Phänomen „Hallyu“: Neue koreanische Welle
Gangnam Style, Squid Game und Parasite, von K-Pop bis zur Filmindustrie: Die koreanische Popkultur erobert die westliche Welt und sorgt für einen regelrechten Hype.
Jedes Jahr kommen zahlreiche Künstler aus dem Fernen Osten nach Deutschland und Österreich, Spotify hat eine eigene Rubrik eingerichtet und Net-flix kauft immer mehr Serien aus dem Fernen Osten ein – „Hallyu“ ist in Europa und den USA nicht nur angekommen, sondern dominiert zunehmend die Unterhaltungsindustrie. „Hallyu“, chinesisch für „koreanische Welle“, bezeichnet die wachsende Popu-larität südkoreanischer Popkultur, die sich in mehre-ren Phasen global ausbreitete. Dazu gehören nicht nur boomende Musikrichtungen wie K-Pop, sondern auch südkoreanische TV-Serien, Bücher und Filme.
Auf den ersten Blick mag diese Popkultur für westliche Konsumenten befremdlich wirken. Die Musik ist schrill und laut, in einer für Europäer un-gewohnten Sprache, aber – indirekt – patriotisch und rechts, da sie sich unter anderem in den Texten mit diesen Themen auseinandersetzt. In den erfolgreichen Fernsehserien, den so genannten K-Dramen, werden melodramatische Geschichten über Liebespaare, Familien oder die Teilung Koreas erzählt. Die koreanischen Schauspieler wirken dabei auf den hiesigen Zuschauer überdreht, da sie ungewohnt direkt und komödiantisch agieren. So werden Emotionen und lustige Momente immer übertrieben und verzerrt dargestellt – eine ganz andere Schauspielkunst, als wir sie aus dem eher seriösen Hollywood gewohnt sind.
„Koreanische Welle“
Trotz dieser für uns ungewohnten Zugänge zur Kultur hat „Hallyu“ einen Weg zurückgelegt, der nur mit dem Export amerikanischer Popkultur in den letzten Jahrzehnten vergleichbar ist. Die verfügbaren Zahlen belegen das rasante Wachstum von „Hallyu“. Der bekannte und weitverbreitete Musik-Streaming-Dienst Spotify gab 2023 bekannt, dass „K-Pop On“, die meistgestreamte Playlist des Genres, 4,5 Millionen Follower hat und im vergangenen Jahr mehr als 700 Millionen Streams verzeichnete, was einem Anstieg von 65 Prozent gegenüber dem Zeitraum vor der Einführung Anfang 2021 entspricht. Beim größten Video-Streaming-Dienst Netflix sind K-Dramen die meistgesehenen nicht-englischsprachigen Serien und Filme. Der Erfolg der koreanischen Popkultur ist nicht zu übersehen.
Doch zunächst: Warum spricht man von einer „koreanischen Welle“? Der Begriff beschreibt recht bildhaft die Ausbreitung und rasant wachsende Popularität südkoreanischer Popkultur seit Ende der 1990er-Jahre, die sich zunächst auf den asiatischen Raum und hier vor allem auf die Nachbarländer Südkoreas beschränkte. Getragen wurde diese Welle anfangs zum einen von Fernsehen und Kino, denn Südkorea produziert seit langem sehr hochwertige Dramaserien und Filme. Insbesondere die Romanze Winter Sonata (2002) sorgte für einen enormen Popularitätsschub der koreanischen Popkultur in Asien.
Erst in jüngster Zeit haben internationale Unternehmen wie Netflix einige der K-Dramen in ihr Pro-gramm aufgenommen (z. B. die Produktionen Kingdom und Romance is a Bonus Book), so dass südkoreanische Serien einem breiteren Publikum zugänglich wurden und in Zukunft auch im Westen mehr Aufmerksamkeit und Popularität erfahren dürften. Mit großem Erfolg: Die gesellschaftskritische Serie Squid Game, in der die Teilnehmer um einen hohen Geldpreis in tödliche Spiele verwickelt werden, war zeitweise die meistgesehene Serie auf Netflix. Auch andere Serien wie die Zombieserie All of Us Are Dead oder Extracurricular, in der ein intelligenter High-School-Schüler mit seiner Freundin eine atemberaubende Reise in den kriminellen Untergrund Seouls unternimmt, erzielten Traumquoten auf der Plattform.
Allen Serien und Filmen gemeinsam ist neben der bereits erwähnten besonderen koreanischen Schauspielkunst die ungewöhnlich hohe Produktionsqualität. Mit deutlich geringeren Budgets erreichen koreanische Produktionen durchaus das technische und handwerkliche Niveau von Hollywood-Filmen. Auch die Schauspielkunst ist wie erwähnt anders und ungewohnt, aber den-noch gut, was sich an der steigenden Zahl von Preisen und Auszeichnungen für koreanische Schauspieler ablesen lässt. Am auffälligsten sind jedoch die Geschichten und Inhalte, die erzählt werden, denn oft handelt es sich um „klassische“ Erzählungen, die im Westen mittlerweile als „toxisch“, „diskriminierend“, „frauenfeindlich“ etc. bezeichnet würden. Ein Beispiel: In der Serie Descendants of the Sun aus dem Jahr 2016 verlieben sich der Kommandosoldat Yoo Si-jin und die zivile Ärztin Kang Mo-yeon während eines Auslandseinsatzes im Orient ineinander. Die Bezie-hung der beiden wird romantisch bis ins Klischeehafte erzählt, aber auch kritisch, denn die Ethik des Soldaten, der die Verantwortung für eine ganze Einheit trägt, kollidiert oft mit der Ethik der mitfühlenden Ärztin. So kommt es immer wieder zu Konflikten und emotionalen Szenen zwischen den beiden Figuren.
Dabei verfällt das Melodram nicht in das aus neueren westlichen Serien und Filmen bekannte Schema – die männliche Figur wird als Trottel oder Macho dargestellt, während die weibliche zur wahren Macherin wird –, sondern es findet eine umfassende Entwicklung der beiden Hauptfiguren statt. Während Yoo seine Arbeit anfangs als patriotische Pflicht betrachtet und wenig Verständnis für die mitfühlende Ärztin hat, kann Kang mit der soldatischen Haltung ihres Geliebten nichts anfangen. Im Laufe der Serie entwickeln beide Verständnis füreinander und akzeptieren sich gegenseitig – niemand muss über die vermeintlich „giftige Männlichkeit“ des Soldaten aufgeklärt werden, genauso wenig wie die Frauen in der Serie zu Mannweibern mutieren. Sie bleiben weiblich und zeigen offen weibliche Charakterzüge wie Fürsorge oder Mutterinstinkte. Fazit: eine durchaus konservative Serie auf intelligentem und hohem filmischen Niveau.
In der Serie Crash Landing on You stürzt die reiche südkoreanische Erbin Yoon Se Ri beim Fallschirmspringen über Nordkorea ab. Dort wird sie von dem Offizier Ri Jeong-hyeok, dessen Vater Minister in der kommunistischen Regierung war, bei einer Patrouille entdeckt, und die beiden entwickeln Gefühle füreinander. In mehreren Episoden entwickelt sich eine Geschichte, die mit unglaublicher Authentizität den Zusammenprall zweier Gesellschaftssysteme schildert und dabei immer wieder subtil darauf hinweist, dass beide eigentlich dem gleichen Volk angehören. Ri, dessen Bruder von korrupten Parteikadern ermordet wurde, zweifelt zunehmend am kommunistischen Volksstaat, will aber aus Loyalität zu Familie und Staat die Grenze nicht im wörtlichen Sinne überschreiten. Gleichzeitig will er seine neue Bekanntschaft und Liebe aus dem Süden beschützen.
Yoon, die dank ihrer reichen Familie nie finanzielle Probleme hatte und immer alles bekam, was sie wollte, erkennt während ihres mehrwöchigen Aufenthalts jenseits der streng bewachten Grenze, dass ihr bisheriges Leben im Vergleich zum harten Norden ein Paradies war. Sie trifft auf ihr unbekannte koreanische Tra-ditionen, lernt wieder mit und in der Natur zu leben, während Ri und seine Untergebenen durch die Fremde Einblicke in das kapitalistische Südkorea bekommen. Dabei nimmt sich die Serie nie zu ernst, denn witzige Momente wie der Besuch von Ris Gruppe im Süden, um Yoon nach ihrer Rückkehr vor nordkoreanischen Agenten zu beschützen, sind unglaublich komisch dargestellt, gleichzeitig gibt es aber auch in Sekundenschnelle ernste Dialoge und Szenen, in denen Yoon und Ri über Themen wie die koreanische Teilung, den allgegenwärtigen Kapitalismus im Süden und die schlimmen Zustände im Norden diskutieren. Eine Serie, die Geschichte, konservative Themen wie Tradition, Volk und Liebe, aber auch neueste Entwicklungen überzeugend darstellt. Nicht umsonst gilt diese Serie als eine der besten Serien überhaupt – die Tatsache, dass sich die Darsteller der beiden Hauptfiguren auch außerhalb des Sets ineinander verliebten und heirateten, wird von den Fans gerne als Beweis für die besondere Aura dieser Serie angeführt.
Durchbruch des koreanischen Films
Auch im Kino ist „Hallyu“ angekommen. So gewann der Film Parasite, der Komödie, Satire und Drama auf unglaublich gelungene Weise verbindet, im Jahr 2020 vier Oscars, darunter die besonders prestigeträchtigen Preise für den „Besten Film“ und den „Besten Internationalen Film“, aber auch für die „Beste Regie“. Damit konnte Parasite Hollywood-Hits wie 1917, The Irishman, Joker oder Once Upon a Time in Hollywood hinter sich lassen, mit anderen Worten: Der im Westen bislang eher unbekannte Regisseur Bong Joon-ho konnte Regielegenden wie Martin Scorsese oder Quentin Tarantino, bekannte Comic-Universen wie Gotham City, aber auch Hollywood-Stars wie Robert De Niro sowie Brad Pitt und Leonardo DiCaprio verdrängen. Filmkritiker und -beobachter nennen daher 2020 als das Jahr des Durchbruchs für den koreanischen Film. Auch für die nächste Oscarverleihung 2024 wird hinter vorgehaltener Hand ein heißer Kandidat aus Südkorea gehandelt: Die Frau im Nebel. Der Film von Chang Hae-joon, der sich mit Filmen wie Oldboy oder Die Taschendiebin bereits einen Namen als Geheimtipp gemacht hat, erzählt im Film-Noir-Stil von einem Polizisten, der sich in die Witwe eines Mordopfers verliebt, die aber gleichzeitig die Hauptverdächtige ist. Es wäre gar nicht so abwegig, zu behaupten, dass die erfolgreichen Filme der Zukunft möglicherweise koreanisch sprechen werden.
Rückkehr der Boy- und Girlgroups
Neben K-Drama und koreanischen Filmen ist K-Pop der zweite große Träger des „Hallyu“-Phänomens. Dabei handelt es sich um überwiegend koreanisch gesungene Popmusik, die meist von Boy- und Girlgroups dargeboten wird, die im Westen so gut wie ausgestorben sind. Solokünstler gibt es zwar auch, aber sie sind seltener und erhalten oft nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie Gruppen. In Asien waren diese südkoreanischen Gruppen bereits in den 2000er-Jahren erfolgreich.
Erste Aufmerksamkeit im Westen erregten sie 2009 mit dem für den späteren K-Pop prägenden Hit Gee der Girlgroup Girls‘ Generation und 2012 mit dem Ohrwurm Gangnam Style von Psy. Vor allem letzterer dürfte für viele hierzulande der erste (und vielleicht einzige) Kontakt mit K-Pop gewesen sein. Den großen globalen Durchbruch schaffte das Genre allerdings erst um die Jahre 2018 und 2019. Vor allem dank der siebenköpfi-gen Boygroup BTS, die eine riesige Fangemeinde hat, bei internationalen Preisverleihungen abräumt und in amerikanischen Talkshows gern gesehener Gast ist, konnte sich K-Pop endgültig als Jugendkultur im Westen etablieren. Immer häufiger kann man in deutschen und österreichischen Großstädten sogenannte „Random Dances“ beobachten, bei denen jugendliche K-Pop-Fans auf öffentlichen Plätzen mit bis zu 100 Personen die Tänze ihrer Lieblingsgruppen nachahmen.
K-Pop ist mehr als eine Nischenjugendkultur: Man kann von einem weltweiten Phänomen sprechen. In Südkorea und Japan gehört die Musik zum Alltag, in Indonesien, Vietnam und auf den Philippinen gibt es riesige Fangemeinden. Weitere große K-Pop-Fans gibt es in China, Lateinamerika sowie im arabischen Raum – Auftritte in Hongkong oder in Chile und Argentinien sind für viele K-Pop-Künstler bereits Normalität. Das Schlusslicht bildet der Westen, obwohl auch hier ko-reanische Musik durchaus erfolgreich ist – aber immer noch mit der starken US-amerikanischen Kulturszene konkurriert. Die Zahlen belegen die Macht von „Hallyu“: Acht der zehn meistverkauften Alben weltweit im Jahr 2022 waren K-Pop-Alben. Die meistgeklickten YouTube-Videos sind unter anderem K-Pop-Musikvideos und Klickzahlen in Millionenhöhe keine Seltenheit. Das Musikvideo zum Song Dynamite von BTS hat mittlerweile über 1,7 Milliarden Klicks. Zum Vergleich: Nicki Minaj, eine der erfolgreichsten US-Rapperinnen, kommt mit ihrem Musikvideo zu Anaconda „nur“ auf 1,1 Milliarden Klicks.
Was aber macht K-Pop so besonders? Neben dem bereits erwähnten Boy-/Girlgroup-Konzept, das im Westen längst aus der Mode gekommen ist, ist es vor allem die Tatsache, dass die Mitglieder dieser Gruppen mehr sind als nur Sänger: Sie sind „Idols“ und damit Vorbilder für die junge Generation. Drogen-, Sex- oder andere Skandale, wie man sie von westlichen Musikern kennt, sind für koreanische Idole undenkbar und auch verboten.
Wer sich einen Fehltritt erlaubt, für den ist das Popbusiness vorbei, denn die Agenturen, bei denen die Gruppen unter Vertrag stehen, haben ein scharfes Auge auf das korrekte Verhalten, das auch im Vertrag festgeschrieben ist. Gerade in den ersten Jahren nach dem Debüt einer Gruppe sind Aktivitäten wie Rauchen, Trinken, Verabredungen, allein ausgehen oder gar die Familie treffen tabu und werden streng kontrolliert. Nichts soll von der Arbeit ablenken oder das perfekte Bild der Gruppe und ihrer Mitglieder stören. Denn Perfektion ist das Schlüsselwort: perfektes Aussehen, perfekt ausgeführte Choreografien, perfekte Outfits, perfekter Gesang, perfekte, liebenswerte Charaktere.
Die negativen Folgen liegen auf der Hand: Der Konsument und Fan wird in eine glitzernde Scheinwelt entführt, in der man mit harter Arbeit scheinbar alles erreichen kann. Denn harte Arbeit ist schließlich das, was hinter dem Dasein als Idol steht und auch bewusst als Botschaft verbreitet wird. Viele kommen schon als Teenager zu ihrer Agentur, üben als Praktikanten täglich Gesang, Tanz und Schauspiel, oft jahrelang. Nur die Besten dürfen schließlich debütieren und sich gegen alle anderen Gruppen durchsetzen – kein leichtes Unterfangen auf dem mittlerweile übersättigten koreanischen Musikmarkt.
Gerade deshalb ist es für viele Künstler wichtig, noch ein bisschen härter zu arbeiten als die anderen, noch ein bisschen besser und perfekter zu sein, ein Prozess, der die koreanische Leistungsgesellschaft nur allzu gut widerspiegelt und durch die „Idols“, die Vorbilder, auf die Spitze getrieben wird. Doch gerade dieses strenge Arbeitsethos und das Streben nach Perfektion scheinen K-Pop auch international so erfolgreich zu machen, wie der jüngste globale Durchbruch bestätigt.
Wirkung auf Politik und Wirtschaft
Der große Erfolg der eigenen Popkultur ist auch an der Politik nicht spurlos vorübergegangen. Mittlerweile hat man erkannt, welche Reichweite und Wirkung K-Pop auf die koreanische und die westliche Gesellschaft hat. Nicht nur die Agenturen, sondern auch die Regierung und die Rundfunkanstalten achten darauf, dass die In-dustrie und die Musik den traditionellen und patrioti-schen Richtlinien entsprechen. Ein Beispiel: Wenn ein Lied oder Musikvideo unpatriotische Aussagen enthält oder nicht traditionelle Familienbilder zeigt, darf es nicht ausgestrahlt werden und wird in der Regel auch von privaten und öffentlichen Sendern und Veranstaltern gemieden.
Dabei wird sehr konsequent vorgegangen: So wurde ein Lied nicht zur Ausstrahlung freigegeben, weil japanische Wörter im Titel vorkamen. Ein K-Pop-Idol wurde heftig kritisiert, als es auf seinem Instagram- Account feministische Bücher vorstellte. Die Kulturpolitik, aber auch die Gesellschaft – man denke nur an die Massendemonstrationen gegen Flüchtlinge vor einigen Jahren – ist dort also das genaue Gegenteil der westlichen Kulturpolitik. Ein übergewichtiger Transsexueller oder ein Angehöriger einer Minderheit hätte es in der südkoreanischen Musikindustrie schwer – anders als hierzulande, wo solche Attribute eher karrierefördernd sein können.
Die erwähnte Gruppe BTS hat zur Zeit ihren obliga-torischen Militärdienst angetreten und muss somit für einige Monate auf das Künstlerleben verzichten. Interessanterweise empfinden die sieben Männer den Wehrdienst als Ehre und freuen sich darauf. Ihn mit einer Ausnahmegenehmigung zu überspringen, kam für sie nicht in Frage. Die Vorstellung, auf dem Höhepunkt seiner Karriere ein Jahr seines Lebens in den Dienst seines Landes zu stellen, ist für westeuropäische Gemüter fast eine Horrorvorstellung, wenn man sich die Äußerungen vieler Künstler zu Militär und Nation vor Augen führt.
Der Boom schlägt sich auch in wirtschaftlichen Zahlen nieder. So erwirtschaftet die K-Pop-Branche mittlerweile enorme Umsätze mit Musik und Merchandising. Im Jahr 2004 trugen sie mit rund 1,87 Milliarden US-Dollar 0,2 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Im Jahr 2018 waren es bereits 9,48 Milliarden US-Dollar und für 2019 wird der Einfluss von „Hallyu“ auf die koreanische Wirtschaft auf 12,3 Milliarden US-Dollar geschätzt – es ist einer der am schnellsten wachsenden Sektoren in Südkorea. Vor allem bei jungen Frauen in Europa oder auf den beiden amerikanischen Kontinenten sorgt die Musik für offene Geldbeutel – und damit für viele Devisen. Indirekt profitieren auch andere Branchen wie der Tourismus vom K-Pop-Hype: Viele planen eine Reise nach Südkorea.
Die koreanische Welle ist mit voller Wucht angekommen. Und sie wird nicht mehr abebben: Ökonomen gehen davon aus, dass sich die beeindruckende wirtschaftliche Entwicklung in den nächsten Jahren fortsetzen wird. Zumindest was den Profit angeht, wird „Hallyu“ also weiterbestehen – ob es aber die genannten Punkte, die diese Popkultur so erfrischend machen, weiterhin beibehält, ist fraglich.
Auch außenpolitisch hat die Regierung das Potenzial der „Hallyu“-Bewegung erkannt. Das Außenministerium organisiert mittlerweile selbst Konzerte mit bekannten K-Pop-Künstlern im Ausland und fördert die Musikszene insgesamt. Ein besonderes Beispiel ist das Konzert „Spring is Coming“, das 2018 als gemeinsame Veranstaltung von Süd- und Nordkorea in der nordkoreanischen Hauptstadt Pyeongyang stattfand. Südkorea entsandte eine Reihe südkoreanischer Musiker, darunter die populäre Girlgroup Red Velvet, zu dem zweitägigen Konzert, das den Willen zur guten Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten symbolisieren sollte.
Aber auch im Kontakt mit westlichen Staaten wird K-Pop als politisches Mittel eingesetzt. Über die Musik soll bei Ausländern ein erster Kontakt mit der koreanischen Kultur hergestellt werden, um sie schließlich ganz für Südkorea zu begeistern – im politikwissenschaftlichen Fachjargon „soft power“ genannt, im Gegensatz zu „hard power“ wie einem starken Militär und Han-del. Bei einem Empfang des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump im Juni 2019 war beispielsweise die populäre Boygroup Exo anwesend, begrüßte den Staats-gast und schenkte Trumps Tochter Ivanka, die bekennender Exo-Fan ist, ein signiertes Album. Was für die Japaner Sushi und die Anime-Kultur ist, das ist für die Koreaner K-Pop, um auf die eigene Kultur aufmerk-sam zu machen. Und: Die Koreaner sind auch sehr stolz darauf, dass ihre Kultur im Ausland Aufmerksamkeit erregt, vor allem im Vergleich mit der „woken“ Kulturindustrie aus dem Westen.
So wird ein koreanischer Jugendlicher in einer nicht repräsentativen Straßenumfrage gefragt, warum die neuesten Blockbuster in Südkorea so oft durchfallen und ob das etwas mit „Rassismus“ zu tun habe. Seine Antwort bringt die südkoreanische Mentalität auf den Punkt: „Ihr macht komische Filme, und wenn wir sie nicht mögen und sie uns nicht ansehen, dann nur, weil wir mit eurer politischen Agenda nicht einverstanden sind. Es ist, als ob ihr uns erziehen wollt, wenn ihr uns diese Frage stellt. Aber wer sind diese Leute, dass sie uns erziehen wollen?“
Aber auch die Kritik an „Hallyu“ wird immer lauter: Sei es der beschriebene „diskriminierende“ Umgang von Politik und Medien in Südkorea mit Minderheiten und der woken Agenda, aber auch die teilweise tatsächlich unmenschlichen Arbeitsbedingungen – die Vorfälle von Ausbeutung junger Künstler und Selbstmorden bekannter koreanischer Stars aufgrund von Erfolgs-druck oder Depressionen häufen sich – immer mehr Punkte rücken in den Fokus der Kritiker. Ein großer Streitpunkt ist derzeit die Frage, wie „koreanisch“ K-Pop eigentlich sein muss. Immer mehr Agenturen lassen ihre Künstler auf Englisch singen, mit untypischen Zeilen, die zum Beispiel obszöne Themen ansprechen. Es gibt auch Versuche, K-Pop-Gruppen auf die Bühne zu bringen, die nicht mehr aus Südkoreanern bestehen oder Menschen zeigen, die nicht dem „perfekten Ideal“ entsprechen – mit bisher sehr mäßigem Erfolg. Die Zukunft der „Hallyu“ wird spannend: Die Werte und Traditionen, die diese Kultur so erfolgreich gemacht haben – nämlich Disziplin, Perfektionsstreben, Hingabe, Geschichts- und Traditionsbewusstsein – werden in der woken Welt als falsch und negativ dargestellt. Es wird sich zeigen, ob die südkoreanische Kultur auch ohne diese Grundlagen überleben kann oder ob sie dann nicht völlig austauschbar wird.
Der Beitrag erschien ursprünglich in der FREILICH-Ausgabe Nr. 23 „Terror von links“.