„Ringe der Macht“: Mutig, zugleich aber auch seelenlos
Kann die neue Amazon-Serie aus dem Tolkien-Universum überzeugen? Nein, sagt TAGESSTIMME-Redakteur Bruno Wolters. Die Serie versucht zu viele Kompromisse und verliert dabei den roten Faden.
Kann die neue Amazon-Serie aus dem Tolkien-Universum überzeugen? Nein, sagt TAGESSTIMME-Redakteur Bruno Wolters. Die Serie versucht zu viele Kompromisse und verliert dabei den roten Faden.
Am 02. September erschien die neue „Die Herr der Ringe“-Serie auf Amazon Prime Video. Die ersten acht Folgen sind Teil eines großen Deals zwischen Amazon und den Tolkien-Rechteinhabern, der eine Serie mit mindestens fünf Staffeln vorsieht. Rund eine Milliarde zahlte Amazon an die Erben Tolkiens und die Produktionsfirma – zusammen mit dem Tolkien-Universum sollte diese Summe also großes Fantasy-Spektakel bedeuten. Nach den ersten beiden Folgen sind diese Erwartungen jedoch zurückzuweisen, denn mit „Die Ringe der Macht“ ist nach der großartigen ersten Filmtrilogie und der eher mäßigen Hobbit-Verfilmung von Peter Jackson ein Tiefpunkt des filmischen Fantasy-Genre erreicht worden. Die weiteren sechs Folgen werden an diesem Urteil wenig ändern können, da die Prämissen der Serie schlecht sind und sie zumal auch handwerklich wenig überzeugen kann.
Dieser Eindruck zieht sich auch durch das Netz. Schaut man auf die beiden großen Review-Aggregatoren metacritic und Rotten Tomatoes, ist der Unmut unter den Fans und Zuschauern riesig. Während auf ersterer Plattform die Nutzer durchschnittlich 2,5 von 10 Punkten vergaben, ist man auf zweiterer etwas gnädiger: 39 Prozent der abgegebenen Stimmen konnte „Ringe der Macht“ bisher überzeugen.[1] Die Kritik ähnelt sich dabei. Schlechte Computereffekte, unsympathische Schauspieler, unlogische Story – oder simpel gesagt: Keine Tolkien-Atmosphäre. Diesen Eindruck konnte ich auch in meinem Bekanntenkreis vorfinden. Überraschenderweise sind auch „unpolitische Normies“ wie die schwarz-grün wählende Bekannte enttäuscht, die sich über die vielen schwarzen Schauspieler wunderte.
Die Fans sind nicht überzeugt
Zuvor habe ich mich eher bewusst wenig mit der Serie befasst, um unvoreingenommen in Amazons Version von Mittelerde eintauchen zu können. Der Beginn der ersten Folge ist dabei eigentlich vielversprechend. Man wird nach einem kurzen Intro, das schnell die wichtigsten Ereignisse des Ersten Zeitalters darstellt, in eine Erinnerung der kindlichen Galadriel geworfen. Die Szene ist dabei simpel: Galadriel baut ein magisches Papierschiff und setzt es in einen fließenden Bach. Die anderen Elbenkinder drangsalieren die kleine Galadriel, da sie nicht an die Schwimmfähigkeit des Schiffes glauben. Sie werden jedoch schnell vom Gegenteil überzeugt und werfen daraufhin Steine in den Bach, um das Schiff zu treffen. Nach einem erfolgreichen Treffer, der das Schiff versenkt, wird Galadriel wütend und geht auf einen Elbenjungen los, bis ihr großer Bruder Finrod die streitenden Kinder auf dem Boden unterbricht und auseinanderbringt. Nach einem kleinen Dialog zwischen den Geschwistern, in dem Finrod Galadriel eine Art Lebensweisheit beibringt, macht der Zuschauer mit der erwachsenen Galadriel des zweiten Zeitalters Bekanntschaft. Diese durchquert mit einer Handvoll Begleitern eine eisige Wüste im Norden Mittelerdes, um Morgoths Diener Sauron zu finden.
Denn anders als der führende Elbenfürst Gil-Galad und der Elbenrat denken, geht die junge Elbin davon aus, dass Sauron nach dem letzten Kampf nicht fiel, sondern sich bis jetzt gut versteckte. Sie will ihre Rache, da Sauron ihren großen Bruder tötete. Es kommt zu kleineren Reibereien zwischen ihr und der Gruppe, da die Mehrheit zurückkehren möchte, weil Galadriel die Missionsziele mit ihrem Abstecher nach Norden überspannte. Mit ihrer Autorität regelt die Elbin jedoch diese kleine Proto-Meuterei, sodass die Gruppe weitermarschiert. Sie treffen im eisigen Wind auf eine gespenstische Festung und finden dort das Mal Saurons, um kurz daraufhin von einem Troll angegriffen zu werden. Während ihre Begleiter das Monster nicht besiegen können, schafft Galadriel, es mit einem Sprungangriff schnell zu töten. Entmutigt von der Kälte und der eben noch erlebten Gefahr meutern ihre Begleiter nun wirklich und zwingen Galadriel dazu, in den Süden zurückzukehren.
Eine schrecklich unsympathische Hauptfigur
Diese Szenen nehmen 15 Minuten ein. Klar ist also: Galadriel ist die Hauptfigur! Damit es auch jeder versteht, bekommt sie auch eine so lange Exposition, die ihre verschiedenen Charaktereigenschaften darstellt. Mutig, visionär und angriffslustig als Kind. Unbeugsam, fanatisch, stark und letztendlich auch unsympathisch als erwachsene Elbin – Galadriel wird dem Zuschauer als Powerfrau vorgestellt. Während ihre männlichen Begleiter lieber beim Missionsbefehl verbleiben wollen und zurückkehren möchten, sowie im Kollektiv keinen Troll töten können, gelingt und kann Galadriel grundsätzlich alles. Wie Geralt von Riva (Hauptprotagonist der The Witcher-Reihe) in einer dramatischen Kampfszene inklusive Sprung und eleganten Hieben ein Monster töten, ohne einen Kratzer zu bekommen? Kein Problem. Keine Kälte spüren, während die Begleiter darüber jammern, dass ihre Finger abfrieren? Auch kein Problem. Durch einen ganzen Ozean schwimmen? Als erster eine Eiswand mit großem Abstand zu anderen emporklettern? Illoyalität gegenüber dem Elbenfürsten Gil-Galad? Für Galadriel ist das alles kein Problem, denn sie ist perfekt – ein Novum auf Arda. Frodo und Boromir kämpften mit der Gier nach dem Ring, Sam mit seinem Gewicht und Gimli gelegentlich mit seinem Stolz. Feanor (der als Charakter des Ersten Zeitalters in der Serie keine Rolle spielt), Erschaffer der Silmarilli, ein grandioser Künstler, verdammte seine Sippe mit seinem Eid. Fast oder alle Helden oder Figuren in der Welt Tolkiens sind also nicht schwarz-weiß oder eindimensional, sondern vielgesichtig. Doch trotz dieser unterschiedlichen Charaktere funktioniert Tolkiens Universum nach festen Regeln: Es gibt Gut und Böse, Tugenden haben ihren Sinn und Zweck, es gibt mehr als nur die materielle Welt, jedes Lebewesen hat gewisse tragische Züge. Selbst Ungoliants Schicksal, die anders als Melkor wirklich das absolut Böse darstellt, zeigt eine gewisse Moral: Selbst das absolut Böse kann an sich selbst scheitern – Ungoliant verschlingt sich aufgrund ihrer puren Bösartigkeit selbst.
Galadriels Charakter, der angemessen von der Schauspielerin Morfydd Clark dargestellt wird, verkommt hier also zu einer generischen und einseitigen Figur, die nicht so recht ins Universum passen möchte. Man könnte Galadriel aus dem Universum nehmen und in jede andere Serie setzen – sie würde nur aufgrund ihrer spitzen Ohren auffallen. Die Eindimensionalität des Charakters – die persönlich-individuelle Motivation, ihren Bruder zu rächen – kann natürlich nicht mit den Heldentaten der Gefährten oder mit Feanors Leben verglichen werden, da diese eine andere Intensität und Spannungsreichweite besitzen. Der Kampf Gut gegen Böse hier, der Niedergang des größten und ehrgeizigsten Künstlers dort. Auch Feanor schwor aus Rache und Hass den verdammungsvollen Eid, um die Silmarilli zu schützen. Aber während in seiner Figur eine besondere Tragik liegt, vor allem im Kontext mit den Familienstreitigkeiten und dem Fluch der Noldor, und er in seiner Hybris nach ganz unten stürzte, ist Galadriel einfach nur eine farblose Elbin in Mittelerde. Die redundante und langweilige Rache-Story lässt Galadriel nackt vor den Zuschauer treten – es hätte genauso jeder andere Charakter diese Storyline bekommen können, es würde keinen Unterschied machen. Im Gegenteil: Der Plot macht Galadriel zu einer unsympathischen Figur. Sie ist eine Fanatikerin, die aufgrund ihrer Rachegelüste das Leben ihrer Leute auf das Spiel setzt und Befehle missachtet. Angetrieben von Hass hat nur sie allein den Durchblick, während alle anderen lahmen Elben sich vor dem vermeintlich Offensichtlichen – also Saurons Rückkehr (kennen wir das irgendwoher?) – verstecken (na, hat hier jemand ein Déjà-vu?). Allzu großen Raum für interessante Entwicklungen lässt diese ganze Rache-Prämisse nicht zu. Galadriel und Elrond können natürlich nicht sterben, ebenso wird sie auch nicht Sauron besiegen können. Die Frage, wo hier also ein tolkiensches Abenteuer zu finden sein wird, bleibt bei der Ausgangslage offen – viel Platz für Dramatik und Tragik bleibt jedenfalls nicht. Und wenn die Storyline eines Hauptcharakters schon so limitiert ist, bleibt wenig Hoffnung über.
Kein roter Faden erkennbar
Es stellt für die Serie ein grundsätzliches Problem dar, wenn einer der Hauptfiguren durch den Kanon begrenzt wird. Den Spagat also, welchen „Ringe der Macht“ mit Kanon-Figuren einerseits, neuen Charakteren andererseits gehen möchte, gelingt konkret nur wenig, da es an einer harmonischen Entwicklung beider Elemente scheitert. Während die Kanonfigur Galadriel deplatziert wirkt und unsympathisch ist, kann bei den neuen Figuren nur dezent wirkliches Interesse geweckt werden. Hier wurde grundsätzlich die falsche Entscheidung getroffen: Dass eine „pure“ Verfilmung des Quellenmaterials möglich ist, zeigte Peter Jackson; dass die Einfügung neuer Elemente möglich ist, kann die neue Serie leider nicht beweisen. Es wäre also eventuell klüger gewesen, einfach vorliegendes Material aus dem Zweiten Zeitalter zu verfilmen oder wirklich den Weg des „Neuen“ zu gehen. Die Kompromisshaltung lässt jedoch keinen roten Faden erkennen.
Auch darüber hinaus bleibt Galadriels Charakter lahm und seelenlos. Eine anmutige und edle Elbin, die Sauron jagt, weil sie die Gute und er der Böse ist? Fehlanzeige. Die Storywriter bringen sich aufgrund ihrer Missinterpretation Tolkiens aber selbst in die missliche Lage: Weil sie aus politischen Gründen (siehe Wokeness und der Linksliberalismus in der kreativen Szene) sich nicht in die Gedankenwelt Tolkiens einleben können, verwandeln sie Galadriel in eine hasserfüllte Person, um ihr irgendwie Authentizität und Glaubwürdigkeit für ihr Handeln geben zu können – das geht aber großartig in die Hose und passt nicht gut in die Welt Tolkiens. Es geht nicht um individuell-persönliche Motive – Frodo zerstörte den Ring im Schicksalsberg nicht aus einer persönlichen Abneigung gegen Sauron heraus, sondern weil er freiwillig die Bürde eines Avatars des Guten einnahm. Galadriel stellt hier eher einen Avatar des geistigen Zusammenbruchs dar. Sauron müsste sie jedenfalls nicht mit einem Ring korrumpieren, da sie schon geistig genug am Boden sein sollte. Eine Szene stellt sehr gut die psychologische Disposition Galadriels dar: Weil sie die Befehle missachtete und sich als illoyal erwies, wird sie von Gil-Galad nach Valinor geschickt, um dort ein gutes Leben zu führen (und endlich nicht mehr die Noldorelben in Mittelerde zu nerven). Ein konservativ-katholischer Journalist meinte zu mir, er und seine Frau hätten bei dieser Szene gelacht, da man diese Reise nach Valinor auch als eine Fahrt in die Irrenanstalt verstehen könnte – nach dem Motto: Gil-Galad schiebt Galadriel in die Anstalt ab.
Tolkien-Atmosphäre kommt nicht auf
Versucht man tiefergehend die Serie zu interpretieren, zum Beispiel als einen Generationenkonflikt zwischen Jung (Galadriel) und Alt (Gil-Galad), dann könnte man Galadriels Rebellion und Elronds unorthodoxes Handeln so darstellen und deuten – jedoch: Wenn man realsoziologische Konflikte sehen will, warum sollte man dann eine Fantasy-Serie schauen wollen? Passt diese „realistische“ Darstellung überhaupt wirklich zu Tolkiens Welt, die ihre Faszination vor allem durch die spirituellen und mystischen Elemente verbreitet? Für mich sind gesellschaftspolitische Überlegungen und somit auch Darstellungen eben jener in Tolkiens Universum fehl am Platz, man nimmt Tolkiens Welt sogar ihren Reiz, wenn man damit übertreibt oder seinen Fokus darauf setzt. Es gibt andere Universen, die besser mit solchen Ideen funktionieren, siehe das Universum von George R. R. Martin. Man möge mich nun Tolkien-Purist schimpfen! Ich möchte nicht damit sagen, dass Tolkien nicht selbst gewisse Bezüge aus seiner Zeit in die Welt hat einfließen lassen – sie waren aber höchstens ein Gewürz unter vielen, aber niemals eine wichtige Hauptzutat. Wer in der Suppe „Ringe der Macht“ aktuelle Bezüge als Grundzutat ansehen möchte, macht Tolkiens Fantasy-Welt zu einer „normalen“ Fantasy-Welt, wie es sie zuhauf gibt.
Kommen wir zu anderen Aspekten der Serie. Über die vielen woken Einflüsse brauchen wir nicht viel reden. Es reicht an dieser Stelle zu sagen, dass die Proto-Hobbits nicht wie lustige und interessante Halblinge herüberkommen, sondern eher als eine Art „Fahrendes Volk“ erscheinen. Diese Darstellung ist natürlich Geschmackssache, meinen trifft sie jedoch nicht. Dass gefühlt jeder zweite Haarfuß ein sogenannter PoC ist, brauche ich nicht zu erwähnen. Ebenso die Tatsache, dass die beiden Hauptfiguren Elanor „Nuri“ Brandyfuß und ihr Sidekick optisch und charakterlich große Ähnlichkeiten mit Frodo und Sam haben. Anscheinend waren hier die kreativen Ressourcen trotz des Budgets so gering, dass man wohl die die beiden Hobbits aus der Trilogie recyceln musste, um irgendwie auch wieder Hobbits darstellen zu können. Die Plotline mit dem „Fremden“, der einem aus dem Himmel gestürzten Meteor entstieg, kann jetzt noch nicht beurteilt werden – so wirklich interessant wirkt die Figur trotz des mysteriösen Hintergrunds nicht. Ein Tolkien-Fan kann sich aber denken, wer hinter dem „Fremden“ steckt.
Schöne und spannende Momente
Neben den Hobbits und „Powerfrau“ Galadriel gibt es noch die Storyline um einen schwarzen Elben (Arondir), der sich in eine Frau (Bronwyn) verliebte, die aber einem Menschenstamm angehört, der früher Melkor unterstützte. Es kommt also zu Reibereien und Misstrauen zwischen Elben, die die Macht haben, und den einfachen Menschen. Da aber Gil-Galad den Frieden ausruft, müssen sich die Elben zurückziehen. Es bahnt sich hier wohl ein Liebesdrama zwischen den beiden an. Das ist großartig und grandios, aber für die großen Tränen ist diese Schnulze dann doch bisschen zu blass. Zudem gibt es noch den Elbenherold Elrond. Trotz der ganzen Polemik bis zu diesem Punkt muss ich an dieser Stelle die Serie loben – mit Robert Aramayo hat man einen für meinen Geschmack guten Schauspieler für diese Rolle gefunden. Im Gegenteil zu Galadriel wirkt Elrond auch glaubwürdig und ist vor allem auch näher an der Vorlage orientiert. Wir haben hier einen schönen und eleganten Elben, der zwar auch ein bisschen rebellisch ist, aber genauso nachdenklich und klug wie in der Vorlage vorgeht. Elrond besucht später in Khazad-dûm die Zwerge und die Szenen unter den Bergen sind die einzigen, die wirklich einen Tolkien-Flair versprühen. Das liegt hier vor allem auch an den guten Kostümen und Szenenbildern.
Anders als vieles andere in der Serie sind die Zwerge und die Steingemäuer im Felsen tief unter dem Nebelgebirge auch echt. Ich wiederhole: die Kulissen und Kostüme sind wirklich echt! Das muss deswegen so betont werden, da die Macher der Serie unglaublich viel Computertechnik einsetzen. Nun gehört das im modernen Fantasy sicherlich dazu, auch Peter Jackson nutzte für seine Trilogie Computeranimationen, jedoch sind das eingesetzte CGI und die Greenscreen-Szenen in „Ringe der Macht“ schlecht bis teilweise grottig. Fast jeder Ork ist computeranimiert, viele Szenen sind im Studio gedreht und dann teilweise so offensichtlich animiert, dass es einfach in den Augen schmerzt: In einer Szene gehen Elrond und Galadriel an einer Klippe spazieren. Hier merkt man die Studiokulisse extrem, dass man sich fragen möchte: Wo sind die riesigen Mengen US-Dollar aus dem Budget hin? Auch die Farben sind zu grell, die Kontraste und das HDR zu krass. Die Musik kommt nicht an Howard Shore heran, ist aber durchaus angenehm. Das alles ist Geschmackssache – es hat mich aber eher an eine moderne Netflixserie anstatt an ein Abenteuer in Mittelerde erinnert.
Zwerge? Gehen immer!
Neben dem schönen Khazad-dûm und den authentischen Zwergen gibt es in der zweiten Folge noch eine grandiose Szene, die auch filmisch interessant umgesetzt wurde. Galadriel ist auf dem offenen Ozean gefangen, hilflos versucht sie an Land zu schwimmen, das sie nicht mal sehen kann. In dieser langen Szene sieht man sie anfangs nur schwimmen. Nur gruselige Geräusche unterbrechen die Ruhe. Plötzlich tauchen Schiffbrüchige auf einer Art Floß auf, die Galadriel trotz großer Skepsis und Misstrauen aufnehmen. Doch der Frieden währt nur kurz, denn nach Galadriels Rettung werden sie angegriffen, es kommt zum Kampf. Diese ganze Szene auf dem Meer ist audiovisuell und filmisch super umgesetzt. Trotz der vielen Kritik hat die Serie also durchaus ihre wenigen Momente. Der Besuch in Khazad-dûm und das Geschehen auf dem Meer haben mich für ihre Minuten wirklich an den Bildschirm gefesselt. Leider ist dieses Niveau nicht durchgängig vorzufinden, auch wenn es gelegentlich große Bilder von elbischen Städten, grünen Tälern und großen Burgen zu bestaunen gibt. Das ist eigentlich klassische Fantasy, wie man sie will – wenn es sich nicht so kalt anfühlen würde.
Nun muss man beim Thema Ästhetik auch zugeben, dass die Trilogie von Peter Jackson und Alan Lee eine unglaublich hohe Messlatte ansetzte, die wohl nicht mehr erreicht werden kann. Wenn aber das Team hinter „Ringe der Macht“ dieses Niveau mangels eigener schöpferischer Kraft nicht erreichen kann, wieso nehmen sie sich dieses dann nicht immerhin als Vorbild? Natürlich steht auch die Option offen, dass man sich bewusst gegen eine Orientierung an der filmischen Vorlage entschied, um einen eigenen künstlerischen Weg zu gehen und eine Identität zu finden. Das ist legitim – aber nur, wenn man erfolgreich ist. Das ist den Machern mit ihrer Ästhetik leider nicht durchgängig gelungen. Vor allem, wenn man ein Fan von einer Szenenkulisse eines Peter Jacksons vor zwanzig Jahren ist oder die Originalität eines Genies wie Ridley Scott schätzt – sein Fantasyfilm „Legend“ zeigte schon in den 80er Jahren, wie man gute Fantasy ohne Computeranimation darstellen kann. Er erreichte damals eine audiovisuelle Qualität, die leider bisher nicht mehr eingeholt werden konnte.
Mutig, zugleich aber auch feige
Vergleich man die Serie mit anderen Fantasy-Serien, muss man „Ringe der Macht“ leider als durchschnittliches und generisches Fantasy-Blabla abtun. Mit Tolkien oder Herr der Ringe hat man hier eher nichts zu tun, im Gegenteil. Es scheint so, als hätten sich die Entscheider gedacht, mit welchen Aspekten man am besten die Zuschauer locken könnte: „Galadriel, Hobbits und Sauron sind bekannt, also müssen diese im Fokus stehen. Dazu noch tanzende und singende Zwergen und Orks – fertig ist das Mittelerde-Abenteuer!“
Dass natürlich hier Inhalt, Logik, Ästhetik, Nähe zur grundlegenden Lore und auch Zuschauerfreundlichkeit ins Abseits geraten, die hier wohl als Synonyme für CGI verstanden wurden, muss nicht erwähnt werden. Ein Gegenbeispiel: Die HBO-Verfilmung von „Das Lied von Eis und Feuer“ ist gute Film-Fantasy. Man könnte die konkreten Plotlines auch nur einzeln verfolgen und wäre weiterhin gut unterhalten, weil vieles stimmig ist: Plot, Darsteller, Ästhetik, Kulissen, Kostüme, Atmosphäre. Als ich coronageplagt für eine Woche im Sommer in die Quarantäne gezwungen wurde, habe ich mir die ganzen acht Staffeln angeschaut – ich war für diese Woche gedanklich ab der ersten Folge in der Welt von Westeros und Essos eingetaucht: Das ist das Schöne und Geniale an Fantasy! Amazon schafft es jedoch nicht, diesen Effekt zu verursachen. Wenn die vielen parallelen Geschichten erst nach einigen Folgen zünden und das Interesse wecken, ist es schlecht geschrieben und umgesetzt – gute Fantasy zieht sofort in ihren Bann. Die Macher der Serie versuchen hier also zu viele Kompromisse: Man will einen eigenen Weg gehen und so seine Identität finden, gleichzeitig nutzt man dann jedoch aber auch wieder Reminiszenzen aus der Originaltrilogie. Der rote Faden geht so verloren. Einerseits ist man mutig, weil man die Dominanz Jacksons auf der filmischen Ebene aufbrechen will, andererseits ist man hier aber nicht konsequent genug, diesen Weg auch zu Ende zu gehen. Ein eindeutiger Weg hätte der Serie zu einer besonderen Identität verholfen – so ist sie aktuell nur etwas Halbes.
In ihren Bann zu ziehen gelingt der neuen Serie aus dem Tolkien-Universum aufgrund der angesprochenen Punkte leider nicht. Ob man nun jetzt aus Frust die Serienmacher bis ans Ende der Welt jagen sollte, wie es Galadriel mit Sauron tut, ist eine andere Frage.
[1] Stand 05.09.2022
Eine andere Ansicht vertritt Joachim Paul. Die Serie überzeugt ihn: „Abgeklärt und ohne Patzer“