Anschlagsserie im Nahen Osten: Zieht Israel die USA in einen regionalen Krieg?
Die israelische Armee hat nach schweren Verlusten bereits begonnen, ihre Truppen stückweise aus dem Gazastreifen abzuziehen. Die Zeit läuft gegen Israel. Es besteht nun die Gefahr, dass Tel Aviv nach der gescheiterten Bodenoffensive in Gaza einen ausgewachsenen Regionalkrieg provozieren will, schreibt der Politikwissenschaftler Dr. Seyed Alireza Mousavi.
Das Blutbad bei der Gedenkfeier des mächtigen iranischen Generals Soleimani in Iran und die Ermordung eines Anführers der Hamas im Libanon sowie der gezielte Anschlag auf einen General der iranischen Revolutionsgarde in Syrien haben die gefährlichen Spannungen im Nahen Osten wieder erhöht, nachdem Israel seine Ziele bei der Bodenoffensive in Gaza verfehlt hat.
Mittlerweile hat die israelische Armee begonnen, ihre Einheiten stückweise aus dem Gazastreifen zurückzuziehen. In den vergangenen Wochen hat die IDF wahllos Infrastrukturen in Gaza bombardiert, wobei sie die Enklave belagert und einen Großteil davon in Schutt und Asche gelegt hat. Israel ist es letztendlich nicht gelungen, die untergetauchten Hamas-Anführer Mohammed Deif und Yahya Sinwar in Gaza zu finden und israelische Geiseln freizubekommen. Hinzu kommt, dass die Hamas trotz der Verwüstung des Gazastreifens weiterhin Raketen auf Israel abfeuert. In der Neujahrsnacht hatte es in mehreren israelischen Städten erneut Raketenalarm gegeben. Tel Aviv hat nun erklärt, der Krieg werde noch viele Monate andauern. Israel hat in den letzten Jahrzehnten immer Blitzkriege gegen seine Feinde geführt, wie der Junikrieg 1967, in dem Israel sich gegen seine arabischen Nachbarstaaten innerhalb von sechs Tagen durchgesetzt hatte.
Kein neuer Blitzkrieg
Die Golani-Elitebrigade der Armee hat sich nach 60 Tagen Kampf aus dem Gazastreifen zurückgezogen, um ihre Reihen zu reorganisieren, nachdem sie beispiellose Verluste erlitten hatte. Mehr als zwei Monate nach Beginn der israelischen Bodenoffensive im Gazastreifen sorgt die Hamas mit einem Übergang zu Guerilla-Taktiken für zunehmende Verluste unter Israels Bodentruppen. Vor kurzem teilte der Hamas-Chef Yahya Sinwar im Gazastreifen mit, dass die palästinensischen Kämpfer der israelischen Armee schwere Verluste an Leben und Ausrüstung zugefügt hätten. Die Hamas soll mindestens 5.000 israelische Soldaten angegriffen und davon ein Drittel getötet haben. Diese Zahlen widersprechen den offiziellen Angaben der israelischen Armee, die von etwa 200 im Gazastreifen getöteten israelischen Soldaten berichtet. Der Verdacht steht im Raum, dass Tel Aviv seine schweren Verluste zu vertuschen versucht.
Die israelische Armee hat bis Mitte Dezember mindestens 5.000 Verwundete in ihren Reihen registriert, darunter 2.000 Soldaten, die während des dreimonatigen israelischen Militäreinsatzes im Gazastreifen schwer verletzt und vom Verteidigungsministerium offiziell als IDF-Versehrte anerkannt wurden. „Israel hat noch nie so viele Verletzte erlebt“, sagte kürzlich die Leiterin der Rehabilitationsabteilung des israelischen Verteidigungsministeriums, Limor Luria, der hebräischen Tageszeitung Yedioth Ahronoth.
Unklare Informationen über Verluste
Schwere Verluste in Gaza gehen zugleich mit neuen Enthüllungen über gravierende Fehler der israelischen Armee bei der Abwehr des Überfalls der Hamas am 7. Oktober einher. Es wurden in letzter Zeit mehrere Indizien dafür geliefert, dass Israel auf den Hamas-Angriff am 7. Oktober mit schweren Geschossen, unter anderem aus Panzern, Apache-Hubschraubern und bewaffneten Drohnen, reagierte und dabei neben den von der Hamas Getöteten auch einige seiner eigenen Soldaten und Bewohner in den Kibbuzim als Kollateralschaden oder versehentlich tötete. Die Berichte von Augenzeugen sowie an die Öffentlichkeit durchgesickertes Filmmaterial von Zusammenstößen beim Überfall der Hamas auf Israel ließen vermuten, dass die israelischen Truppen in ihrer Verzweiflung wahllos mit schweren Waffen auf ihre eigenen Bürger geschossen haben. Die polizeilichen Ermittlungen ergaben laut Haaretz, dass ein israelischer Militärhubschrauber das Feuer auf die Angreifer eröffnete und dabei auch mehrere Festivalbesucher am 7. Oktober getroffen hatte. Neulich ist auch ein Video an die Öffentlichkeit durchgesickert, das zeigt, wie ein israelischer Panzer am 7. Oktober in einem Kibbuz das Feuer auf ein Haus eröffnete, in dem 13 israelische Geiseln mit der Hamas festsaßen.
Vor diesem Hintergrund ist zu vermuten, dass Israel vermutlich derzeit an einer Provokation in der Region hinarbeitet, um von dem Versagen der IDF am 7. Oktober in Israel sowie vom Militäreinsatz in Gaza abzulenken: Nach dem gezielten Anschlag auf den Vizechef des Politbüros der Hamas, Saleh al-Aruri, am 2. Januar in der libanesischen Hauptstadt Beirut warnte die Hisbollah Israel vor einer Eskalation des Konflikts mit dem Libanon. Der Terroranschlag in der libanesischen Hauptstadt, der von einer Drohne ausgeführt wurde, war nicht nur ein Affront gegen die libanesische Regierung. Er war vor allem eine Provokation gegen die mächtige Schiitenorganisation Hisbollah. Israel hatte zuvor Ende Dezember den iranischen General Razis Mousavi durch einen gezielten Luftangriff auf einer Farm nahe Damaskus getötet.
Steht eine neue Eskalation bevor?
Bei zwei Terroranschlägen nahe dem Grab des 2020 ermordeten iranischen Topgenerals Qassem Soleimani am 3. Januar wurden mehr als 84 Menschen getötet und zahlreiche weitere Menschen verletzt. Iranische Sicherheitsexperten sahen von Anfang an den Mossad hinter dem Blutbad in Iran, obwohl die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) den verheerenden Anschlag in der iranischen Stadt Kerman für sich reklamierte. Bei vielen Beobachtern weckte das Bekennerschreiben des IS Zweifel an der Authentizität der Erklärung. Es hatte fast zwei Tage gedauert, bis der IS sich zu dem Massaker in Iran bekannte. Die Wortwahl des IS zum Anschlag passt zudem nicht zu früheren IS-Erklärungen bei Anschlägen in Iran. Der IS hat in seiner jüngsten Propagandaerklärung das Wort „Iran“ verwendet. Bisher bezeichneten die Terroristen Iran immer als „Provinz Khorasan“. Und der IS hat die Schiiten in Iran immer als „Rāfiditen (Polytheisten) und Abtrünnige“ bezeichnet. In der Mitteilung zum Anschlag in Kerman wurde aber seltsamerweise der Begriff „Schiiten“ benutzt. All diese Abweichungen liefern dennoch keine belastbaren Beweise dafür, dass Israel hinter dem Anschlag steckt. Teheran erklärt generell die IS-Terroristen immer zu „Söldnern der USA und Zionisten“.
Schon seit Beginn der blutigen Militäroperation der IDF sieht sich Israel einem Mehrfrontenkrieg gegenüber. Einige Tage vor dem jüngsten Terroranschlag in Iran erklärte der israelische Verteidigungsminister, dass Tel Aviv an sechs von sieben Fronten bereits reagiert habe. Es besteht nun die Gefahr, dass Israel nach der gescheiterten Bodenoffensive in Gaza mittels Anschlägen im Libanon und Syrien einen ausgewachsenen Regionalkrieg provozieren will. Teheran machte bereits deutlich, mit einer Kombination aus direkten und von anderen ausgeführten Aktionen innerhalb der sogenannten Achse des Widerstands auf Mossad-Aktionen in der Region reagieren zu wollen. Die Zeit läuft derzeit gegen Israel. Zumal Südafrika wegen der israelischen Kriegsverbrechen in Gaza kürzlich vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag Klage eingereicht hat.
Es gibt derzeit viel zu viele Fronten, an denen ein neuer Krieg im Nahen Osten ausbrechen könnte. Einige Beobachter argumentieren, dass Israel versucht, die USA in einen direkten Krieg mit der Hisbollah oder den Huthi im Jemen hineinzuziehen, was von US-Beamten seit Beginn des Angriffs auf den Gazastreifen befürchtet wurde. Der US-Präsident ist laut Washington Post schon besorgt, dass der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu ein Übergreifen des Kampfes auf den Libanon als Schlüssel für sein politisches Überleben betrachten könnte, da seine Regierung im eigenen Land kritisiert wird, den Angriff der Hamas am 7. Oktober nicht verhindert zu haben, bei dem schätzungsweise 1.200 Menschen ums Leben kamen und etwa 240 Geiseln nach Gaza gebracht wurden. Nach Angaben von Politico überlegen sich die USA derzeit Maßnahmen für den Fall, dass sich der Konflikt zwischen Israel und der Hamas auf den gesamten Nahen Osten ausweitet.
Zur Person:
Dr. Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler, Carl-Schmitt-Exeget und freier Journalist, spezialisiert auf Geopolitik und lebt in Berlin.