Experte nach Kritik an Covid-Maßnahmen nicht mehr Teil der Taskforce
Seit mehreren Wochen hält das Coronavirus Österreich und den Rest der Welt in Atem. Regelmäßig hat die Regierung neue Maßnahmen präsentiert, um die Verbreitung des Virus im Land einzudämmen. Diese wurden von mehreren Experten kritisiert.
Wien/Graz. – Martin Sprenger (MedUni Graz) ist Public-Health-Experte und war Mitglied des Expertenstabs in der Corona-Taskforce des Gesundheitsministeriums. Nach einem Interview mit der Rechercheplattform Addendum, das erst vor wenigen Tagen erschienen war und in dem der Grazer Kritik an einigen Maßnahmen der Regierung geübt hatte, hat er seine ehrenamtliche Funktion als Mitglied des Expertenrats inzwischen zurückgelegt. Sprengers Äußerungen waren bei Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) nicht gut angekommen.
Regierung befürchtet „Verwirrung“
Kurz hatte am Montag im ORF-Interview gemeint, dass er zum Glück nicht auf falsche Experten höre. Am Mittwoch sei Sprenger dann aus der Taskforce ausgetreten. Anschober habe keinen Druck auf ihn ausgeübt. Er erklärte, dass er auch weiterhin in „sehr wertschätzendem Kontakt“ mit Sprenger sei. Unter Berufung auf nicht genannte Fachleute, die mit der Regierung zusammenarbeiten, berichtete der Standard, dass „die öffentliche Äußerung von wissenschaftlichem Dissens nicht so gern gehört werde, weil politische Entscheidungsträger davon noch mehr Verwirrung befürchteten. Insbesondere Kanzler Kurz sei auf eine einheitliche Linie ohne Zwischenrufe bedacht“.
Sprenger fordert transparente Diskussion
Der Public-Health-Experte betonte dagegen, dass eine Diskussion über die weitere Vorgangsweise so transparent wie möglich geführt werden müsse, und „nicht hinter verschlossenen Türen“. Alle sollten Einblick haben, auf welcher Datenbasis so weitreichende Entscheidungen gefällt würden, so Sprenger. Er spricht sich außerdem dafür aus, die Protokolle der Taskforce zu publizieren. Bisweilen seien seine Wortmeldungen medial mit der Einschätzung der Taskforce als Ganzes identifiziert worden – das wolle er nicht, und das sei auch nie das Ziel seiner öffentlichen Auftritte gewesen, erklärte Sprenger.
„Zeit des Shutdowns nicht genutzt“
In dem Interview kritisierte der Experte, dass die Regierung die Zeit des Shutdowns nicht genutzt habe. In dieser Zeit hätte man „viele andere Dinge starten können“. Außerdem hätte man „von Tag eins an“ die Grundlageninformationen erheben sollen, um dann ein gutes Risikomanagement betreiben zu können. „Wer hat das größte Risiko, im Krankenhaus zu landen und auf Intensiv zu landen? Das haben wir gewusst. Wir kennen nicht die Herdenimmunität, wir kennen nicht die Infektionssterblichkeit für die gesamte Bevölkerung, aber wir wissen, wer die Risikogruppen sind, das wissen wir eigentlich schon seit Anfang Jänner. Von Tag eins an hätten wir die Pflegeheime schützen können.“
„Wer stirbt an Covid-19? Das wissen wir nicht.“
Man müsste nun auf regionaler Ebene herausfinden, wie hoch die Herdenimmunität ist, also wie viele Personen dieses Virus oder diese Krankheit schon bewusst oder unbewusst durchgemacht haben und ausreichend Antikörper gebildet haben. „Ob diese Herdenimmunität ein Prozent beträgt oder 10 Prozent, ist ein unglaublicher Unterschied für das nachfolgende Risikomanagement.“ Wenn sie sehr niedrig sei, dann müsste man die Anzahl der Neuinfektionen bis zur Verfügbarkeit einer Impfung oder erfolgreichen Therapie so klein wie möglich halten. Bei einer hohen Herdenimmunität – zum Beispiel 20 Prozent – sei der Schutz der Personen mit niedrigem Risiko nicht mehr so entscheidend. „Das Ausmaß der Herdenimmunität ist das Wichtigste, was wir wissen müssen, und zwar rasch“, so Sprenger.
Ein weiteres Problem sei auch, dass man bei den Toten, die in Österreich als Covid-Tote gelten, keinen Einblick in die Daten habe. In Österreich würden jeden Tag im Schnitt 230 Menschen sterben, 15 davon an im Krankenhaus erworbenen Infektionen. Bei den meisten wisse man natürlich, woran sie gestorben seien. „Die meisten von ihnen waren hochbetagt, sind an Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder an Krebserkrankungen gestorben“, erklärt Sprenger. Man wisse auch, woran die unter 20-Jährigen sterben. Meistens seien das Unfälle, Verletzungen, Vergiftungen, Drogenkonsum oder Suizid, das sei aber selten. „So, und wer stirbt an COVID-19? Das wissen wir nicht.“
Das Interview kann hier in voller Länge nachgelesen werden.