US-Truppen angekündigt. Das Kontingent wurde bereits 2018 reduziert. Der erneute Wahlsieg Donald Trumps könnte mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem vollständigen Abzug der US-Truppen aus Syrien führen. Dies würde die mit den USA verbündete Kurdenmiliz YPG schwächen, die seit Beginn des Syrienkonflikts unter dem Vorwand des Kampfes gegen die IS-Terroristen ihre separatistischen Bestrebungen verfolgt und mit den USA bei der Plünderung des syrischen Öls im Nordosten Syriens paktiert.
Die USA haben die kurdische Selbstverwaltung im Nordosten Syriens, vom Euphrat bis zur irakischen Grenze, maßgeblich unterstützt. Während US-Vertreter seit Jahren behaupten, die völkerrechtswidrige Militärpräsenz in Syrien diene der Verhinderung des Wiedererstarkens des sogenannten Islamischen Staates (IS), machte Trump bereits in seiner ersten Amtszeit keinen Hehl daraus, dass die USA ihre Truppen wegen der Ressourcen in Syrien dort stationiert haben.
Direkte Konfrontation mit Türkei droht
Neben Israel als Vorposten der USA in der Region sind die Amerikaner auch über die Kurden in der Region präsent. Noch immer sind rund 900 US-Soldaten sowie amerikanische Geheimdienstmitarbeiter und private Sicherheitsberater in Syrien aktiv. Die meisten US-Truppen sind in der kurdischen Autonomieregion stationiert. Die Trump-Administration scheint jedoch die US-Präsenz im Nahen Osten deutlich reduzieren und sich ausschließlich auf den Schutz Israels vor dem iranischen Nuklearprogramm konzentrieren zu wollen.
Der kurdischen Autonomieregion in Syrien droht nach Trumps Wahlsieg eine direkte Konfrontation mit der Türkei, sollten die USA ihre Besatzungstruppen vollständig abziehen. Schon damals hatten türkische Truppen und mit ihnen verbündete Islamisten nach Trumps Befehl zum Abzug der US-Truppen weitere mehrheitlich von Kurden bewohnte Gebiete in Nordsyrien angegriffen und teilweise besetzt. Die Vermutung eines Deals zwischen Trump und Erdoğan lag 2018 nahe: Erdoğan soll der US-Rüstungsindustrie einen Großauftrag im Wert von 3,5 Milliarden Dollar verschafft haben – und Trump soll Ankara dafür belohnt haben, indem er grünes Licht für den Einmarsch in Nordsyrien gab.
Trumps Sieg weckt Hoffnungen
Die Entwicklungen in Syrien haben schon oft die Sicherheitsbedenken der Türkei beeinflusst. Es wird vermutet, dass Ankara mit seiner Öcalan-Initiative den Weg für Verhandlungen mit der von den USA unterstützten kurdischen Selbstverwaltung in Syrien ebnen will. Es geht Ankara darum, dem designierten US-Präsidenten Trump zu zeigen, dass die Türkei bereit ist, „Teil einer möglichen syrischen Lösung“ zu sein.
Der Wahlsieg Trumps hat in Ankara die Hoffnung geweckt, dass die USA ihre Unterstützung für die kurdischen Milizen überdenken könnten. Dies dürfte den Druck auf die kurdische Miliz erhöhen, sich mit Ankara zu einigen. Offen bleibt jedoch, was eine Freilassung Öcalans für die kurdische Bewegung in der Türkei bedeuten würde und ob die militärische Führung der PKK in den irakischen Kandil-Bergen seinem Aufruf zur Auflösung der Organisation folgen würde.
Machtverschiebung im Nahen Osten nach israelischer Libanon-Offensive
Nach dem jüngsten direkten Schlagabtausch zwischen Iran und Israel gelten die alten Regeln der Abschreckung nicht mehr und die Region steuert auf eine chaotische Übergangsphase zu, in der das Verhalten der Rivalen in der Region schwer kalkulierbar ist. Vom Gaza-Krieg profitierte bisher der Iran, dessen Sicherheitslage in der Region durch monatelange „Frauenproteste“ und Unruhen vor dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober schwer erschüttert wurde. Doch mit der israelischen Septemberoffensive im Libanon und der Tötung der Hisbollah-Führung hat sich das Blatt plötzlich zugunsten Israels gewendet.
Teheran könnte an Einfluss verlieren
Die wichtigste Veränderung ist die Schwächung des Iran durch die israelische Militärkampagne gegen die libanesische Hisbollah. Viele Beobachter gehen davon aus, dass Tel Aviv nach Trumps Amtsantritt die iranischen Atomanlagen ins Visier nehmen wird. In der Folge könnte Teheran vor allem in Syrien und im Irak an Einfluss verlieren. Für die Türkei ergeben sich daraus Chancen und Risiken. Ankara könnte in das Vakuum vorstoßen, müsste aber befürchten, dass auch die Kurden die Schwäche des Iran nutzen, um ihre Autonomiebestrebungen voranzutreiben.
Der Iran ist die Schutzmacht der Zentralregierung in Syrien. Eine militärische Eskalation zwischen Israel und Iran nach einem möglichen Angriff auf das iranische Atomprogramm würde den Krieg zudem bis an die Grenze der Türkei tragen – mit potenziell destabilisierenden Folgen. Die Kurdenfrage ist seit Gründung der Republik Türkei ein Sicherheitsfaktor. Denn nirgendwo zeigt sich die Spaltung der türkischen Gesellschaft so deutlich wie in der Kurdenfrage. Die Türkei rechnet daher mit großen Verwerfungen und ist bestrebt, Bruchlinien wie den jahrzehntelangen Konflikt mit der PKK zu beseitigen und einen Konsens mit den Kurden in der Türkei zu erreichen.