Radings Fuxenstunde (2) – Der Semesterantritt
Das Korporationswesen ist durchzogen von einem fast geheimen Code, der mit seinen zahlreichen Eigenwörtern, Abkürzungen und Persiflagen auf anderweitig verwendete Begriffe für Außenstehende oft ein Buch mit sieben Siegeln zu sein scheint. Niclas Rading gibt Einblicke in diese besondere Welt – und deckt auf humorvolle Weise das Selbstverständnis mancher Korporierter auf.
Die Kneipe der Grazer Arminen mit Paukschläger und Deckel.
© Grazer akad. B! ArminiaEs ist April und ein Gespenst geht um in den Fakultäten: Das neue Semester. Für viele ist es der erste tapsige Schritt im Studentenleben, für andere ist es die Chance, die Fehler des ersten Semesters zu richten, für wieder andere ist es ein weiteres halbes Jahr im universitären Trott, der trotzdem, sei es zum dritten oder dreizehnten Mal, erneut den jugendlichen Tatendrang erwärmt. Das Wetter wird erstmals im Jahr erträglich, die Mensen, Terrassen und Kneipen füllen sich; es gibt keine ernstzunehmende Studentenstadt, die nicht zum Semesterbeginn von einem ganz bestimmten Geiste der Erneuerung beseelt ist.
Vorbereitung, Planung, Plackerei
Das neue Semester des Korporierten einer jeder Couleur beginnt traditionellerweise einige Wochen, bevor sich der gewöhnliche Student wieder seinen Büchern widmet. Das neue Semester bedeutet stets Vorbereitung, Planung und, nicht selten, Plackerei, die weit vor dem nahenden Vorlesungsbeginn bewältigt werden muss. In den Semester„ferien“ müssen zunächst Semesterprogramme, ausgefeilte Terminkalender für die anstehenden sechs Monate, erarbeitet werden.
Dabei finden nicht nur feststehende „Pflichtveranstaltungen“ des Korporationswesens Berücksichtigung. Vielmehr ist es erklärtes Ziel jedes Semesters, Veranstaltungen zu organisieren, die das Gewohnte weit überschreiten. Sei es denkbar simpel, wie die Einladung eines distinguierten Redners zwecks eines Vortrags oder so aufwendig wie eine hinlängliche geplante Reise der aktiven Mitglieder der Verbindung. Jede Ferienvertretung, das hohe Gremium, das mit Planung und Logistik des bevorstehenden Semesters betraut wurde, hat es zum hehren Ziel, ein „Semester wie keines zuvor“ zu organisieren. Fast jede Ferienvertretung ereilt ebenso der Fluch, den eigens gesteckten Zielen nur entfernt gerecht werden zu können.
Putzlappen oder Paukschläger – gebraucht wird ein fester Griff
Steht das Semesterprogramm, liegt der erste verpflichtende Termin meist in nicht allzu weiter Ferne: Die Haus- und Paukwoche. Diese erfreut sich lokalkoloriert verschiedenster minimaldifferenter Bezeichnungen, gemeint ist jedoch stets dasselbe. Zum Semesterbeginn sollen zwei Dinge sichergestellt werden. Das Haus, das Epizentrum des Verbindungsstudententums, soll „auf Vordermann gebracht werden“. Es erfolgt eine Art Frühjahrsputz, der einen akzeptablen Grundzustand wiederherstellen soll (die meisten Verbindungshäuser erlangen in der vorlesungsfreien Zeit einen Zustand der feuchtfröhlichen Verlotterung).
Außerdem werden häufig von langer Hand geplante, und nicht selten mit den Worten „man müsste mal …“ in die weit entfernte Zukunft platzierte, Haus-Bau-Projekte ernsthaft angegangen. Unansehnliche Wandverfärbungen werden üppig überstrichen, Tresen werden aufwendig neu lackiert und Gärten gemäht und vom Unkraut befreit. All dies geschieht mit einer Mischung aus halbgarem Pflichtbewusstsein ob der fast an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, dass dieselben Fleißarbeiten in wenigen Monaten erneut zu erledigen sind und dem hoffnungsvoll-naiven Optimismus, dass der „ordentliche“ Zustand des Hauses diesmal (erstmals) etwas länger als ein halbes Jahr halten könnte.
Die Brücke zwischen diesen, durchaus widersprüchlichen, Motivationsgrundlagen sind praktisch immer das ein oder andere Bier, das in den selbstgewählten Pausen zwischen den Aufgaben, in aller gebotenen Zügigkeit, miteinander getrunken wird. Was ist die getane Arbeit schließlich wert, wenn man nicht die Zeit findet, innezuhalten und das Geschaffte froh zu beschauen?
Für die gute Hälfte aller deutschen Korporationen besteht diese Woche aus nicht mehr als der physischen Vorbereitung des Hauses. All jene Verbindungen aber, die sich dem schlagenden Prinzip (sprich: der Praxis des traditionellen akademischen Fechtens) verschrieben haben, nutzen diese Zeit ebenso, um sich in den Pauk- (vulgo: Trainings-)alltag zurückzufinden. Die Muskeln, die in der vorlesungsfreien Zeit dem Müßiggang zum Opfer fielen, werden reaktiviert. Längst Beherrschtes wird aufs Neue erlernt und das ein oder andere Mitglied, das sich während der „Ferien“ an den 14-02-Uhr-Rhythmus gewöhnt hat, daran erinnert, dass es durchaus zumutbar ist, vor neun Uhr aus dem Nest zu kriechen. Wurde diese Woche durchgestanden, darf das Semester formell beginnen.
Zwischen Bier und Cantus
Der offizielle Semesterantritt hat in nahezu jeder Korporation zwei feste Komponenten: die Anversammlung und die Ankneipe. Da Studentenverbindungen intern vereinsgleich strukturiert sind, bedarf es regelmäßiger Versammlung. Die Anversammlung stellt hierbei die wichtigste und zugleich meist langwierigste dieser Zusammenkünfte dar. Das neue Semester muss schließlich vernünftig eingeläutet werden. Frischgebackene Amtsträger finden sich in ihren neuen Rollen zurecht, erste Individualaufgaben werden zugeteilt und jungfräuliche Konflikte werden, ebenso wie längst begraben geglaubte, auf die Tagesordnung gebracht. Nach einer jeden Anversammlung kann die Vorfreude auf das anstehende Semester von jedem Anwesenden förmlich aus der rauchig-verbrauchten Luft gesogen werden.
Auf die erste Versammlung folgt die erste Kneipe des Semesters. Eine Kneipe, also die couleurstudentische Hochzeit aus Biertrunk, Gesang und berauschenden Gesprächen, die auf dem farbenfrohen Spektrum des akademischen Niveaus jedwedes Extrem (und alle Grautöne dazwischen) einnehmen, kann zu jedem hohen und nichtigen Anlass gefeiert werden. Zum Semesterbeginn (wie auch dessen Ende) ist sie jedenfalls gesetzt. Mit ihr wird der (hoch)offizielle Semesterbeginn markiert: Das neue akademische Halbjahr wird würdevoll „angetreten“.
Diese Semesterantrittskneipe (auch sie erfreut sich regionalbedingt verschiedenster Bezeichnungen) steht unter dem Zeichen der Erneuerung, des jugendlichen Eifers und des Strebens nach neuen, hehren Zielen. Sie ist auch ein Fest des Fortbestehens der eigenen Verbindung. Keineswegs jedoch im Sinne eines „Hurra, wir leben noch!“, sondern vielmehr eines brustgeschwellten „Seht her, wir leben wie eh und je!“.
Auf Kneipe zeigt sich, wer Farbe bekennt
Anlässlich der Ankneipe kommt es letztlich meistens auch zu einem der erbaulichsten Ereignisse im verbindungsstudentischen Alltag: der Rezeption neuer Mitglieder. Da die Aufnahme in den engen Lebensbund, den jede Korporation verkörpert, ein höchstfeierlicher Anlass ist, wird die Ankneipe oftmals als idealer Zeitpunkt zur Bandaufnahme (dem Beginn der offiziellen Mitgliedschaft) gewählt.
Gerne, und richtigerweise, wird gesagt, dass all jene neuaufgenommenen Füxe (vulgo: Neumitglieder) nicht vernünftig in ihren Bund aufgenommen wurden, wenn sie sich an den Abend über das Schemenhafte hinaus erinnern können. Es gibt schließlich nichts Schöneres, als mit einem Mal in einen neuen Freundes- und Vertrautenkreis fürs Leben aufgenommen zu werden. Das einzig Schönere ist dies auch noch ausgelassen feiern zu können. Weniges entspricht daher auch in ideeller Reinform dem Geist des Semesterantritts wie die Rezeption. Das alte Haus kann einen neuen Anstrich bekommen, der verstaubte Paukschläger wieder frisch und frei durch die Luft fegen und jedes Mitglied mit neuen Aufgaben und Perspektiven beglückt werden: Nichts kommt an die tatsächliche Erneuerung des Bundes heran.
Ist all dies bewerkstelligt worden, dürfen sich die verantwortlichen Mitglieder getrost auf die Schulter klopfen und über die „Nochs“ des jungen Semesters freuen: Noch ist das Haus blitzeblank, noch wird hoch motiviert gepaukt, noch erfüllen alle ihre Pflichten, noch ist alles prima. Und sollte wirklich all dies im Laufe des Semesters abnehmen und versiegen, bleibt immer noch eines: Der nächste Semesterantritt, der kommende Neubeginn im Kleinen, die erneute Erneuerung. In diesem Sinne wünsche ich ein erfolgreiches Sommersemester!