Ulf Poschardts „Shitbürgertum“ – Ein substanzloses Spiel
Im Januar veröffentlichte der Welt-Herausgeber Ulf Poschardt sein Buch Shitbürgertum, in dem er scharfe Kritik an der linksliberalen Elite übt. In seiner Rezension für FREILICH beleuchtet der Autor und Politikwissenschaftler Benedikt Kaiser die Diskrepanz zwischen Poschardts theoretischen Forderungen und dessen eigenen Praxis.
Als „Buch, das kein traditioneller Verlag publizieren wollte“, bewirbt Ulf Poschardt sein Shitbürgertum bei Amazon. Im Zusammenhang der Sache wird man wohl sagen müssen, dass der seit Januar 2025 als Herausgeber von Welt, Politico und Business Insider fungierende Wahlberliner und Geburtsfranke, der in Nürnberg das Licht der Welt erblickte und in Hof das Abitur absolvierte, ein wenig ungenau mit potenziellen Fakten umgeht. Korrekt ist, dass Poschards geplanter Verlag, das Haus zu Klampen im niedersächsischen Springe, Abstand von einer Veröffentlichung nahm, als man den von Polemik triefenden Inhalt erörterte. Zu Klampen gilt als feingeistige Essay-Schmiede mit distinguierter Autoren- und Leserschaft. Weniger korrekt sein dürfte dann schon, dass kein Verlag bereit gewesen sein soll, Poschardts Streitschrift, die weder feingeistig noch distinguiert ausfällt, zu publizieren.
Poschardts Inszenierung als Draufgänger
Anzunehmen ist vielmehr, dass Poschardt den Rummel in den Sozialen Medien, den die Absage zu Klampens auslöste, effektiv nutzte, um sich als verwegenen Draufgänger des geschriebenen Wortes zu inszenieren, der „disruptiv“ mit der klassischen Verlagswelt bricht, um bei Amazon Publishing, dem modernen Selbstverlag, die Korridore des linksliberalen Mainstreams aufzubrechen. Derlei PR-Methoden beherrscht Poschardt aus dem Effeff, und man wird ihm den Erfolgsverkauf seines Bandes, der bedauerlicherweise so hässlich wie billig produziert daherkommt, wie man es von einer Verlags-Nachahmung aus dem eher wenig bibliophilen Amazon-Komplex befürchtet hatte, nicht neiden. Auf Basis eigener Erfahrungen aus dem Antaios- und Jungeuropa-Kosmos kann ich bereitwillig einräumen, dass die Skandalisierung eines Titels, bevor dieser sich selbst in Warenform materialisiert, also in Print erscheint, das Grundrauschen im eigenen Vertrieb bedeutend potenziert: Der Rubel rollt von allein dank der gut geschmierten linksliberalen Empörungsmaschinerie, ließe sich feixen – würde eine triviale Rubel-Metapher bei Poschardt, dem Russenfresser, nicht so schändlich deplatziert wirken.
Denn Poschardt, und daraus macht er weder Print noch Online, weder in Podcasts noch im Radio, und erst recht nicht in seinem kämpferischen Buch, ein Geheimnis, hat sich ganz dem „freien Westen“ und der atlantischen Vision einer offenen Weltgesellschaft verschrieben. Er tut dies im Einklang mit seinem Arbeitgeber, dem Axel Springer Imperium, in dessen „Essentials“ es seit 1967 ein Primat von Bekenntnissen zu Israel, den USA und dem kollektiven Westen gibt – „Deutschland“ taucht in den fünf Grundsätzen gar nicht erst als Subjekt der Geschichte oder – horribile dictu – der Zuneigung auf.
Was ist das Shitbürgertum?
Das zu wissen ist hilfreich, bevor man seinen Poschardt aufschlägt, denn es gibt die Generallinie seiner Angriffe auf die linksliberale Kulturschickeria vor. Nicht dass die „Shitbürger“ Familie, Volk und Vaterland verachten und politisch bekämpfen, findet Poschardts Zorn: Sondern dass sie nicht bereit sind, den Versprechungen und Verheißungen der westlichen Hemisphäre mit ihrem Manna spendenden US-Hegemon Respekt zu zollen.
Unter „Shitbürgertum“ summiert Poschardt dabei all jene „Kulturschaffenden“, die in ihren „Berufen im Kultur- und Medienbereich, in Kirchen und NGOs, im vorpolitischen Raum und in den Parteien über Alltag und Leben der Anderen“ bestimmen. Das Shitbürgertum regle die „Mikroebenen der Macht“. Es habe mit „Teilen der politischen Linken, in Deutschland vor allem der Grünen“ seinen eigenen „politischen Arm in den Zentralen der Macht“. Das schmeckt Poschardt gar nicht: Das Shitbürgertum müsse „umfassend zerstört werden“. Poschardt trifft selbstredend einen Punkt, wenn er deklariert, dass es darum gehen müsse, diese Form des Bürgertums „umfassend zu defunden“, weil es so oft und so gut von Steuergeldern lebe. Anders gesagt leben Shitbürger „vom Geld derjenigen, die sie beschimpfen, verachten und zerstören“. Poschardt kennt dieses Milieu nur zu gut: Er bezeichnet sich selbst als „Zögling, Günstling und langjähriger Nutznießer des Shitbürgertums“.
Diekmann und Reichelt bekommen ihr Fett weg
Am Wokeismus der Jetztzeit scheiden sich nun Poschardt und die Shitbürger, andere grundlegende Ideen bleiben ident. Da wäre beispielsweise die Haltung zu Deutschland in Geschichte und Gegenwart. Dass Poschardt die verhängnisvolle und teils militante „Reeducation“, also die Umerziehung der Deutschen nach 1945 durch die westlichen Besatzer, affirmiert, kann kaum überraschen. Dass er aber frank und frei davon schwärmt, diese Umerziehung der Deutschen sei ein „Zuschütten von deren gefährlichen Abgründen, die zu Recht [!] in ihrer Bildung und Kultur vermutet wurden“, lässt dann schon an Moishe Postone und andere „antideutsche“ Stichwortgeber erinnern. Doch auch Nachkriegsdeutschland, also „Trizonesien“, die alte BRD, findet Poschardts Zuneigung nicht. Die Deutschen, so konkludiert Poschardt, „blieben unansehnlich, aber fleißig“. Als Wannabe-Amerikaner deutscher Zunge kann er seine Kunden und Leser offen verspotten: „Die Deutschen, das waren und sind die Leute hinter dem Jägerzaun, die im Gackern der ZDF-Maskottchen ihr popkulturelles Double finden.“
Man kann freilich kleinbürgerliches Denken und „boomereske“ Verhaltensweisen unter den Deutschen bekritteln und verspotten – aber wo derlei gefälligen Pointen kein flankierendes Positivum beigestellt wird, bleibt nur eine Publikumsbeschimpfung der unangenehmen Sorte, der eine besondere Ironie dadurch innewohnt, dass der klassische Welt-Leser und -Kommentator vermutlich gar nicht mal allzu fern jener westdeutschen Klischeelandschaft beheimatet sein dürfte. Poschardt ist indes kein Mensch derlei potenzieller Selbstzweifel an seinem Gegenstand: Er fährt fort, Shitbürger ausfindig zu machen und sie polemisch, oft mit geschliffenem Wort und ebenso oft aus gutem Grund, zu erledigen. Dass auch seine (Ex-)Springer-Bros Kai Diekmann und Julian Reichelt ihr Fett wegbekommen, gefällt; dass er „Anmaßung“ als „typische Geisteshaltung des Shitbürgertums“ beschreibt, desgleichen. Auch die Kollaborateure des Shitbürgertums, die „Lauchbourgeoisie“, bestehend aus rückgratlosen Mitläufern, die in ihrer selbstgewählten Rolle als Claqueure der Shitbürger-Agenda zu sich selbst kommen, werden sachgerecht zerlegt. Ulf Poschardt ist eben ka Depp, der Glubb schon, aber das macht es um so ärgerlicher, dass er selbst dort falsch liegt, wo er richtig liegen könnte.
Teil der kritisierten Mikroebene ...
Die Fehler beginnen damit, dass er zwar einräumt, ein Nutznießer des Shitbürgertums gewesen zu sein, aber den offen zu Tage tretenden Widerspruch verschweigt, dass er zugleich ein Förderer eines ebensolchen ist. Während Poschardts Ägide als Welt-Chefredakteur beziehungsweise Herausgeber fand ein beispielloser Personentransfer aus den genuinen Heimatgebieten des Shitbürgers statt: beispielsweise aus Jungle World und taz. Wenn permanent Schindler, Yücel, Nabert und Konsorten eingekauft werden, die handfeste jüngere Vergangenheiten bei linksliberalen bis scharf linken Zeitungen, teils mit unverhohlen „antideutscher“ Orientierung, aufweisen, fragt man sich: Will Poschardt die Shitbürger nun zerstören, wie er theoretisch vorgibt, oder doch befördern, wie er es praktisch betreibt?
Wenn Poschardt flucht, dass die Shitbürger die „Mikroebenen der Macht“ besetzen, inszeniert er sich selbst als Kritiker beziehungsweise Beobachter eines vermeintlich objektiven Prozesses. Dabei kann er ganz subjektiv als mächtig genug gelten, mindestens in seinem Dunstkreis derlei Entwicklungen Einhalt zu gebieten oder diese umzukehren. Aber er tut es nicht, im Gegenteil. Er ist selbst Teil der Mikroebenen der meinungsbildenden Macht, und hätte er Gramsci wirklich gelesen und nicht nur zitiert, wüsste er, dass Metapolitik im Sinne des italienischen Revolutionärs nie ohne eine materialistische Grundierung zu haben ist. Heruntergebrochen: Wer, wenn nicht eins der bekanntesten Gesichter des milliardenschweren Axel Springer-Konzerns, hätte es seit Jahr und Tag in der Hand, die kulturelle Hegemonie des Shitbürgertums offen zu bekämpfen, eben auch in Form einer Richtlinienkompetenz bei der Auswahl des Personals und ihrer Ideologiestarterkits?
... und Kind der Reeducation
Doch die integrale Hegemonie des Shitbürgertums an sich will Poschardt ja gar nicht abtragen, weil er selbst mit jenem die entscheidenden Grundprinzipien gemein hat. Das sieht Poschardt nicht. Sie sind allesamt stolze Kinder der Reeducation und, daran anschließend, auch allesamt Kinder des westlichen Verfalls. Wenn Poschardt beispielshalber als Ziel ausgibt, „den Westen zu reindividualisieren“, dann sollte er sich die Frage stellen, ob es ratsam ist, diese Ursache so vieler Probleme im Zuge der sich vollziehenden Auflösung aller Dinge als Lösung misszuverstehen: „Der Ruf nach einer liberalen Kur für die Gebrechen des Liberalismus“, so formuliert es der kluge US-Amerikaner Patrick J. Deneen, „bedeutet, Gas in ein loderndes Feuer zu blasen“. Über derlei bestünde reichlich Diskussionsbedarf, aber Poschardt betreibt echte Debatte bevorzugt im Safe Space seines Riesenkonzerns. Das passt zum Charakter dieser Streitschrift einschließlich ihres Endes: Es folgen keine konkreten Ansätze, um die Vorherrschaft der Shitbürger auszuhebeln, sondern nur fruchtlose moralisierende Appelle. Da hat sich jemand ausgekotzt und man hat ihn dabei beobachtet – mal widerwillig, mal mit Lesegenuss, doch immer in der Gewissheit, dass jede Kritik des Shitbürgertums ohne eine Kritik ihrer materiellen und geistigen Grundlagen ein substanzloses Spiel bleibt.
Ulf Poschardt: Shitbürgertum, 164 Seiten, broschiert, Amazon Fulfillment Wroclaw, Berlin 2024, € 18 (DE)/€ 18,50 (AT)