Franzose zu den Krawallen: „Dieses Mal brennen auch die Kleinstädte“

Nach dem Tod des 17-jährigen Nahel vergangene Woche in einem Vorort von Paris kam es in Frankreich in den vergangenen Tagen zu heftigen Krawallen und Plünderungen. FREILICH hat mit einem jungen Studenten aus der kleinen Stadt Talence über seine Eindrücke gesprochen.

Interview von
4.7.2023
/
7 Minuten Lesezeit
Franzose zu den Krawallen: „Dieses Mal brennen auch die Kleinstädte“

In vielen Kleinstädten kam es zu Angriffen auf Geschäfte, hier ein zerstörtes Geschäft in Talence

© Privat

Am 27. Juni 2023 wurde der 17-jährige Nahel von einem Polizisten erschossen, als er sich einer Verkehrskontrolle widersetzte. Die daraufhin ausbrechende Empörung führte zu tagelangen Unruhen mit Tausenden von Sachbeschädigungen und Gewalttaten im ganzen Land. Obwohl Kommentatoren die Situation mit den berüchtigten Unruhen in Paris 2005 verglichen, gibt es einen wichtigen Unterschied: Diesmal brennt es nicht nur in Paris, sondern auch in den kleinen Städten und sogar Dörfern Frankreichs.

FREILICH sprach mit Alexandre C. (21), einem Studenten und Bewohner der Kleinstadt Talence im Südwesten Frankreichs in der Nähe von Bordeaux, der in unmittelbarer Nähe eines von den Randalierern eingenommenen Stadtviertels wohnt. Wir baten ihn, uns seine Eindrücke von einer Nacht zu schildern, die er als „zweifellos historisch" für seine sonst so ruhige Stadt mit 42.000 Einwohnern bezeichnet. Die Gesamtzahl der Ausländer in der Kleinstadt hat sich seit 2006 mehr als verdoppelt. Seit 2017 hat sich die Kriminalität in vielen Kategorien mehr als vervielfacht, dennoch ist Talence immer noch sicherer als vergleichbare Städte. Im Jahr 2023 wurde die Stadt von der Zeitung Le Figaro als eine der drei „besten Universitätsstädte“ ausgezeichnet.

FREILICH: Alexandre, erzählen Sie uns, was Sie in den Nächten der Unruhen erlebt haben, nachdem sich die Nachricht von Nahels Tod in Ihrer Stadt verbreitet hatte.

Alexandre: In der ersten Nacht gab es nur Unruhen im Großraum Paris. Aber dann gab es einen Ansteckungseffekt, in der zweiten und dritten Nacht hat es uns am schlimmsten getroffen. Es begann gegen 23 Uhr. Ich erinnere mich, dass ich Stimmen und das Kratzen von Metall auf der Betonstraße hörte. Ich schaute aus dem Fenster und sah einige junge Leute, die meisten von ihnen schwarz gekleidet und mit schwarzen Gesichtsmasken, die – ziemlich erfolglos – versuchten, eine Art Barrikade zu errichten. Ihr Ziel war es offensichtlich, die Straße nach Bordeaux zu blockieren, was auch Sinn macht, weil es sich dabei auch um eine Zufahrtsstraße für Polizeikräfte handelt.

Nachdem sie ihre Barrikade errichtet hatten, fingen sie an, einen Haufen Müll anzuzünden. Dann richteten sie ihr Ziel auf die Geschäfte. Sie brachen in den Supermarkt Carrefour City ein und riefen: „Tout Gratuit, Tout Gratuit!“ (franz. für „Alles gratis“, Anm. d. Red.). Ich dachte, sie würden wahrscheinlich Lebensmittel oder so etwas stehlen, aber am nächsten Tag erzählte mir der Filialleiter, dass sie es hauptsächlich auf die Pakete der Leute abgesehen hatten, da diese Filiale auch als Umschlagplatz für die Post dient.

Sie brachen in ein Handygeschäft ein und zündeten es an – ich bin mir ziemlich sicher, dass sie das nur zum Spaß gemacht haben, weil es in dem kleinen Laden zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich ohnehin keine Telefone mehr gab. Das ging so bis etwa 4 Uhr morgens.

Wurden Autos angezündet? Auf den Fotos, die Sie gemacht haben, sieht es so aus, als ob einige Autos brennen.

In der zweiten Nacht, ja. Sie haben viele Autos auf dem Parkplatz neben dem Supermarkt Carrefour City angezündet. In der ersten Nacht haben sie keine geparkten Autos angezündet, sondern mit Mörsern auf Autos geschossen, die zu langsam an ihnen vorbeifuhren. Wenn die Autos immer noch nicht schnell genug fuhren, zerstachen die Randalierer die Reifen. Einem armen Mann haben sie sogar alle vier Reifen aufgeschlitzt, und er ist mit luftleeren Reifen davongefahren.

Warum, glauben Sie, haben sie sich ausgerechnet die Gegend vor Ihrer Wohnung ausgesucht?

Auf der einen Seite ist die Wahl überraschend, auf der anderen aber auch nicht. In meinem Viertel, La Médoquine, ist so etwas noch nie passiert. Andererseits hat sich die Situation, seit ich vor vier Jahren hierher gezogen bin, wirklich verschlechtert. Es gibt eindeutig mehr Kriminalität und mehr Drogenhandel in der Öffentlichkeit. Direkt vor dem Fenster meiner Wohnung kann man einen Platz sehen, der sich zum Hotspot für Drogendealer entwickelt hat.

Sie haben sogar eine Art „Preisliste“ für die von ihnen verkauften Drogen gut sichtbar – auch für die Polizei – an die Wand gemalt. Es werden aber stets Späher aufgestellt, die nach Polizisten Ausschau halten. Die Polizei tut aber nichts. In den meisten Nächten kann man gegen 23 Uhr sehen und hören, was auf dem Platz vorgeht. Es sind zwar nur einige wenige Kriminelle, aber dennoch haben sie einen sehr großen negativen Einfluss. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass derselbe Ort, an dem sich diese Drogendealer treffen, auch der Ort ist, an dem sich die Randalierer treffen.

In der Nähe gibt es zudem eine berüchtigte Moschee, die Innenminister Darmanin eigentlich schließen lassen wollte, da es sich bei ihren Anhängern um Unterstützer von Terroristen handeln soll. Die Gerichte haben aber gegen ihn entschieden. Ich glaube zwar nicht, dass die Religion direkt etwas mit den Unruhen zu tun hatte, man bekommt aber einen guten Eindruck davon, was hier vor sich geht.

Haben Sie den Verdacht, dass es sich bei den Randalierern und den Drogendealern um dieselben Personen handelt?

Wenn man sich das Alter der Beteiligten und ihr Auftreten anschaut, wenn man sieht, wie vertraut sie mit dem Ort schienen, und die Tatsache bedenkt, dass sie anscheinend nur zur eigenen Belustigung hier waren und die gleichen Taktiken wie die Drogendealer anwandten, um sich vor der Polizei zu verstecken, also beispielsweise wenn ein Polizeiauto vorbeifuhr und sie aufgrund zahlenmäßiger Unterlegenheit keinen Widerstand hätten leisten können, sie sich schnell in die umliegenden Häuser zurückzogen und warteten, bis die Polizei weg war – genau das machen auch Drogendealer.

Apropos Polizei: Warum konnte sie die Randalierer nicht stoppen? Talence ist eine kleine Stadt. War die Polizei den Randalierern wirklich unterlegen?

Das war schon etwas skurril. Bei den Unruhen in der ersten Nacht hatten sich etwa zehn Personen versammelt. Dabei kam es zu der Situation, dass sie eine schwache Barrikade errichteten sowie Gegenstände anzündeten, als ein paar Polizeiautos vorbeikamen, in denen eigentlich genug Beamte gesessen haben, um die Gruppe leicht überwältigen zu können. Sie hielten aber nur kurz an und fuhren dann weiter – und das sogar noch nachdem die Gruppe mit Feuerwerkskörpern und Mörsern auf sie geschossen hatte.

Später in der Nacht, also als die Gruppe auf etwa dreißig Personen angewachsen war und Mörser und Feuerwerkskörper abgefeuert wurden, war die kleine Gruppe von Polizisten überfordert. Sogar Feuerwehrleute, die versuchten, einige der Brände zu löschen, wurden angegriffen und dadurch gezwungen zu gehen.

Doch als einige der Jüngeren ein Handygeschäft in Brand steckten und die Flammen auf die darüber liegenden Wohnungen übergriffen, bekamen es die älteren Randalierer mit der Angst zu tun und begannen, die Feuerwehr zur Hilfe zu rufen. Dann sagten sie den Jüngeren, sie sollen sich ihre Molotowcocktails doch lieber für die Apotheke aufsparen. Ich glaube nicht, dass sie die Apotheke angezündet haben, sie haben aber die Türen aufgebrochen.

In der zweiten Nacht kam dann der RAID (Recherche, Assistance, Intervention, Dissuasion, französische Polizeispezialeinheit, Anm. d. Red.) und verhaftete einige Leute.

Wie haben Ihre Nachbarn reagiert? Es muss sehr anstrengend für sie gewesen sein, das zwei Nächte lang zu ertragen.

Ich habe nicht mitbekommen, dass es viele Leute waren, die den Randalierern zugerufen haben, sie sollen doch ruhig sein. Es waren nur einige wenige. Eigentlich waren es hauptsächlich Frauen, die von den Fenstern aus den Randalierern zugerufen haben, dass sie aufhören sollen. Wenn Leute nach draußen gingen, um zu sehen, was vor sich geht, dann meistens nur, um sicher zu gehen, dass die Randalierer ihre geparkten Autos nicht in Brand gesteckt haben.

Es gab aber einen lustigen Vorfall, bei dem eine etwas bieder aussehende junge Frau mit dem Fahrrad nach Hause fuhr und die Polizei als „Mörder“ beschimpfte. Ein Bewohner meines Hauses rief ihr daraufhin die Worte „Halt's Maul, du blöder Idiot!“ zu. Ansonsten hat sich aber niemand wirklich direkt mit den Randalierern angelegt.

Nach der ersten Nacht sagte mir der Manager des geplünderten Supermarkts Carrefour City, dass er und seine Angestellten den Laden selbst verteidigen müssten. Er sagte: „Wenn Sie heute Abend Lärm aus dem Laden hören, dann wissen Sie, dass es 'guter' Lärm ist“. Glücklicherweise reichte das aus, um die Randalierer fernzuhalten. Sie griffen den Supermarkt in dieser Nacht nicht an.

Als die tragischen Ereignisse um Lola bekannt wurden, schienen die darauf folgenden Proteste vergleichsweise kürzer und viel weniger intensiv zu sein als das, was jetzt nach Nahels Tod geschah. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären?

Ganz einfach. Die Franzosen haben eine andere Trauerkultur. Als die Demonstrationen um Lola zunahmen, distanzierte sich ihre Familie sehr schnell von ihnen und bat die Menschen, nicht in ihrem Namen zu protestieren. Sie wollten die Sache für sich behalten. Aber Familien von Migrantenkindern gehen oft einen etwas anderen Weg. Nehmen wir Nahels Mutter: Sie stand lächelnd auf einem Lastwagen und feuerte die Unruhen auch noch an. Fast so, als wäre es eine Party. Wenn ich zwischendurch aus dem Fenster geschaut habe, konnte ich eine Art zerstörerische Party mit Randalierern sehen, die die ganze Zeit am Lachen und Kichern waren.

Hätte Nahels Mutter so wie Lolas Eltern zur Ruhe aufgerufen, würden wir uns jetzt vielleicht nicht in dieser Situation befinden.

Hinzu kommt, dass die Linke im Allgemeinen viel eher dazu bereit ist, Ereignisse wie diese zu instrumentalisieren. So ist es zum Beispiel bemerkenswert, dass die Nationalversammlung eine Schweigeminute für Nahel abgehalten hat, während nach Lolas Tod nur seitens des Rassemblement National eine Schweigeminute abgehalten worden war – und das auch noch außerhalb der Versammlung und ohne Beteiligung von anderen Parteien.

Was war für Sie das Bemerkenswerteste an all diesen Ereignissen?

Zwei Dinge. Erstens, wie gesagt, die Partystimmung unter den Randalierern. Sie lachten und scherzten, während sie Dinge verbrannten und zerstörten und die Polizei angriffen. Man kann das mit einem psychotischen Kind vergleichen, das ein kleines Tier quält. Diese Kombination aus wilder Freude und destruktivem Verhalten war für mich wirklich beunruhigend.

Zweitens hat mich das Schweigen der Medien über das, was ich gesehen habe, sehr verwundert. In meinem Viertel ist so etwas noch nie zuvor passiert. Es wurden Autos angezündet, Geschäfte angezündet und geplündert, die Spezialeinheit musste anrücken. So etwas hatte es hier noch nie gegeben. Und doch gab es in den Medien keine Erwähnung über die in La Médoquine angerichteten Schäden.

Es gab Artikel, in denen Talence zwar erwähnt wurde, aber nur in Zusammenhang mit Sozialwohnungen in einem anderen Stadtteil. Über all die Zerstörung, die ich in zwei Nächten beobachtet habe, gab es kein Wort, nicht einmal in der Lokalpresse. Ich frage mich, wie viele andere Kleinstädte das gleiche Schicksal ereilt hat, ohne dass darüber berichtet wurde. Das deutet darauf hin, dass das ganze Ausmaß der Schäden in den Kleinstädten Frankreichs noch gar nicht absehbar ist. Es herrscht unheimliches Schweigen.


Zur Person:

Alexandre C. (21) ist Student und lebt in Talence, einer Kleinstadt im Südwesten Frankreichs in der Nähe von Bordeaux. Er wohnt in unmittelbarer Nähe eines von Randalierern besetzten Stadtviertels.

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