Ja, die neue Balkanroute existiert
Auf Behördenebene werden Vorbereitungen getroffen, um eine neue Flüchtlingskrise zu verhindern. Es wird befürchtet, dass die Zahl der Flüchtlinge in Österreich wieder massiv steigt; diesmal führt ihre Reise über den westlichen Balkan. Im politmedialen Komplex wird derweilen debattiert, ob es die gut dokumentierte Balkanroute überhaupt gibt.
Die österreichische Politik warnt, gestützt auf Zahlen, die das Innenministerium in Kooperation mit den EU-Institutionen sammelt, aggregiert und auswertet, vor einer möglichen neuen Flüchtlingswelle entlang einer neuen „West-Balkanroute“ über Serbien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Slowenien. Eine Entwicklung, die sich auch anhand der regelmäßigen, von Informationen aus unterschiedlichen EU-Agenturen gespeisten EU-Lageberichte (Integrated Situation Awareness and Analysis, ISAA) einfach nachzeichnen lässt. Irgendwann, irgendwo wurde dafür der Begriff „Albanien-Route“ etabliert, obwohl es möglicherweise zutreffender gewesen wäre, von der Bosnien-Herzegowina-Route zu sprechen.
„Die gibt es gar nicht“
Medial hat sich im Land ein Gegen-Narrativ etabliert, das diese Warnungen im Allgemeinen und den Hinweis auf die „Albanien-Route“ im Besonderen als populistische Stimmungsmache der blau-türkisen österreichischen Regierung anprangert. Besondere Wirkung erzielte, nicht zuletzt durch seine Verbreitung in den sozialen Medien, eine Meldung, in der der ehemalige ÖVP-Chef und Vizekanzler Erhard Busek zitiert wird. Busek hatte im Rahmen einer Pressereise nach Albanien – den Bericht zufolge in Übereinstimmung mit albanischen Behördenvertretern und Politikern – zur Albanien-Route erklärt: „Die gibt es gar nicht.“
Ist eine sich abzeichnende – wenn auch nach übereinstimmender Einschätzung mit 2015 nicht zu vergleichende – neue Flüchtlingswelle über den Balkan also eine Propaganda-Erfindung der österreichischen Regierung, die Material für ihren Anti-Ausländer-Dauerwahlkampf braucht? Oder gibt es tatsächlich eine substanzielle Zunahme der Migrantenströme über eine neue Balkanroute?
Doch, es gibt sie
Recherchen in der Türkei, in Griechenland, bei europäischen und internationalen Migrationsexperten sowie bei den zuständigen Behörden zeigen: Doch, es gibt sie. Der Viktoria-Platz in Athen gilt unter Flüchtlingen immer noch als der Umschlagplatz, wenn es um Informationen und sonstigen Austausch geht. Gespräche mit syrischen und kurdischen Flüchtlingen vor Ort legen nahe, dass sich viele von ihnen nach dem Fastenmonat Ramadan, der dieser Tage endet, auf den Weg Richtung Mittel- und Westeuropa machen werden. Etwa fünf Wochen werde die Reise dauern, schätzen die Befragten in solchen Gesprächen, dann wollen sie in Italien, Deutschland oder Frankreich einen Asylantrag stellen.
„Sommertheater“
Was die Diskrepanz zwischen erhobenen Daten und öffentlicher Wahrnehmung betrifft, erinnert die Situation an den Sommer 2014: Damals hatte Caritas-Präsident Michael Landau in einer ORF-Pressestunde Warnungen vor einem bevorstehenden größeren Flüchtlingsstrom als „Sommertheater“ abgetan. Heute weiß man, dass 2014 die ersten sogenannten „Kohorten“ an Geflohenen, die aus Mangel an Perspektiven beschlossen, aus Syriens Nachbarstaaten weiter in Richtung Europa zu wandern, jene Routen erkundet haben, auf denen dann im Spätsommer 2015 Hunderttausende nach Österreich und Deutschland kamen.
Experten des österreichischen Innenministeriums rechnen – wenn die jetzigen Frühwarnungen nicht zu Maßnahmen führen – zwar nicht mehr im Jahr 2018, sehr wohl aber im Sommer 2019 mit einer starken Zunahme der Migrationsströme.
Keine österreichische Fiktion
Dass es sich bei der neuen Balkanroute und der zunehmenden Bewegung auf ihr nicht um eine österreichische Fiktion handelt, zeigt sich auch daran, dass sich die einschlägigen Aussagen des österreichischen Vizekanzlers Heinz-Christian Strache beim Besuch der gesamten Regierung in Brüssel weitgehend mit den Aussagen decken, die im Progress report on the Implementation of the European Agenda on Migration nachzulesen sind, veröffentlicht am 16. Mai 2018 von der Generaldirektion für Migration und Inneres der EU-Kommission. Es wird dort auf neue – Albanien einschließende – Routen im Westbalkan Bezug genommen:
„Das gemeinsame Vorgehen zu irregulärem Transit über den zentralen Westbalkankorridor hat den Fokus auf mögliche Alternativrouten gelegt. Im ersten Quartal 2018 wurden zunehmende Bewegungen durch Albanien, Montenegro und Bosnien und Herzegowina in Richtung kroatische Grenze und dann weiter nach Slowenien berichtet.“ (Seite 2)
Im zitierten Fortschrittsbericht der Generaldirektion für Migration und Inneres heißt es weiter:
„Die Kommission finalisiert gerade ihre inneren Verfahren, um eine Vereinbarung mit Albanien zu unterzeichnen (die sich bereits im Februar 2018 abgezeichnet hat), die es der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache [Frontex] ermöglichen wird, Hilfestellungen im Bereich des äußeren Grenzmanagements zu geben und im Falle von plötzlichen Verschiebungen der Flüchtlingsströme schnell Einsatzteams auf albanisches Gebiet zu entsenden. Am 30. April hat man sich auf einer technischen Ebene auf ein gleichartiges Arrangement mit der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien geeinigt. Verhandlungen werden gerade mit Serbien begonnen und die Kommission hat vorgeschlagen, mit Montenegro und Bosnien und Herzegowina Verhandlungen über derartige Vereinbarungen zu beginnen.“ (Seite 8)
Und schließlich: „Die Agentur [Frontex] hat angeboten, ihre operativen Einsatzkräfte auf den griechischen Landgrenzen mit Albanien und der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien zu verdreifachen.“ (Seite 15)
Man wird also eher sagen müssen oder können, dass Bundeskanzler Kurz und Vizekanzler Strache mit ihren Hinweisen auf die verstärkten Migrationsströme auf dem Balkan Themen aufgreifen, die sowohl bei den europäischen als auch bei den österreichischen Behörden schon länger auf dem Radar sind.
Video: Addendum
Berichte von Frontex
Verfolgen können die Regierungsmitglieder diese Entwicklung anhand der alle zwei Wochen erscheinenden, als geheim eingestuften Berichte von Frontex, des Lageberichts der Operation Sophia (die EU-Mittelmeeroperation vor Libyen) oder eben mithilfe der eingangs erwähnten ISAA-Lageberichte, die wöchentlich erstellt werden. Im aktuellen Bericht heißt es unter anderem:
„Die Zunahme des Migrationsdrucks, der seit Jahresbeginn 2018 entlang der Sub-Route Griechenland-Albanien-Montenegro-Bosnien-Herzegowina-Kroatien beobachtet wird, hält weiter an.“
Das klingt nicht so, als hätte man in der Presseabteilung des Wiener Bundeskanzleramts kurzfristig ein Thema gebraucht und die Geschichte von der neuen Balkanroute erfunden.
Überdrehung
Ob die österreichische Regierung, die tatsächlich von Beginn an stark auf das Thema Migration und Sicherheit setzt, die zur Verfügung stehenden Informationen zuspitzt und übertreibt, um Stimmung zu machen, ist schwer zu sagen.
Dass der von manchen Journalisten angestrengte Vergleich mit dem Film „Wag the Dog“, in dem ein in Bedrängnis gebrachter US-Präsident von einem Hollywood-Regisseur einen fiktiven Krieg der USA gegen Albanien inszenieren lässt, ist hingegen mit Sicherheit eine absurde Überdrehung. Auf der Ebene der EU-Institutionen und der Sicherheitsbehörden der betroffenen Länder ist das Thema jedenfalls seit längerem auf der Agenda.
Am 7. Juni gab es in Slowenien ein Treffen der Polizeichefs von Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien, Slowenien und Österreich. Einen Tag später fand in Sarajevo ein Ministertreffen statt – Teilnehmer: Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro, Serbien, Griechenland, Kroatien, Slowenien, Ungarn und Österreich –, bei dem die Ergebnisse des Polizeicheftreffens analysiert und weitere Schritte vereinbart wurden. Unter anderem soll eine gemeinsame Taskforce zum Thema Schlepperei ins Leben gerufen werden, das erste Treffen dieser Gruppe findet am 18. und 19. Juni in Wien statt.
„Nicht entscheidend“
Auf behördlicher Ebene sieht man weniger ein aktuelles Problem – „ob es in Bosnien-Herzegowina derzeit 5.000 oder 7.000 illegale Ankünfte gibt, ist nicht die langfristig entscheidende strategische Frage“, sagt etwa Peter Webinger, Leiter der Abteilungsgruppe Asyl und Fremdenwesen im österreichischen Innenministerium –, sondern um die Mittel- und Langfristperspektive. Wichtiger als die Tatsache, dass während der vergangenen Monate die Zahl der Migranten auf der küstennahen Route am westlichen Balkan zugenommen habe, sei die Tatsache, dass in der Türkei 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge und eine nicht bestimmbare Zahl von Afghanen und Pakistanis gestrandet seien, die nicht wissen, wie es mit ihnen weitergehen soll. Man müsse, sagt Webinger, den aktuellen Migrationsdruck vor allem als Aufforderung begreifen, sich mit dem längerfristigen Problem zu beschäftigen.
Freilich wollen Politik und Verwaltung zugleich demonstrieren, dass sie auch auf kurz- und mittelfristige Lageänderungen vorbereitet sind. Am 26. Juni soll es an der steirischen Grenze zu Slowenien – in Spielfeld, wo seinerzeit das „Türl mit Seitenteilen“ errichtet wurde, wie der seinerzeitige Kanzler Werner Faymann das Zugangskontrollsystem nannte – eine große Übung geben, die von der Annahme ausgeht, dass in Spielfeld innerhalb von kurzer Zeit mit 30.000 Grenzübertritten zu rechnen wäre.
Dieser Artikel wurde zuerst veröffentlicht unter https://www.addendum.org/balkanroute/neue-westbalkanroute/