Kommunalwahlen in der Türkei – Rivalität unter Abtrünnigen

Ende März fanden in der Türkei Kommunalwahlen statt. Dabei erlitt die Partei von Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine herbe Niederlage. In ihrem FREILICH-Kommentar erklärt die gebürtige Türkin Umay Korkut, dass die AKP jenseits ihrer alternden Galionsfigur Erdoğan nicht mehr überzeugen kann.

Kommentar von
8.4.2024
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3 Minuten Lesezeit
Kommunalwahlen in der Türkei – Rivalität unter Abtrünnigen

Poster mit den Gesichtern verschiedener Kandidaten für die Kommunalwahlen in der Türkei.

© IMAGO / ZUMA Wire

Die Ergebnisse der Kommunalwahlen in der Türkei haben für Überraschung gesorgt. Die seit 22 Jahren regierende islamisch-konservative Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) hat ihre Mehrheit im Land verloren. Vor dem Hintergrund der letzten Präsidentschaftswahlen, bei denen Erdoğan noch deutlich als Sieger hervorging, lässt sich über die Motive der Wählerinnen und Wähler nur spekulieren. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass vor allem die hohe Inflation und die damit verbundene Verarmung der mittleren und unteren Gesellschaftsschichten auch Teile der konservativ orientierten Wählerschaft umgestimmt haben dürften. Die AKP kann jenseits ihrer älter werdenden Galionsfigur Erdoğan nicht mehr überzeugen. Es scheint, dass sich die Ära Erdoğan in ihrer bisherigen Form dem Ende nähert.

Dabei hatte die AKP bereits bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr an Sympathie verloren. Dies lag unter anderem an der massiven und unkontrollierten Zuwanderung, einer zunehmenden Ausrichtung des türkischen Religionsverständnisses zugunsten einer arabischen Islaminterpretation sowie an der Abwanderung junger hochqualifizierter Menschen ins Ausland. Diese Entwicklungen – von den europäischen Mainstream-Medien eher unbeachtet – zwangen AKP-Politiker zunehmend zur Rechenschaft, auch gegenüber ihren Stammwählern. Die Wahlergebnisse lassen sich folglich nicht nur wirtschaftlich erklären, sondern sind auch eine Folge ungünstiger demografischer, kultureller und soziologischer Veränderungen. Selbst in den klassischen AKP-Hochburgen in Zentralanatolien und an der Schwarzmeerküste konnte die Regierungspartei nicht mehr dieselben Erfolge erzielen. Im Vergleich zu den Kommunalwahlen von 2019 sank die Anzahl der von der AKP regierten Städte und Gemeinden von 39 auf 24. Gleichzeitig stieg die Anzahl der Bürgermeisterämter in Großstädten und Provinzen, die von der konkurrierenden Oppositionspartei gewonnen wurden, von 21 auf 35.

Erdoğans Partei verliert an Boden

Es stellt sich die Frage, warum der Wechsel nicht schon früher eingetreten ist. Die Antwort darauf liegt auch in den Defiziten der Oppositionsparteien, insbesondere der größten Oppositionspartei, der Cumhuriyet Halk Partisi (CHP, Republikanische Volkspartei). Die 1923 vom Staatsbürger Atatürk gegründete Partei konnte sich in den letzten Jahren in den zentralanatolischen Provinzen nicht ausreichend durchsetzen. Sie sah sich stets dem Vorwurf ausgesetzt, die Befindlichkeiten der religiösen Bevölkerungsgruppen in vermeintlich westlich-kemalistischer und modernistisch aufklärerischer Manier zu übergehen.

Ein Vorwurf, der nicht ohne Folgen blieb: Nicht nur die AKP, sondern auch die CHP haben den einstigen republikanischen Kurs verlassen. „Betrachtet uns nicht mehr als die CHP der 1930er-Jahre. Wir verteidigen jetzt Demokratie und Freiheit“, erklärte der frühere Parteivorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu während eines Thinktanks zur Lösung der „Kurdenfrage“ im Jahr 2014. Solche Aussagen haben sowohl säkulare als auch konservative Türken verunsichert, da sie darin eine Bedrohung für den türkischen Einheitsstaat sehen. Auch in Bezug auf die Rechte von Kopftuchträgerinnen distanzierte sich die CHP immer wieder von ihren Wurzeln und machte Zugeständnisse und Versprechungen gegenüber dem religiösen Bevölkerungsteil – eine Kursänderung, die die AKP jedoch mit Belustigung betrachtete. Um möglichst viele Wählergruppen anzusprechen, ging die CHP darüber hinaus vor den letzten Präsidentschaftswahlen ein Bündnis mit unbedeutenden liberal-islamischen Kleinstparteien ein und inszenierte sich während des Wahlkampfes als Verteidigerin der „kurdischen Frage“.

Die größte Oppositionspartei auf der Suche nach ihrer Identität

In den letzten Jahren entstand so immer häufiger der Eindruck, dass sich die einst dezidiert kemalistische CHP nicht mehr auf die Mitte der Gesellschaft, sondern vermehrt auf Minderheiten und Randgruppen konzentrierte und damit zunehmend selbst die Grundfesten der Republik relativierte. Nicht mehr Laizismus, Republikanismus und Nationalismus, sondern Pluralismus, soziale Gerechtigkeit und Freiheit prägen jetzt die begriffliche Programmatik der CHP. In der Rede des aktuellen Vorsitzenden Özgür Özel auf dem letzten SPD-Parteitag wurde deutlich, dass sich die modernisierte CHP nicht nur rhetorisch einiges von ihrer deutschen Schwesterpartei, der SPD, abgeschaut hat. In einem Fernsehinterview kurz nach den Kommunalwahlen äußerte Özel, dass seine Partei noch viel von ihren europäischen Verwandten lernen könne.

Vor diesem Hintergrund ist nun auch die Gestaltung der Zukunft der Türkischen Republik neu zu betrachten. Die laizistischen Kräfte und die islamischen Reaktionäre haben sich in den letzten hundert Jahren in vielfältiger Weise ausgetobt. Diverse Forderungen ethnischer Minderheiten, die bereits bei der Staatsgründung Elemente der Gesellschaft waren, sind bekannt und müssen weiterhin ausgehandelt werden, ohne die Einheit des Landes zu gefährden.

Der Weg der Türkei ist ungewiss

Entgegen der Meinung der europäischen Mainstream-Medien war die AKP auch nach eigenen Angaben keine nationalistische Partei, die sich in erster Linie dem Schutz des türkischen Vaterlandes und seiner Kultur verpflichtet fühlte. Vielmehr versuchte sie patriotische Impulse innerhalb der Gesellschaft in ein multiethnisches sunnitisches Machtkonglomerat umzumünzen. Dies wurde zu Recht als Verrat an den republikanischen Grundwerten der Türkei gewertet. Doch auch die CHP blieb als größte Oppositionspartei in den letzten Jahren eine Antwort auf die Frage schuldig, wie jener Schutz garantiert werden könnte. Den Grundsatz des Nationalismus, der ein wesentlicher Bestandteil des CHP-Erbes ist und eines der sechs Pfeile im CHP-Logo symbolisiert, hat sie in den vergangenen Jahren deutlich vernachlässigt – wohl auch, um die europäischen Schwesterparteien, allen voran die deutsche, nicht zu verärgern.

Es wäre utopisch anzunehmen, dass man den Türken ihre patriotische Ader austreiben könnte. Auch die geografische Lage der Türkei verlangt eine stabile, in sich vereinte und moderne Türkei, die in der Lage sein muss, qualifizierte Lösungen und Antworten hinsichtlich der vielen Krisenherden in der Region anzubieten. In den letzten Jahren fiel immer wieder auf, dass entscheidende Impulse auch von den kleineren rechten Parteien jenseits des AKP-Koalitionspartners Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung) ausgingen. Es ist abzuwarten, welche Rolle diese in Zukunft in der Türkei einnehmen werden oder ob sich die türkische Politik in dieser fast schon amerikanisch anmutenden Zwei-Lager-Situation der Abtrünnigen einpendelt. Eins steht jedoch fest: Die Direktiven des Staatsgründers Atatürks sind nicht nur eine Möglichkeit, sondern ein Muss für eine zukunftsfähige Türkei. Die Frage ist nur, wer sie umsetzt. Der CHP ist zu wünschen, auch um ihrer Glaubwürdigkeit willen, unter Berücksichtigung aktueller demokratischer Notwendigkeiten im Wesentlichen zu ihren Wurzeln zurückzufinden und nicht in Anbiederung an den „Westen“ ihre Werte zu verraten.


Zur Person:

Umay Korkut ist 42 Jahre alt und Tochter türkischer Gastarbeiter aus den 60er-Jahren. Sie arbeitet an ihrer Doktorarbeit in Kulturphilosophie.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
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