Die Scheunentore sind offen: Droht Europa ein neues Asyl-Chaos?
Mehr oder minder halbherzig wird seit Jahren betont, dass sich die Szenen des Spätsommers 2015 in Europa nicht wiederholen dürfen. Nun wird sich zeigen, wie viel die Lippenbekenntnisse eigentlich wert sind.
Kommentar von Julian Schernthaner
Es ist passiert: Nach einem Angriff in der Krisenregion um Idlib, bei dem dutzende türkische Soldaten getötet wurden, kann oder will Erdogan die Migranten nicht länger im Land halten und lässt sie womöglich in Richtung Europa gewähren. Dieses hat sich nicht nur mit halbschwindligen Deals erpressbar gemacht, sondern die absehbare Eskalation auch durch seine nahezu selbstmörderische Nahost-Politik irgendwo provoziert.
Klar verteilte Rollen für Ost und West…
Eigentlich wären die natürlichen Interessen der globalen Großmächte in der Region schnell definiert, wie auch Nahost-Experte Manuel Ochsenreiter im Tagesstimme-Interview einst erklärte. Russland braucht Stabilität, weil der Funke schnell in den Kaukasus überspringen könnte, viele Tschetschenen kämpften etwa auf der Seite der Islamisten in Syrien. Entsprechend ergibt ihr Bündnis mit der Assad-Regierung sogar innenpolitisch einen Sinn.
Die USA wiederum können auf Instabilität setzen und schlagen dabei mehrere Fliegen mit einer Klappe. Einerseits können sie Konkurrenzmächte wie Russland, China oder den Iran herausfordern. Weiters sind viele Regionen im Mittelmeerraum reich an Bodenschätzen, zu denen die Amerikaner einerseits Zugang bekommen und andererseits einen Gegenspieler eliminieren. Zuletzt ist es als historische Schutzmacht Israels auch militärisch sinnvoll, dessen Nachbarstaaten kontrollierbar zu halten.
…und Europas Spiel mit dem Pulverfass
Einzig die europäische Rolle im Syrien-Konflikt ist vollkommen sinnbefreit. Als primäre Destination für Flüchtlinge und andere Migranten bräuchte Europa ebenfalls Stabilität im Nahen Osten. Gleichzeitig ist sie in einem transatlantischen Bündnis mit den USA, die ihnen kulturell und wirtschaftlich näher stehen. Aufgrund der ungeklärten Dichotomie sind aus der Sicht Europas alle Kräfte böse: Assad, die Russen, die Türkei, manchmal als Rebellen verklärte Islamisten. Die dauerhaft angespannte Lage bleibt ein ewiges Pulverfass.
Und so wurde irgendwann klar: Will man unbeschadet aus der Affäre herauskommen, muss man die ‚Versorgungswege‘ kappen. Ein Land nach dem anderen besann sich, die Grenzen zu schließen. Manche Politiker bauten ihre ganze Karriere auf ihrer vermeintlich heroischen Rolle der „Schließung der Balkanroute“ auf. Einzig: Drei hatten den sprichwörtlichen Schwarzen Peter gezogen – Italien und Griechenland als erste europäische Destinationen. Und die Türkei, mit der man sich auf einen omniösen Flüchtlingsdeal einigte.
Fragile Übereinkommen und Öl-Nachschub im Feuer
Wie fragil solche Übereinkommen sind, bei denen man seinem Partner die stärkste Position zuschanzt, zeigt sich dieser Tage. Erdogan kann die ungeklärte Lage in der Region als Machthebel wider Europa verwenden. Nein, nicht ‚missbrauchen‘ – denn bei aller notwendigen Kritik am Regime Erdogan und seinem Umgang gerade mit Oppositionellen: Der Schritt ist innen-, außen- und sicherheitspolitisch verständlich.
Denn auch die Türkei hat ein positives Recht darauf, nicht Leidtragende eines Dauerkonflikts zu sein. Als erstes Drittland sind sie nämlich in der Pflicht zur Aufnahme aller, die aus Syrien raus wollen. Dass irgendwann das Interesse endet, Brandschutztüren für Akteure zu schließen, die entweder selbst mitzündeln oder wissentlich in Kauf nehmen, dass ihre Freunde ständig Öl ins Feuer gießen, ist geschenkt.
Zweierlei Chancen
Aus der neuen Situation ergeben sich Möglichkeiten. Da ist einmal die patriotische Opposition; Sie muss die Fehler der Regierenden in Außen- und Sicherheitspolitik schonungslos ansprechen. Schafft sie, die Lippenbekenntnisse zu in Wirklichkeit weiterhin ziemlich löchrigen Grenzen als Blender-Spiele zu entlarven, kann das Lager just an seinem Kernthema seine gegenwärtige Stagnation durchbrechen und sich in Lauerstellung bringen. Aus dieser Stärkeposition kann sie ihre Themen verbreitern und strukturellen Aufbau nicht als Not, sondern als Tugend betreiben.
Gleichzeitig bekommen aber oft weiter amtierende Alt-Regierungen eine zweite Chance. Sie können zeigen, dass sie aus 2015 gelernt haben und diesmal verstehen, dass nur eine vorausschauende Grenzpolitik wie in Ungarn vor Wiederholung der damaligen Szenen schützen kann. Man kann früher entscheiden, wer kommen darf und muss den Rest rigoros abweisen. Jene, die zuletzt in der „Rebellen“-Hochburg Idlib ausharrten, sind ohnehin viel häufiger unter den Tätern als den wirklich Verfolgten zu suchen.
Europa muss auf eigene Interessen pochen
Und ja, am Ende heißt dies auch: Man muss Perspektiven zur Rückkehr schaffen. Der erste Schritt dazu ist, sicherzustellen, dass die Türkei kein Interesse hat, diese Leute nach Europa zu schleusen. Der zweite Schritt ist, die Herkunftsregionen so weit zu beruhigen, dass einstige Flüchtlinge wieder zurück können. Und diesen ist dann dabei zu helfen, sich eine Zukunft vor Ort aufzubauen, damit ihre Landsleute keine Not verspüren, sich anschließend aus wirtschaftlichen Gründen erneut auf den Weg zu machen.
Es ist eine ebenso einfach wie notwendige Lösung auf eine komplexe Frage. Europa muss eigene Interessen in der Außenpolitik stärker hervorheben. Andernfalls bringt es sich in Lagen, in der sich seine Innenpolitik dafür interessieren muss. Es geht nicht darum, irgendwelchen Arschlöchern in anderer Herren Länder den Hintern wegzubomben. Den Kollateralschaden hat man selber. Man muss auch den Mut haben, den amerikanischen Bündnispartner zu kritisieren. Bislang tut man das nämlich nur, wenn sein Präsident etwas Sinnvolles für seine Bürger auf den Weg bringt.
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Lage in Nordsyrien spitzt sich zu: Erdogan öffnet Grenzen nach Europa (28.2.2020)
Nahostexperte Ochsenreiter: „Europas Syrienpolitik ist selbstmörderisch” (Interview, 6.3.2018)