Die Volkspartei wird zur Partei ohne Volk
Der am meisten strapazierte journalistische Satz dieser Tage lautet wohl: „Es gilt die Unschuldsvermutung.“
Derzeit beharren in Österreich gleich mehrere Dutzend politisch mehr oder weniger bedeutsame ÖVP-Protagonisten auf ihre Unschuld, die allesamt in einem oder mehreren der zahlreichen Ermittlungsstränge der „Post-Ibiza-Ära“ ins Visier der Justiz geraten sind. Die Verwendung besagter Unschuldsfloskel sei rechtlich im Grunde überflüssig, da die Unschuldsvermutung in Österreich sowieso Kraft Gesetz gelte, schilderte unlängst der Verfassungsrichter Dr. Michael Rami auf Twitter. Auch entbinde die Textformel nicht von der journalistischen Pflicht zur Vermeidung einer vorverurteilenden Berichterstattung. Es sagt jedoch auch etwas über den Zustand eines Landes aus, wenn dieser Stehsatz mittlerweile zum festen Bestandteil innenpolitischer Berichterstattung gehört.
Das skrupellose Vorgehen von Kurz & Co
Im Falle der allseits bekannten Schmid-Chats stellt die Vermeidung von Vorverurteilung eine nicht geringe Herausforderung dar; immerhin liefern die Beschuldigten mit ihren oft eindeutig formulierten Kurznachrichten selbst die Grundlage für die medial gestützte Verurteilung durch die Öffentlichkeit. Die juristische Beurteilung des Selbstportraits, das Thomas Schmid und andere ÖVP-Getreue Schwarz auf Weiß angefertigt haben, wird wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Unabhängig von der strafrechtlichen Komponente zeigt dieses Bildnis jedoch zumindest das Selbstverständnis der politischen Clique rund um den einstmaligen Shootingstar Sebastian Kurz. Dem Betrachter offenbart sich das skrupellose Vorgehen eines kleinen Kreises an Neokonservativen, die in Partei und Staat keinen Wert an sich, sondern lediglich die Tritthilfe zur Macht sahen.
Bevölkerung verliert Vertrauen in ÖVP
„Korruption ist ein lähmendes Gift“ konstatierte Bundespräsident Alexander van der Bellen anlässlich der jüngst bekanntgewordenen Einvernahmeprotokolle von Thomas Schmid, der nun offenbar vollumfänglich mit der Staatsanwaltschaft kooperieren möchte. Doch ist das, was seit Wochen und Monaten in Form von Chats und Befragungsprotokollen ans Licht der Öffentlichkeit quillt, eigentlich schon Korruption? Die ÖVP selbst sperrt und verwehrt sich gegen derlei Zuschreibungen und verweist darauf, dass der Justiz nicht vorgegriffen werden dürfe. Es ist einerseits richtig und wichtig, dass weitreichende und schwerwiegende Vorwürfe wie der der Korruption auf juristischem Wege sauber und umfassend aufgeklärt werden. Andererseits beinhaltet der Begriff der Korruption auch möglicherweise nicht strafbare Handlungen, die nichtsdestotrotz geeignet sind, einen großen Vertrauensschaden anzurichten. „Korruption ist der Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil“ lautet die Korruptionsdefinition mit der etwa Transparency International arbeitet und die damit deutlich weiter gefasst ist als es der österreichische Gesetzgeber vorsieht. Das Festhalten der ÖVP und ihrer beschuldigten Akteure an der streng juristischen Korruptionsdefinition sowie das gebetsmühlenartige Hinweisen darauf, dass die Vorwürfe noch nicht ausjudiziert seien, ist sachlich zweifellos richtig und individuell nachvollziehbar. Diese Beharrungshaltung wird jedoch von der Bevölkerung mit stetig fallenden Umfrage- und Vertrauenswerten quittiert und das wird allmählich zum Problem – für die ÖVP und für das Land.
Zeit für schonungslose Selbstreflexion
Ob es einem gefällt oder nicht: die Volkspartei ist eine der tragenden Säulen der Zweiten Republik. Stürzt sie ein, so gefährdet dies auch ganz akut die eigentlich strukturelle Mehrheit für rechte, konservative Politik in Österreich. Zwar neigt sich die ÖVP je nach Windrichtung gerne auch mal ein bisschen nach links, insgesamt bildet sie zusammen mit der FPÖ jedoch den Windfang für den aufbrausenden linken Ungeist unserer Zeit. Die Möglichkeit einer in Umfragen regelmäßig mit knapper Mehrheit ausgestatteten, linken Koalition aus SPÖ, Grünen und NEOS sollte der Volkspartei daher eine ernste Warnung sein – wenn schon nicht aus rechter Überzeugung, dann zumindest aus politischem Kalkül: der drohende Verlust von machtpolitischen Drehscheiben wie dem Landwirtschaftsministerium dürfte wohl die stärkste Triebfeder für Veränderung innerhalb der Volkspartei sein. Es ist also höchste Zeit, dass sich die ÖVP ihrer Verantwortung für dieses Land bewusst wird. Eine öffentliche und schonungslose Selbstreflexion über die eigenen Verfehlungen wäre ein erster wichtiger Schritt auf diesem Weg.
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