Drei Fragen an Ulrike Guérot: Corona & die offene Gesellschaft

Die Gesellschaft wird durch die Corona-Krise weiter polarisiert. Ein sachlicher Diskurs findet kaum noch statt. Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot hat deshalb mit anderen ein Manifest „Für die offene Gesellschaft“ veröffentlicht. Im TAGESSTIMME-Interview spricht sie über die Gründe für den vergifteten Diskurs in der Corona-Krise, mögliche Lösungen und die „offene Gesellschaft“.
Interview von
15.4.2021
/
3 Minuten Lesezeit
Drei Fragen an Ulrike Guérot: Corona & die offene Gesellschaft

Heinrich-Böll-Stiftung from Berlin, Deutschland, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

Die Gesellschaft wird durch die Corona-Krise weiter polarisiert. Ein sachlicher Diskurs findet kaum noch statt. Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot hat deshalb mit anderen ein Manifest „Für die offene Gesellschaft“ veröffentlicht. Im TAGESSTIMME-Interview spricht sie über die Gründe für den vergifteten Diskurs in der Corona-Krise, mögliche Lösungen und die „offene Gesellschaft“.

TAGESSTIMME: Im Manifest „Für die offene Gesellschaft“ fordern Sie gemeinsam mit anderen eine sachliche und angstfreie Debatte. Doch warum sind die Diskussionen in der Corona-Krise überhaupt so vergiftet?

Ulrike Guérot: Die Diskussionen sind so vergiftet, weil die Polarisierung der Diskussion und die Zementierung der jeweiligen Positionen so außerordentlich groß sind. Ich persönlich habe noch nie eine derart gespaltete Öffentlichkeit erlebt. Die Verunglimpfung als “Coronaleugner“ des einen Teils der Öffentlichkeit – genauer: der „Gegenöffentlichkeit“ zu den Leitmedien – empfinde ich als sehr problematisch, denn mit der Ausgrenzung von Meinungen beginnt die Erosion der Demokratie. Es geht ja auch nicht darum, Corona zu leugnen, sondern die Gefahr durch Corona anders zu bewerten. Und aufgrund dieser anderen Einschätzung zu einer anderen Bewertung der Maßnahmen zu kommen. Eine Wahrheit kennt immer verschiedene Perspektiven auf diese Wahrheit. Was die Debatte so vergiftet, ist, dass die einen fast ausschließlich auf die Corona-Fallzahlen und Todesfälle schauen; die anderen auf die Kollateralschäden der Gesellschaft oder im globalen Süden. Beide glauben im Recht zu sein, mehr noch: die Moral für sich gepachtet zu haben.

TAGESSTIMME: Was muss aus Ihrer Sicht geschehen, damit es wieder zu einem einigermaßen sachlichen Diskurs kommt?

Guérot: Ein sachlicher Umgang mit Zahlen, Fakten oder auch Definitionen und eine Ent-Hysterisierung. Die WHO gibt die Letalität von Corona global mit 0,15% an. Das statistische Bundesamt meldet seit Februar 2021 Sterbefallzahlen unter dem Durchschnitt der Vorjahre. Tatsache ist, es gibt eine neuartige Gefahr durch Corona, vor allem durch die Mutanten. Aber wie groß ist dieses Risiko wirklich? Im Vergleich zu anderen Viren, zu anderen Krankheiten, zu anderen Risiken? Dazu müsste zwischen abstraktem Risiko – das die aktuellen Simulationen berechnen – und konkreter Gefahr genauer unterschieden werden.

Vor allem aber: Sind alle Maßnahmen und Grundrechteinschränkungen wirklich verhältnismäßig? Wie schwerwiegend sind die Kollateralschäden? Das ist die allerwichtigste Frage, die immer wieder gestellt werden muss. Aber an die Grundannahmen der Diskussion (Pandemiebegriff, Tauglichkeit des PCF-Test) kommt man fast nicht heran. Viele Dinge haben sich verfestigt, fast wie „Glaubenssätze“, die meines Erachtens strittig gestellt werden müssten. Das „Framing“ der Diskussion ist also problematisch. Wer die Grundannahmen der Pandemiebekämpfung hinterfragen möchte, ist Häretiker oder ihm wird mit der Moralkeule der „Menschenverachtung“ begegnet. Dabei werden Moral und Ethik fast systematisch verwechselt.

Zweitens würde es für einen sachlichen Diskurs helfen, unplausible Regeln zu beenden und an die Umsicht und die Eigenverantwortung der Bürger*innen zu appellieren. Niemand sollte alleine in einem Zugabteil mit Maske sitzen müssen, nur weil das Vorschrift ist, um nur ein Beispiel zu nennen. Oder: Wenn Aerosol-Spezialisten jetzt sagen, dass draußen an der Luft quasi keine Ansteckungsgefahr besteht, dann muss die Außengastronomie sofort geöffnet werden. Und so weiter.

TAGESSTIMME: Wie sieht eine offene Gesellschaft aus und wo liegen ihre Grenzen?

Guérot: Die Freiheit des einen endet mit Kant da, wo die Freiheit des anderen beginnt. Allein deswegen ist es problematisch, dass der Staat sich im Zuge der Corona-Maßnahmen dazu entschlossen hat, den Schutz vor Corona über alle anderen Dinge – und eben auch über Grundrechte – zu stellen, mehr noch, Teile der Bevölkerung (Frauen, Kinder, Künstler*innen, Hoteliers, vom globalen Süden ganz zu schweigen) de facto zu schädigen, um andere zu schützen. Es müsste geprüft werden, ob dies nicht letztlich gut gemeint, aber trotzdem verfassungswidrig ist. Anders formuliert: Solidarität ist etwas sehr Gutes. Aber kann man staatlich zu ihr gezwungen werden, um den Preis der Selbstschädigung? Das ist eine andere Frage.

Die offene Gesellschaft ist jedenfalls immer eine Gesellschaft, die eine Risikoabwägung vornehmen muss. Und auch eine, in der in letzter Konsequenz die Eigenverantwortung des Einzelnen als Grundprinzip gelten muss. Sofern in Bälde die Älteren und die Risikogruppen alle geimpft sein werden, muss dies wieder gelten. Keiner hat ein Recht darauf, die eigene Angst vor einem Virus zu sozialisieren und zum Maßstab der Gesellschaft zu machen. Eine offene Gesellschaft kann jedenfalls nicht von der Angst regiert werden. Die Angst ist die eigentliche Grenze der Freiheit. Je freier eine Gesellschaft sein will, desto weniger Angst darf sie haben.


Zur Person:

Ulrike Guérot, Jahrgang 1964, ist Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems und Gründerin des European Democracy Lab (EDL). 2019 wurde Ulrike Guérot mit dem Paul-Watzlawick-Ehrenring ausgezeichnet.

Letzte Buchveröffentlichung: „Nichts wird so bleiben, wie es war? Europa nach der Krise. Eine Zeitreise“

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