Daniel Fiß: „Anerkennen, dass die AfD Wähler verloren hat“
Der Politikwissenschaftler Daniel Fiß (29) ist Betreiber des „Feldzug“-Blogs und regelmäßiger Autor der Zeitschrift „Sezession“, für die er insbesondere Wahl- und Parteianalysen vornimmt. Im Gespräch mit der TAGESSTIMME gibt er einen Einblick über den Zustand der AfD.
TAGESSTIMME: Sie haben zuletzt viele Analysen über die AfD, ihre Verluste bei den Landtagswahlen und ihre Wählerstruktur veröffentlicht. Können Sie vielleicht zum Beginn kurz die wichtigsten Eckpunkte des aktuellen Standes der Alternative und ihrer Wähler zusammenfassen?
Daniel Fiß: Zunächst müssen wir anerkennen, dass die AfD in den letzten zwei Jahren Wähler verloren hat. Die Landtagswahlen als auch die Bundestagswahl 2021 haben gezeigt, dass die Partei zwar eine loyale Stammwählerbasis halten kann, aber insbesondere die volatilen Protestwählergruppen sind in Vergangenheit vielfach zurück ins Nichtwählerlager abgewandert. Die AfD kann aktuell nicht die Kraft aufbringen und ein fundamentaloppositionelles Repräsentationsangebot an die Wähler machen. Die Wählerschaft wird sich in den nächsten Jahren weiter formen und verfestigen. Strategisch wird die Partei sich dabei vor allem auf ihre Schwerpunkte konzentrieren. Sie muss dabei weiterhin den „Mitte-Rechts“-Raum ausfüllen, der von den etablierten Parteien inzwischen vollends abgestoßen wurde.
Der vergangene Parteitag war zunächst sehr harmonisch, am Sonntag kam es jedoch aufgrund des Streites über eine Europaresolution überraschend zu einem Abbruch des Parteitages. Haben Sie einen solchen Vorfall erwartet?
Fiß: In der Form nicht, nein. Es war klar, dass der Parteitag einmal mehr auch von Konflikten zwischen den einzelnen Parteiflügeln geprägt sein wird und es nach der Bundesvorstandswahl zu vereinzelten Revanchierungen kommen würde. Dass dies aber einmal mehr auf dem Rücken einer eigentlich programmatischen Debatte zur Europa-Positionierung der Partei ausgetragen werden würde, zeigt, dass die AfD hier in Zukunft eine deutlich professionellere und kultivierte Debattenkultur etablieren muss.
Nach dem Parteitag wurden interne Absprachen des Parteivorstandes mit Björn Höcke bekannt, die für viel Kritik sorgten. Während manche das Vorgehen verteidigen, sehen andere die AfD bereits als „jüngste Altpartei“. Immerhin war die Partei auch mit dem Vorsatz gestartet, ohne die üblichen Parteienklüngeleien Politik zu betreiben. Wie bewerten Sie daher den Stein des Anstoßes?
Fiß: Es gehört schon fast zu den Gesetzen der Parteienlogik, dass auch interne Absprachen und Bündnisse geschlossen werden, über die dann Mehrheiten organisiert werden. Es ist sicherlich eine romantische Vorstellung, dass auf den Parteitagen auf offener Bühne Argumente ausgetauscht werden und sich dann der Überzeugendste durchsetzt. Aber es ist eben auch fernab der Realität. Wer Interessen durchsetzen will, braucht Macht und diese Macht wird in Parteisystemen über Mehrheiten organisiert. Das sind Gesetzmäßigkeiten, der sich auch eine AfD nicht entziehen kann. Insofern gehört es auch ein wenig zum politischen Strategiespiel, abzuwägen, Kompromisse zu schließen, Zeitpunkte abzuschätzen und die Lage richtig einzuordnen. Manche gewinnen dabei und andere verzocken sich. That’s the Game!
„Entscheidend ist jedoch, dass sie genau diese Erfordernisse der Professionalisierung, Kampagnenfähigkeit, Vorfeldstrukturbildung, Graswurzelarbeit, Analysestrukturen als Großprojektaufgaben verstanden werden und die Befähigung ihres künftigen Führungspersonals genau an diesen Punkten auch gemessen wird“, hatten Sie kurz vor dem Parteitag über die AfD geschrieben. Denken Sie, der neue Vorstand wird diese Erfordernisse erfüllen?
Fiß: Das wird sich jetzt zeigen. Grundsätzlich sollten wir dem neuen Vorstand die bekannte Schonfrist von 100 Tagen gewähren und dann bemessen, ob die Erwartungen erfüllt wurden oder nicht. Der Vorstand verkündete ein Ende der Ära Meuthen und das Ende der endlosen Selbstbeschäftigung, wo der Kampf um innerparteiliche Macht- und Geländegewinne mehr Zeit in Anspruch genommen hat als Kampagnenplanung, programmatische Weiterentwicklung und mediale Professionalisierung. Wenn dies das Versprechen von Chrupalla und Co war, dann können die Mitglieder den Bundesvorstand auch daran jetzt messen. Ansonsten sehe ich insbesondere in Personalien wie Maximilian Krah, Carlo Clemens oder Dennis Hohloch genau solche Akteure, die das Potential haben, meine beschriebenen Attribute auch auszufüllen.
Medial wird – wieder einmal – von einer „Radikalisierung“ der Partei durch den neuen Vorstand geschrieben, wie bislang nach wohl jedem Parteitag. Sehen Sie das ebenso?
Fiß: Das war der erwartbare Vorwurf nach Abschluss der Vorstandswahl. Allerdings muss hierbei doch offen die Frage gestellt werden, nach welchen Kriterien man diese Radikalisierung messen möchte? Haben Weidel oder Chrupalla jetzt zum Systemumsturz aufgerufen? Gab es irgendwelche Radikalisierungsaufrufe aus dem Bundesvorstand? Wenn wir über Radikalisierungsprobleme sprechen, sollten diese doch immer auch anhand der inhaltlichen Leitvorgaben betrachtet. Weder hat der neue Bundesvorstand die Leitplanken der Partei neu definiert noch das Grundsatzprogramm außer Kraft gesetzt. Wer der Partei nun erneut eine Radikalisierung unterstellt, soll diese doch bitte inhaltlich politisch begründen.
Während die AfD mit dem Trubel um ihren Parteitag und Wahlniederlagen Schlagzeilen macht, fiel Marine Le Pen und ihre Partei in Frankreich zuletzt mit Wahlerfolgen auf. „Was ist das Erfolgsgeheimnis von Marine Le Pen?“, fragte sich beispielsweise die „Junge Freiheit“. Was kann die AfD von Frankreich lernen?
Fiß: Der Organisations- und Professionalisierungsgrad von Le Pen und ihrem Rassemblement National ist bereits auf einem ganz anderen Niveau als jener der AfD. Le Pen hat es diszipliniert geschafft, ihre Partei für neue Wählerschaften zu öffnen, ohne dabei ihre programmatischen Kernprofile und Zielgruppen zu verraten. Sie ist dabei einer klaren Langzeitstrategie gefolgt, die ihr eine höhere Attraktivität und Wählbarkeit bescherte. Le Pen ist nicht mehr der Dämon der französischen Politik, sondern arbeitete sich Schritt und Schritt und Etappe für Etappe zu ihrem Ziel der französischen Präsidentschaft. Wir dürfen gespannt sein, wie sich diesbezüglich die nächsten fünf Jahre entwickeln werden. Speziell für die AfD dürfte es vor allem der Esprit einer unangefochtenen Führungsfigur und die soziale Programmatik sein, die auf die großen Töne des revolutionären Umbruchs verzichtet und einen breiten Mobilisierungsschirm von den gesellschaftlichen Mitte-Rechts-Milieus bis hin zu den sozial Abgehängten und Frustrierten spannt.
Zuletzt hatte sich der Politikwissenschaftler Benedikt Kaiser im Buch „Die Partei und ihr Vorfeld“ mit der AfD beschäftigt. Wie prognostizieren Sie die Entwicklung der Partei in den nächsten Jahren?
Fiß: Die AfD und das patriotische Lager müssen konstatieren, dass es kein dezidiert rechtes Milieu in Deutschland gibt, das sozial so weit gewachsen und stabilisiert ist und auch durch eine dementsprechende parteipolitische Repräsentation geprägt ist. Nur der Bezug zu einem solchen Milieu sorgte dafür, dass die großen Parteiprojekte sich auch langfristig halten konnten. Die CDU hat ihre kirchlich gebundenen und konfessionellen Milieus. Die SPD ihre Arbeiterklasse und die Grünen die postmateriellen 68er-Milieus, die heute zunehmend auch die gesellschaftlich „bürgerliche Mitte“ abbilden. Durch das Fehlen dieses Milieus ist die AfD umso stärker auf die Herausbildung eines starken und arbeitsfähigen Vorfeldes in Medien, Bürgerbewegungen und Gegenkultur angewiesen. Viele in der Partei haben noch nicht erkannt, dass wir uns inmitten eines Kulturkampfes befinden und die AfD weder medial noch intellektuell ausreichend bewaffnet ist. Ich denke daher, dass Kaisers Grundlagenarbeit hier einen wichtigen Beitrag dazu leistet, rund um die Partei effektive Strukturen auszubilden, die ein eigenes Milieu schaffen und die notwendigen Sozialnetzwerke, um etwa rechtskonservative Think Tanks usw. hervorzubringen.
Zur Person:
Daniel Fiß, geboren 1992 in Rostock – studierte sechs Semester Good Governance und Politikwissenschaft an der Universität Rostock. Von 2016 – 2019 war er Bundesleiter der Identitären Bewegung Deutschland. Seit 2017 betreibt er als selbstständiger Unternehmer eine eigene Grafikagentur. Fiß befasst sich intensiv mit den Fragen politischer Kommunikation und ihrer Wirkung und ordnet diese in grundlegende strategische Fragestellungen des rechtskonservativen Milieus ein. Seit 2020 betreibt er dafür den Feldzug Blog, in dem er sich regelmäßig Analysen zu Demoskopie, politischer Soziologie und Kommunikation widmet.
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