Warum eine Volkspartei nicht über die wachsende Vermögensungleichheit schweigen kann

In Deutschland ist die Diskussion um die Einführung einer Vermögensteuer wieder voll entbrannt. In seinem Kommentar für FREILICH stellt Carlo Clemens die Frage, ob es angesichts der aktuellen Situation nicht ehrlicher wäre, eine faktische Umverteilung von der Mitte nach oben in den Mittelpunkt zu stellen.

Kommentar von
22.7.2024
/
6 Minuten Lesezeit
Warum eine Volkspartei nicht über die wachsende Vermögensungleichheit schweigen kann

Carlo Clemens

© AfD

 „3.300 #Superreiche in Deutschland (83.000.000) besitzen fast ein Viertel des Vermögens in diesem Land, Tendenz steigend. Gleichzeitig wird bei Schulsanierungen, Kita-Bau, Infrastruktur, ÖPNV, Wohnungsbau oder Wohneigentumsförderung um jeden Euro gefeilscht. Unpopular opinion in der AfD-Bubble: der Beitrag der besonders Vermögenden für das Gemeinwesen sollte höher sein. Unabhängig von weiteren Steuersparpotenzialen durch eine Korrektur der fatalen Migrations- oder Klimapolitik. Und nein, es geht hier sicher nicht um die geerbte Doppelhaushälfte von Oma Lisbeth. Oder wie lässt sich die zunehmende Vermögensspreizung als Partei noch rechtfertigen, die Politik für breite Schichten machen will? (Und bevor gleich der Einwand kommt: natürlich ist Deutschland nicht das Sozialamt der Welt, natürlich soll damit kein ideologischer Firlefanz finanziert werden.)“

So kommentierte ich am 10. Juli auf X (vormals Twitter) die Berichterstattung über den jüngsten Global Wealth Report der Boston Consulting Group (BCG), wonach Vermögen von Superreichen im letzten Jahr auch in Deutschland noch einmal exorbitant gestiegen sind und die Vermögensverteilung im internationalen Vergleich überdurchschnittlich ungleich sei. Diese Meldung erschien in einer Woche, in der Pläne der Bundesregierung über die Abschaffung der Pendlerpauschale oder der steuerlichen Absetzbarkeit von haushaltsnahen Dienstleistungen in die Öffentlichkeit gerieten – was den Otto-Normal-Arbeitnehmer besonders träfe, denn der hat nicht viele Möglichkeiten, seine Steuerlast zu drücken. Die Meldung erschien zudem in derselben Woche, in der breit berichtet wurde, wie stark die Kosten der Pflegeheime für etwa eine Million untergebrachte Pflegebedürftige gestiegen sind. Das schlägt sich deutlich auf deren finanzielle Eigenbeteiligung und die Belastung ihrer Angehörigen nieder.

Die Ausgangsfrage: Wachsende Vermögensungleichheit

Eine wahnsinnig kleine Geldelite, die schon alles hat und sich weiter abkoppelt, während die breite Masse zunehmend in ihren Alltagssorgen ertrinkt und jeden Cent für das Nötigste umdrehen muss: darf man da einen Zusammenhang herstellen? Ich habe es getan. Wenn auch mit mehreren beschwichtigenden Einschüben und ohne radikale Forderung, außer: „der Beitrag der besonders Vermögenden für das Gemeinwesen sollte höher sein.“ Das reichte, um eine kontroverse Diskussion im AfD-nahen Netzkosmos mit bislang fast 97.000 erreichten Nutzern und über 6.200 Interaktionen loszutreten. Ich freue mich darüber, denn das gibt mir die Möglichkeit, auf einen, aus meiner Sicht, blinden Fleck in der politischen Kommunikation der AfD hinzuweisen.

Neben viel Zustimmung und den obligatorischen Trollkommentaren gab es auch einiges an substanzieller Kritik: der deutsche Staat habe kein Einnahme-, sondern ein Ausgabeproblem. Eine höhere fiskalische Belastung von Superreichen bedeute sozialistische Umverteilung zu Gunsten von Schmarotzern und Minderleistern, vor allem zu Gunsten einer falschen Migrationspolitik. Würde die aktuelle Massenmigration und auch die teure Energie- und Wärmewende umgekehrt, würde das Geld für alle ausreichen. Auch wurde der Vorwurf erhoben, eine neue Neiddebatte anzuschüren. Wohlstand und Karriere stünden jedem offen, „der nicht faul ist“.

Reaktionen und Kontroverse in der AfD-nahen Netzcommunity

Die Reaktionen kommen nicht überraschend. Vermeintliche „Neiddebatten“ gehören zum medialen Mainstream. „Superreiche“ rangieren im linksliberalen Beliebtheitsranking nicht weit vor „Rechtspopulisten“ und „Querdenkern“. Der AfD-wählende Oppositionelle schaltet instinktiv in den Verteidigungsmodus um. Wenn „Staat“ und „Umverteilung“ links seien, dann müsste es im Umkehrschluss im „rechten“ Interesse sein, die Ausdehnung des Sozialstaats einzudämmen. Seinen Glauben in die Selbstheilungskräfte des freien Marktes zu setzen. Der Superreiche, der in einer großen Villa wohnt und ein verschwenderisches Auto fährt, avanciert gar zum strahlenden Symbol der natürlichen Ungleichheit – woke Gesellschaftsklempner ertragen das nicht.

Aus meiner Sicht greifen viele dieser Schlüsse zu kurz. Sie führen zu einer politischen Kommunikation, die den Interessen eines Großteils der AfD-Wählerschaft zuwiderläuft. Wachsende Vermögensungleichheit als Problem für die Gesellschaft zu negieren, bedeutet, den Anspruch, Volks- statt Klientelpartei zu sein, aufzugeben. Die AfD hält in globalisierten Zeiten aus guten Gründen an den Identitätspfeilern Nationalstaat und Volk fest. Wer die Gemeinschaft der Schicksalsnation und ihres Volkes beschwört, darf nicht wegschauen, wenn der Zusammenhalt erodiert. Das Gemeinwohl auf der Strecke bleibt.

Die besonders vermögenden Teile der Gesellschaft entziehen sich ihres angemessenen Beitrags fürs Gemeinwesen, während die Kaufkraft der breiten Masse weiter abnimmt, Millionen arbeitende Menschen auf Wohnbeihilfe angewiesen sind und seit Jahren angeblich kein Geld für marode Schulen, Krankenhäuser, Straßen und Netzausbau übrig ist. Wer nur auf die massive Fehlallokation von Steuergeldern durch „Migration“ und „Klima“ abstellt, unterschätzt auch die politische Macht, die besonders Vermögende über privilegierte Kanäle auf politische Entscheidungsträger ausüben können. Dies untergräbt das Demokratieprinzip, wonach alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht (Artikel 20 Grundgesetz).

Vermögensverteilung und Steuerpolitik

Wer die in Deutschland besonders krasse Vermögensspreizung anprangert, macht sich ums Leistungsprinzip verdient – nicht umgekehrt. Reichtum und damit einhergehende Vorteile werden innerhalb einer kleinen Kaste vererbt. Erbschaften und Schenkungen sind maßgeblich für den Reichtumsaufbau der Superreichen. Drei Viertel von ihnen geben an, dass eine Erbschaft Grundstein ihres Vermögens gewesen sei. Mehr als ein Drittel hat ihr Vermögen komplett ohne eigenes Zutun erhalten. Die hiesige Gesetzgebung begünstigt leistungslose Kapitalerträge im Vergleich zum herkömmlichen Arbeitslohn. Einkommenssteuersätze übersteigen schnell deutlich die pauschale Kapitalertragssteuer.

Diejenigen, die passiv Einnahmen aus Profiten großer Vermögenspositionen generieren, sind steuerlich bessergestellt als der Facharbeiter, den sie für sich arbeiten lassen. Da die Verbreitung von Vermögenswerten wie Immobilien und Aktien hierzulande besonders unausgewogen ist, sind Supereiche aus den letzten Krisen stets gestärkt hervorgegangen. Soziale Mobilität, also die Durchlässigkeit zwischen den gesellschaftlichen Schichten, ist in Deutschland im OECD-Vergleich besonders gering ausgeprägt. Sozioökonomische Herkunft, nicht Fleiß, Talent oder Leistungswillen sind von Geburt an die herrschenden Gründe, weshalb jemand vermögend ist und es in der Regel auch bleibt.       

Argumentation gegen Umverteilung

Steuerberater und „wealth manager“ perfektionieren die Tricks der Geldelite zur Steuervermeidung. Die Mittelschicht, die kaum Ausweichmöglichkeiten hat, trägt den Großteil der Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben. In keiner Einkommensgruppe – weder oben noch unten – ist die relative Belastung durch Steuern und Abgaben so hoch. Gleichzeitig sinkt ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Der Mittelstand zerfällt: Die planungssichere Normalbeschäftigung nimmt ab, „atypische“ Beschäftigungsverhältnisse sind neue Normalität. Familien mit Durchschnittseinkommen haben kaum die Möglichkeit, allein durchs Sparen Vermögen aufzubauen. Ihre Sparanlagen, sofern vorhanden, verharren zinstechnisch auf niedrigem Niveau. Die Inflation frisst sie auf. Deutschland hat in der EU die niedrigste Wohneigentumsquote. Multiple Krisen, alltägliche Nöte und wachsende Zukunftssorgen erschüttern den Glauben an eine „gerechte“ Gesellschaft.

Wenn Bus und Bahn unpünktlich sind, die KiTa wegen Personalmangel erneut in den „Notbetrieb“ wechselt, Krankenversicherungsbeiträge ansteigen und mal wieder die Erhöhung des Renteneintrittsalters diskutiert wird, dann muss man sich als politischer Akteur kritisch die Frage stellen: Ist es da die folgerichtige Reaktion, „nach unten“ zu treten? Auf „den Hartzer“ oder „den Ausländer“ als Kostgänger zu schimpfen, die materiell im Zweifel noch weniger haben? Oder wäre es angesichts des chronischen Investitionsstaus der öffentlichen Hand nicht ehrlicher, die faktische Umverteilung von der Mitte nach oben in den Mittelpunkt zu stellen? Unabhängig von der unbestritten notwendigen Korrektur der fatalen Migration in die Sozialsysteme. Völlig nachvollziehbar forderte die AfD im Bundestag die Einführung von „Bürgerarbeit“ für körperlich gesunde Leistungsempfänger. Doch auch am anderen Ende der Vermögensskala könnte man zur Entlastung der breiten Mitte mehr beitragen. Gemeinsinn, Pflichtbewusstsein und echte Leistungsgerechtigkeit sind keine Einbahnstraße!

Politische Kommunikation und die Vernachlässigung der sozialen Frage

Die renommierte Fachzeitschrift Wirtschaftsdienst hat die Programmatik der relevanten politischen Parteien gegenüber gestellt. Setzte man die Wahlprogramme konsequent um, nähmen Vermögens- und Einkommensungleichheit bei der AfD am stärksten zu – mehr noch als bei der FDP als klassischer Partei der Besserverdiener. Letztere würden von den AfD-Plänen, sämtliche Steuern abzuschaffen oder radikal zu senken, vor allen anderen Gesellschaftsschichten am meisten profitieren. Zwischen Programm und Wählerschaft, die sich vor allem aus Menschen mit geringen bis mittelhohen Einkommen und niedrigeren bis mittleren Bildungsabschlüssen zusammensetzt, besteht ein eklatanter Widerspruch. Allerdings wird dieser kaum wahrgenommen. Das Migrationsthema als Markenkern übertönt alles.

„Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“, heißt es in Artikel 14 Grundgesetz. Das Stichwort heißt: Reziprozität. Wechselseitigkeit. Neben Individualrechten gibt es in einer Schicksalsgemeinschaft auch Pflichten. Beides ist miteinander verbunden. In der sozialen Frage steckt untrennbar die nationale. Sie aus herbei fantasierter Verbundenheit zur Geldelite auszublenden, hieße, auf eine gemeinschaftliche Zukunftskonzeption für breite Volksschichten zu verzichten. Es hieße, mit Volldampf auf den Eisberg einer atomisierten, egoistischen und gespaltenen Gesellschaft nach amerikanischem Muster zuzusteuern.    

Widerspruch zur Klientelpolitik und der Anspruch der Volkspartei

Wie soll eine angemessene Daseinsvorsorge sichergestellt werden, wenn ein Staat schätzungsweise auf Steuereinnahmen in locker zweistelliger Milliardenhöhe verzichtet? Wenn Verteilungsgerechtigkeit für selbsternannte Volksvertreter kein Ziel politischen Handelns darstellt? Wie sollen so auskömmliche Förderprogramme zur gezielten Wohneigentums- und Vermögensbildung von Familien angestoßen werden, etwa durch Freibeträge, Darlehen, Zinsvergünstigungen, Tilgungsnachlässe oder Bürgschaften? Und wie sollen so allgemein gleichwertige Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land (Artikel 72 Abs. 2 Grundgesetz) realisiert werden? Die Botschaft hör‘ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Minimalstaat und gemeinwohlorientierte Förderpolitik – beides zusammen geht nicht auf. Der Status quo der Vermögensungleichheit wird nicht problematisiert, dessen Verschärfung einfach in Kauf genommen. Die AfD als faktische Kleine-Leute-Partei verzichtet mit ihrer Programmatik auf eine aktive kommunitaristische Politik, die dieser Entwicklung erklärtermaßen entgegentritt.

Heißt das nun, als AfD die linken Forderungen nach Vermögens- und Erbschaftssteuern oder einer Vermögensabgabe nach Vorbild des Lastenausgleichsgesetzes der Nachkriegszeit zu übernehmen? Mitnichten! Gegen diese altbekannten Vorschläge gibt es genug berechtigte Einwände in Sachen Effizienz und Erhebungsaufwand. Und auch ich bin der Auffassung, dass der Staat zuallererst die Kontrolle seiner Ausgaben wiedererlangen muss. Solange die grenzenlose Massenzuwanderung mit ihren Folgen für alle Politikbereiche nicht eingedämmt wird, solange die wohlstandsvernichtende Transformation sämtlicher Wirtschaftsbereiche für abstrakte CO₂-Reduktionsziele durchgewalzt werden soll, möchte ich keine weiteren Milliarden in den Händen der heute regierenden Politiker wissen.

Steuervermeidung und der Zerfall des Mittelstands

Zielführend hielte ich hingegen entschiedene Maßnahmen, den Erwerb langfristiger Anlagen zur Alterssicherung zu begünstigen und abzusichern, insbesondere das selbstgenutzte Wohneigentum als Traum vieler Familien und entscheidender Vermögenswert der meisten. Arbeitnehmer sollten leichter an arbeitgebenden Unternehmen partizipieren können, zum Beispiel durch Kapital- und Erfolgsbeteiligungen. Jeder Ansatz, der innovativen und mutigen Unternehmern mit erfolgversprechenden Konzepten auch ohne Startkapital eine Chance gibt, findet meine Zustimmung. Dafür braucht es gut ausgestattete staatliche und genossenschaftliche Finanzinstitute. Kleine und mittlere Unternehmen, Genossenschaften und gemeinnützige Körperschaften entsprechen dem Ideal und sollten politisch besonders gefördert werden. Eine wie auch immer geartete „Flat Tax“ halte ich für nicht vermittelbar.

Die steuerliche Besserstellung von leistungslosen Kapitaleinkünften gegenüber regulären Arbeitseinkommen muss beendet werden. Allerdings braucht es eine volkskapitalistische Kultur für das nicht-spekulative, langfristige Besparen von Aktien und ETFs mit großzügigen Steuerfreibeträgen für Kleinaktionäre. Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt: zahlreiche Sonderregeln und Schlupflöcher müssen auf den Prüfstand. Gegen Steuerflucht und steuermeidende Tech-Giganten muss international zusammengearbeitet werden.

Wer eine relativ homogene Gesellschaft hohen gegenseitigen Vertrauens und landsmännischer Solidarität anstrebt, kann über das Auseinanderdriften durch die zunehmende Vermögensungleichheit nicht schweigen. Eine selbsterklärte Volkspartei, in die breite Schichten große Hoffnungen setzen, muss dies programmatisch und habituell beherzigen.  


Zur Person:

Carlo Clemens, geb. 1989, ist studierter Historiker und Mitglied des Landtags von Nordrhein-Westfalen. Er ist bau- und wohnpolitischer Sprecher der AfD-Landtagsfraktion. Von 2022 bis 2024 war er Beisitzer im Bundesvorstand der AfD

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
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